Brasilien

Ein Schuss vor den Bug der Klassenkollaboration

Die Stimmenthaltung der MES/PSOL-Abgeordneten Fernanda Melchionna und Sâmia Bomfim sowie des Abgeordneten Glauber Braga bei der Abstimmung über die Steuerreform demonstriert die Ablehnung einer Kollaboration mit der Bourgeoisie.

Nationales Sekretariat der MES (Movimento Esquerda Socialista)

Die beschleunigte Verabschiedung der Steuerreform (PEC 45/2019) in der Abgeordnetenkammer geriet den bürgerlichen und bürokratischen Eliten zum nationalen Festtag. Für die offiziellen Medien war damit ein Thema, das mehr als 30 Jahre lang umstritten war, abgeschlossen. Der Bankenverband Febraban und der Industrieverband des Bundesstaats São Paulo Fiesp hatten allen Grund zum Feiern – letztere bezahlte sogar eine zweiseitige Anzeige in Folha de São Paulo, um Druck auf die Abstimmung über den Text auszuüben. Selbst die notorisch unzufriedene Agrarindustrie hatte diesmal keinen Grund zur Klage. Der Gouverneur von São Paulo, neue Führungsfigur des Bolsonarismus, warb um Zustimmung und begrüßte die Schlussversion des Gesetzestextes.

Der Präsident der Abgeordnetenkammer, Arthur Lira konnte seine Position als heimlicher Regierungschef innerhalb des herrschenden Präsidialregimes politisch ausbauen, indem er die Agenda des Kongresses diktierte und dort die Zustimmung zu dem Gesetz sicherte. Lulas Regierung wiederum durfte für sich reklamieren, eine jahrzehntelang blockierte Reform endlich auf den Weg gebracht zu haben. Die bolsonaristische Opposition stimmte mit überwältigender Mehrheit dagegen – auch wenn 20 PL-Abgeordnete den Gesetzentwurf unterstützten –, obwohl sie dem Gesetz inhaltlich voll zustimmten, da sie eine von ihnen so bezeichnete „Reform aus der Feder der PT“ nicht absegnen wollten. Dabei gingen sie darüber hinweg, dass der Text bereits seit vier Jahren im Kongress lag und seine Urheber aus rechten Kreisen stammen.

Fazit: Diese kurze Zusammenfassung zeigt, dass auf bürgerlicher Seite ein Konsens über die Steuerreform besteht, während sie für die Arbeiter*innen keine wirklichen Vorteile bringt, auch wenn sie der Bevölkerung als strategischer Fortschritt verkauft wird.

Zunächst muss gesagt werden, dass letztlich nicht über eine Reform, so wie sie seit drei Jahrzehnten diskutiert wird, abgestimmt wurde, sondern über einen Gesetzentwurf, der 2019 von der Abgeordneten Baleia Rossi, der Nationalpräsidentin des MDB, eingereicht und bis zur letzten Minute abgeändert wurde. Diese Änderungen wurden nicht zuvor diskutiert und stammen aus der Feder eines langjährigen Gefolgsmanns von Lira, dem Abgeordneten Aguinaldo Ribeiro von der PP. Unter anderem wurde eine Steuerbefreiung für religiöse Gemeinschaften quasi in allerletzter Minute in den Gesetzestext aufgenommen. Mit anderen Worten, diese Reform behält nicht nur die Steuerbefreiung für die Kirchen bei, sondern weitet sie auch auf Organisationen aus ihrem Umfeld aus und schreibt sie in der Verfassung fest. Während Teile der Gesellschaft ein Ende dieser Steuervergünstigung fordern, von denen in Brasilien die kommerziell ausgerichteten Freikirchen profitieren, hält der Kongress, wenig überraschend, an diesen Privilegien fest und weitert sie sogar noch aus.

 

Protest gegen Bolsonaro

Mai 2019, Foto: Joalpe

Auch die Banken und die Großindustrie haben die Verabschiedung der Reform nicht ohne Grund gefeiert. Mehr noch, sie waren aktiv daran beteiligt, sie durchzupeitschen, weil der Text steuerliche Ausnahmen für das Finanzwesen vorsieht. Die neuen Steuern (CBS und IBS, „Beitrag zu Gütern und Dienstleistungen” resp. „Steuer für Güter und Dienstleistungen“) gelten nicht für Banken. Aber es ist noch nicht bekannt, wie diese steuerlichen Ausnahmen für Banken aussehen, denn noch müssen sie durch ein ergänzendes Gesetz ausformuliert werden. Dann wird die Bankenlobby alles daran setzen, dass die Besteuerung der Banken, die bisher PIS / COFINS, ISS und IOF (verschiedene Quellensteuern) – wenn auch zu sehr niedrigen Prozentsätzen – zahlen, so bleibt wie vorgesehen oder sogar noch weiter reduziert wird.

Die Abschaffung der Umsatzsteuer IPI hingegen diente den Interessen der Großindustrie. Für die Agrarindustrie ist die Steuerbefreiung für Rohstoffexporte ein Sieg, da sie das Kandir-Gesetz, dessen fatale Auwirkungen Staaten wie Rio Grande do Sul sehr gut kennen, in der Verfassung weiterhin festschreibt. PEC 45 untersagt ausdrücklich die Besteuerung von Waren und Dienstleistungen, die für den Export bestimmt sind, und nährt damit den Irrglauben, die nationale Produktion aufzuwerten, während er in Wirklichkeit Brasiliens Rolle als Exporteur von Rohstoffen und Agrarerzeugnissen festigt. Auch der Bergbau profitiert von dieser Reform, also ein Sektor, der wie die Landwirtschaft von internationalen Konzernen beherrscht wird, die unser Land ausbeuten.

Mit der Verabschiedung der Reform wahrt die Agrarindustrie zudem die Aussicht auf eine Ermäßigung von bis zu 50 % der auf Pestizide erhobenen Steuern. In Artikel 8 des Gesetzentwurfs wurde diese Vergünstigung für „landwirtschaftliche Betriebsmittel“ beibehalten, und zwar in allgemeiner Form, ohne zu präzisieren, um welche Produkte es sich dabei handelt. Dadurch wird es ermöglicht, ein ergänzendes Gesetz zu schaffen, in dem festgelegt wird, dass das Gift, das sie in unsere Lebensmittel einbringen, ein „landwirtschaftliches Betriebsmittel“ ist.

Die nachteiligen Folgen dieser Reform liegen auch in der Unterlassung: In einem Land mit einem regressiven Steuersystem, in dem durch übermäßige Besteuerung des Verbrauchs diejenigen stärker belastet werden, die weniger haben, wurde eine Steuerreform verabschiedet, die daran nichts ändert. In einem Land mit der zweitgrößten Ungleichheit der Welt werden die Superreichen nicht stärker zur Kasse gebeten, und die seit 1988 in der Verfassung vorgesehene Steuer auf große Vermögen (IGF) wurde nicht in der Steuerreform berücksichtigt. Mit der Reform bleibt Brasilien neben Estland das einzige Land der Welt, das Gewinne, die als Dividenden an Aktionäre ausgeschüttet werden, nicht besteuert. In einem Land mit einem Höchstsatz von 8 % auf Erbschaften wurde nicht einmal eine schrittweise Erhöhung dieses Prozentsatzes vorgesehen, während selbst in den USA dieser Satz bis zu 40 % betragen kann.

      
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Das bedeutet, dass durch die Reform nur die Form, nicht aber die Substanz unseres Steuersystems geändert wird. Damit sollen die positiven Aspekte der Reform nicht in Abrede gestellt werden. Die Vereinfachung unseres komplexen Steuersystems ist von Vorteil, da das Steuerwesen rationaler wird. Aber diese Vereinfachung dient nur den bürgerlichen Interessen, ohne die Logik des Systems zu ändern. Andere positive Aspekte, wie die Befreiung der Grundnahrungsmittel, werden in der praktischen Umsetzung aufgeschoben und bedürfen noch einer Regelung durch ergänzende Gesetze. Die Erhebung der IPVA (Steuer auf motorisierte Transportmittel) auf Jets und Yachten, ein grundlegendes Element der Steuergerechtigkeit, bleibt bloß virtuell und obliegt in ihrer Umsetzung den Bundesstaaten und damit deren bürgerlich dominierten Gesetzgebenden Versammlungen.

Teile der Linken haben argumentiert, dass man bei der Wahl zwischen einer Steuervereinfachung und dem Zuwarten auf eine Änderung des gesamten Systems für diese Reform stimmen müsse, um mehr strukturelle Veränderungen zu erreichen. Dieses Argument ignoriert die Tatsache, dass mit der Verabschiedung der Reform die politisch und wirtschaftlich Mächtigen gemeinsam für sich reklamieren können, dass Brasilien endlich eine Steuerreform auf den Weg gebracht hat, als wäre dadurch das Thema für immer erledigt. Gerade so als ob das Steuerproblem des Landes darin bestünde, fünf Steuern abzuschaffen und durch zwei neue zu ersetzen. Dabei spielen die Mainstream-Medien mit ihrer oberflächlichen Berichterstattung zu diesem Thema eine wichtige Rolle, wobei sie selbst von dem 50-prozentigen Steuerrabatt für den nationalen journalistischen und audiovisuellen Sektor profitieren.

Angesichts dieses Szenarios war die Enthaltung von Fernanda Melchionna, Sâmia Bomfim und Glauber Braga von der PSOL die richtige Entscheidung, um im Kongress eine unabhängige Position zu vertreten, statt in das Loblied der Eliten einzustimmem oder das Kalkül der Bolsonaristen zu übernehmen. Die Stimmenthaltung war in diesem Zusammenhang die bestmögliche Positionierung und diente als Warnung und Kritik daran, dass diese Reform nur die Form, nicht aber die Substanz ändert. Es war ein Aufruf, in der Gesellschaft für die Besteuerung von großen Vermögen und Dividenden zu mobilisieren. Eine Demonstration dafür, dass für die Verteidigung der Arbeiterrechte politische Unabhängigkeit von den Vertretern des Finanz- und Industriekapitals vonnöten ist, ohne damit das Spiel der extremen Rechten zu betreiben, die für noch mehr Steuererleichterungen für die Bourgeoisie plädiert hatten. Die Mehrheit der PSOL-Abgeordneten hat dafür gestimmt und sich damit leider in die Allianz zwischen Exekutive, Kongress und Großbourgeoisie eingereiht. Am schlimmsten aber war nicht das Abstimmungsverhalten, sondern so zu tun, als hätte die Arbeiterklasse damit einen großen Sieg errungen.

Quelle: movimentorevista.com.br
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz