Winfried Wolf (1949–2023)

Angela Klein


Ein Leben für die Revolution


In der Nacht zum 23. Mai ist Winnie Wolf gestorben. Eine schwere Lebererkrankung hatte ihn schon einmal dem Tod nahe gebracht; durch eine neuartige Therapie kam er dann für einige Monate wieder auf die Beine, stürzte sich erneut in die Arbeit und war auf Vortragsreisen unterwegs. Noch im April hatte er zugesagt, auf der Ökosozialistischen Konferenz der ISO den Film über Stuttgart 21 seines Freundes Klaus Gietinger vorzustellen. Bis zuletzt blühte er auf, wenn es um Politik ging.

Winnie war ein Getriebener, ein Projektemacher, ein Workaholic. Seine Projekte waren durchweg publizistischer Art: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher. Seine Lieblingssparte waren Zeitungen zur Massenagitation: 8–12 zweifarbige Zeitungsseiten im Berliner Format mit jeweils eigener Redaktion und Beirat: BLIND, SoZ-extra, desert! Antikriegszeitung, Faktencheck Hellas, Faktencheck Europa, Faktencheck Corona, Zeitung gegen den Krieg, Zero Covid. Besonderes Herzblut legte er darein, wenn er mit einer solchen Agitation eine Aktion von Kollegen im Betrieb unterstützen konnte wie die Ford-Kollegen in Köln mit der Zeitung Links eröm; oder zweimal den Streik der GDL (2014/15 und 2021) mit jeweils mehreren Ausgaben der Streikzeitung. Mit diesen Blättern erreichte er manchmal Auflagen bis zu 30 000, einmal sogar 80 000 – ohne Apparat, nur mit der Unterstützung von ein paar befreundeten Genoss:innen und seinem Adressbuch.

Geträumt hat er von viel höheren Auflagen. Wann immer sich etwas bewegte, wollte er publizistisch intervenieren. Wie kaum ein anderer begriff er die Zeitung als kollektiven Organisator.

Damit ist auch gesagt: Er war zwar auch Fachmann für Ökonomie, später für Verkehr – und für beide Sparten Buchautor und viel gefragter Referent. Aber die Wissenschaft war für ihn kein Selbstzweck, sie hatte im Dienst der Aufklärung und Mobilisierung der breiten Bevölkerung, vorzugsweise von Kolleg:innen zu stehen. In erster Linie war er ein politischer Aktivist. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse übersetzte er in politische Botschaften, und damit ging er auf Werbetour.


Der Aktivist


Als Aktivist hat er natürlich auch versucht, politische Organisationen aufzubauen – zunächst die Gruppe Internationale Marxisten (GIM), die deutsche Sektion der IV. Internationale, ab 1986 (mit der KPD/ML) die Vereinigte Sozialistische Partei (VSP). Als diese an der „Wiedervereinigung“ scheiterte, trat er in die PDS ein und zog für sie von 1994 bis 2002 in den Bundestag. Seit 2006 war er „parteilos glücklich“, wie er in der autobiografischen Skizze auf seinem Blog schreibt. Sein Selbstverständnis: „radikaler Sozialist und Utopist“, selbstverständlich Ver.di-Mitglied, von Anfang an.

2008 gründete er die Zeitschrift Lunapark 21 – (die) Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie; sie ist ihm bis zuletzt „eine Herzensangelegenheit“ geblieben, wie er schreibt. Wider allem ökonomischen Trend und in einer Zeit, in der Gedrucktes angeblich immer weniger Publikum hat, ist es ihm gelungen, die Zeitschrift „am Markt zu behaupten“, wie es so schön heißt. Sie schrieb schwarze Zahlen. Lunapark hat er sich vorgestellt als eine Art deutsche linke Financial Times, deshalb das „(die)“ im Untertitel; politische Bescheidenheit war nicht sein Ding, er griff gerne hoch.

 

Bertolt Brecht, das Lob des Kommunismus

Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.
Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig.
Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen
Wir aber wissen:
Er ist das Ende der Verbrechen.
Er ist keine Tollheit, sondern
Das Ende der Tollheit
Er ist nicht das Rätsel
Sondern die Lösung.
Er ist das Einfache,
das schwer zu machen ist.

Winnie war Brecht-Fan und hat seine Sach-Artikel gern mit passenden Gedichten versehen.

Die politische Initiative, für die er am längsten und bis zum Schluss gearbeitet hat, war seit ihren Anfängen Mitte der 90er Jahre die Bewegung gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21. Sie hatte den Charme, inhaltlich zu seinem Leib- und Magenthema zu passen und zudem im Ländle, seiner Heimat, angesiedelt zu sein – Winnie ist in der Nähe von Ravensburg, Region Bodensee, zur Schule gegangen und hat zeit seines Lebens seine Freundschaften dort gepflegt. Auf seinem Blog stellt er sich als „bekennender Schwabe“ vor.


Revolution im Osten?


Der GIM trat er Anfang der 1970er Jahre in Berlin bei, führende Mitglieder der Vierten Internationale – Ernest Mandel, Alain Krivine, Tariq Ali – hatten auf dem Vietnamkongress im Februar 1968, im Pariser Mai oder auch in den Protesten gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen der „sozialistischen Bruderstaaten“ eine führende Rolle gespielt. Sein zentraler Referenzpunkt in Deutschland war in jener Zeit Rudi Dutschke. Er stand im Impressum der ersten Ausgabe von Was tun, die ab im Mai 1968 als Monatszeitung erschien. Die Zeitung wurde dann unter der Regie von Lothar Boepple in Mannheim weitergeführt. Als Winnie 1973 in die Redaktion eintrat, sah er sich explizit in den Fußstapfen von Dutschke. Noch Jahrzehnte später war ihm die Verteidigung der 68er-Bewegung gegen ihre Diffamierung, aber auch gegen ihr Abgleiten in Sektierertum, ein Anliegen.

Die internationale Revolte gegen Krieg und autoritäre Regimes war natürlich auch für Winnie der erste Lehrgang im politischen Erwachen: hauptsächlich gegen die faschistische Obristen-Diktatur in Athen und gegen den US-Krieg in Vietnam. Anfang der 80er Jahre war er aktiv in der Solidaritätsarbeit für Solidarnosc; er begleitete sie mit drei Taschenbuchbänden mit dem Titel Der lange Sommer der Solidarität und Der Winter gehört den Krähen (1981/1984).

Diesen Teil seiner politischen Arbeit erwähnt Winnie ist seiner autobiografischen Skizze nicht, ebenso wenig wie die Gründung der VSP und die Zeit des deutschen Einheitstaumels. Das mag damit zusammenhängen, dass die Hoffnungen auf eine politische Revolution in den Ländern des Warschauer Pakts, deren entwickeltster Ausdruck Solidarnosc ja war, sich auf so grausame Weise zerschlagen haben. Jedenfalls haben die nachfolgenden Ereignisse, der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die Geschwindigkeit, mit der im Herbst/Winter 89 aus der Parole „Wir sind das Volk“ die Parole „Wir sind ein Volk“ wurde, zu einer erheblichen Desillusionierung in Bezug auf den Teil des Programms der Vierten Internationale geführt, der Hoffnungen auf eine „politische Revolution“ setzte. Sie führte Winnie in einen Gegensatz und schließlich zum Bruch mit der Vierten, weil diese zu lange am Zerrbild des bürokratisierten „Arbeiter“-Staats festhielt, den Einmarsch in Afghanistan nicht von Anfang an verurteilte, und sich lange Illusionen über eine fortschrittliche Wendung des Prozesses der deutschen Einheit machte. Später verließ er auch die VSP, als deren Reste sich seinem Schritt in die PDS nicht anschließen mochten.


Deutschland


Die „Dialektik der Interventionssektoren“ hatte negativ funktioniert – und das hat Auswirkungen bis heute, wenn man sieht, wie hilflos die Linke vor dem Krieg in der Ukraine steht. Freilich hat der Weg, der dann eingeschlagen wurden, namentlich die Unterstützung der Gremliza-Initiative „Nie wieder Deutschland“ mit der gleichnamigen Demonstration in Berlin, die deutsche radikale Linke auch nur in eine Sackgasse getrieben. Letzten Endes war diese Orientierung die späte Konsequenz einer Haltung, die Winnie in den 70er Jahren in einer Kontroverse mit Günther Minnerup über den Charakter der Entspannungspolitik und die sog. deutsche Frage, also den Umgang mit der deutschen Teilung entwickelte. Winnie vertrat darin eine Position, die Gesamtdeutschland nicht mehr zum Bezugspunkt linker Politik nehmen wollte; die nationale Frage sei in Deutschland von links nicht zu besetzen. Er folgte darin dem linken Mainstream, sich faktisch auf eine westdeutsche Identität zurückzuziehen.

Die Ereignisse ΚΌ89 haben ihm einerseits recht gegeben, andererseits die sozialistische Linke auch in eine reine Neinsager-Ecke gedrängt, aus der sie sich nur mühsam mit Hilfe globalisierungskritischer und ökosozialistischer Positionen herausarbeitet, wozu auch Winnies Skizzen einer ökonomischen und Verkehrsalternative viel beigetragen haben.

Winnie hat sich dann mehr und mehr den Positionen der Friedensbewegung genähert – ab 1999 begann er mit der Herausgabe einer Zeitung gegen den Krieg zweimal jährlich, die letzte erschien zu den Ostermärschen 2023.

Foto: lunapark21

 

Ähnlich ging es mit seiner Position zur EU. Mit großer Vehemenz hat er dagegen gekämpft, in der EU etwas Fortschrittliches sehen zu wollen. Das war gut, richtig und hilfreich, hat aber die Frage nach einer Alternative, die nicht den Rückfall in den Nationalstaat bedeutet, nicht beantwortet.


Das Auto


In den 70er und frühen 80er Jahren tat er sich als marxistischer Analytiker der Wirtschaftskonjunktur hervor mit dem Ehrgeiz, die jeweils nächste Abschwungphase vorhersagen zu wollen, womit er sich manchmal auch verhauen hat. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre konzentrierte er sich darauf, seine Doktorarbeit nachzuholen. Dabei herausgekommen ist ein Standardwerk der Kritik nicht nur an der deutschen Verkehrspolitik, sondern am automobilgetriebenen Kapitalismus, von dem die deutsche Wirtschaft abhängt: Eisenbahn und Autowahn. Das Buch erschien in drei Auflagen und wurde auch ins Englische übersetzt.

      
Mehr dazu
Traueranzeige, taz
W. A.: Redmole meldet sich nicht mehr Ein Nachruf auf Winfried „Winnie“ Wolf (4. März 1949 – 22. Mai 2023), die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023) (nur online)
Josef-Otto Freudenreich: Zwischen Marx und Missionar, Kontext (24.05.2023)
Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler und Winfried Wolf: Wider eine militärische „Lösung“ des Ukrainekriegs, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Winfried Wolf: Zwölf Thesen zur Pandemie, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Interview mit Winfried Wolf: Stuttgart 21: abgrundtief+bodenlos, die internationale Nr. 3/2018 (Mai/Juni 2018)
Winfried Wolf: Rezession in der BRD und internationale Folgen, Inprekorr Nr. 297/298 (Juli/August 1996)
Winfried Wolf: West-Ökonomie: Abgeschmiert, Inprekorr Nr. 260 (Juni 1993)
Winfried Wolf: „Da müssen wir durch“: Die Krise im Osten ist auch hausgemacht, Inprekorr Nr. 243 (Januar 1992)
Winfried Wolf: Real existierende Massenflucht, Inprekorr Nr. 220 (Oktober 1989)
Winfried Wolf: Die Methoden der japanischen Autokonzerne, Inprekorr Nr. 178 (Februar 1986)
Winfried Wolf: Die größte Weltwirtschaftskrise seit fünfzig Jahren, Inprekorr Nr. 156 (September 1983)
Winfried Wolf: Die neue internationale Rezession 1980, Inprekorr Nr. 117 (Januar 1980)
Winfried Wolf: Wende im Klassenkampf (Druckerstreik), Inprekorr Nr. 60 (Juni 1976)
Winfried Wolf: Der Aufschwung kommt … nicht, Inprekorr Nr. 35/36 (Juni 1975)
Winfried Wolf: Wendepunkt für die Arbeiterklasse?, Inprekorr Nr. 31 (April 1975)
 

Winnie hat da Pionierarbeit geleistet. Er war einer der ersten, die zur Abschaffung des Pkw als individuelles Fortbewegungsmittel aufriefen – zu einer Zeit, wo dies noch einer Art Majestätsbeleidigung gleichkam. Gegen die Privatisierung der Bahn, die Übernahme der Führung dieses Konzerns durch Manager aus der Autoindustrie (Hartmut Mehdorn) und die Bemühungen, sie um jeden Preis an die Börse zu bringen, hat er einen regelrechten Feldzug geführt. Er hat der Flucht ins E-Auto eine Absage erteilt, als diese Technologie einer Mehrheit noch als Rettungsanker erschien. Er hat eine „Ökonomie der kurzen Wege“ in die Debatte gebracht, die noch längst nicht durchbuchstabiert ist. Er hat an den Beispielen Berlin und Marburg aufgezeigt, wie eine autofreie Stadt konkret organisiert werden kann. Er hat Großprojekte wie Stuttgart 21 als Geschenk an die Immobilienwirtschaft entlarvt und die Initiative tatkräftig mit seiner Expertise unterstützt. Er hat den Anstoß gegeben zur Gründung von Bahn für alle, später von Bürgerbahn statt Börsenbahn. Ganz zum Schluss, als er sich mit dem größten Teil von Bahn für alle in der Frage der Aufspaltung des Bahnkonzerns in Netz und Schiene überworfen hatte, gründete er die Gruppe „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“.

Als Autokritiker auch international bekannt, ist er längst in die Geschichte der Fachliteratur eingegangen; seine ökonomischen Analysen hat er in den 90er Jahren leider abgebrochen.


Freunde


Winnie war ein Jünger, das galt vor allem für sein Verhältnis zu Ernest Mandel. Später war es ihm immer wichtig, bedeutende Persönlichkeiten des politisch-kulturellen Lebens, durchweg Männer, zu seinen Freunden zu zählen. Er selber hat nie eine Gefolgschaft aufgebaut, dazu waren seine Projekte zu disparat, wenngleich mit langem Atem angelegt. Eher war es so, dass er sich mit denen, die ihm nicht in sein nächstes Projekt folgen wollten, gern überworfen hat. Es war ihm in politischen Fragen zuweilen eine Unerbittlichkeit zu eigen, die erschreckte, weil sie so ohne Rücksicht auf Verluste war.

Er zählte leicht Menschen zu seinen Freunden, und doch hatte er zu ihnen ein ebenso naiv vertrauensvolles wie instrumentelles Verhältnis. Dieses galt allerdings immer „der Sache“, nie einem persönlichen Vorteil. Er stellte seine außerordentliche Arbeitskapazität stets in den Dienst derer, die sie benötigten. Seine Freundschaften waren politische Freundschaften, mit allen Einschränkungen, die das mit sich bringt. Er hat sie gewissenhaft gepflegt.

Winnie zählte zu den herausragenden Gestalten, die die 68er Bewegung hervorgebracht hat. Er wirkte und wirkt mit völlig neuartigen Themen weit über diese hinaus. Die deutsche Linke verdankt ihm viel, die SoZ und die ISO gäbe es ohne ihn so nicht. Wir verlieren einen teuren Genossen.

Die Liste seiner Veröffentlichungen ist beeindruckend, er hat sie auf seinem Blog zusammengestellt.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz