Was Hamas und Djihad am 7. Oktober gestartet haben, war nicht nur aus ethischen Gründen (Tötung und Geiselnahme von Zivilist:innen) verwerflich, sondern hat auch im Kampf um die Emanzipation der palästinensischen Bevölkerung ein beispielloses Desaster zur Folge.
Daniel Berger
Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Aktion sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt (20.10.) noch gar nicht absehbar: Bislang zählte man 1300 getötete Israelis, die meisten davon Zivilist:innen, und mehr als 2500 getötete Palästinenser:innen, von dem Leid der Verwundeten, der Flüchtenden innerhalb des Gazastreifens und den Zerstörungen von Häusern noch gar nicht zu reden.
Gaza Stadt Schäden im Stadtviertel El-Remal, 10.10.2023 (Foto: Wafa) |
Dass so etwas zu erwarten war, ergab sich nicht nur aus den jahrzehntelangen Erfahrungen mit israelischer Politik (man schaue nur auf den zwei Jahre zurückliegenden letzten Gazakrieg mit 13 getöteten Israelis und 248 getöteten Palästinenser:innen sowie 34 000 Menschen im Gazastreifen, deren Häuser zerstört wurden). Die jetzt zu erwartende Reaktion ergab sich auch aus der Tatsache, dass die Herrschenden in Israel sich zu keinem Zeitpunkt von der Dahija-Doktrin verabschiedet haben. Mit dieser Form asymmetrischer Kriegführung beschießt die israelische Armee Städte, aus denen heraus ein Angriff auf die israelische Armee erfolgt war, ganz gleich, wie viele Zivilist*innen dabei getötet oder verletzt werden.
Zwar wird in dem aktuellen Zusammenhang die israelische Regierung von 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung scharf kritisiert, aber das bezieht sich nur auf die mangelnde militärische Abwehrbereitschaft an der Grenze zum Gazastreifen vor dem 7. Oktober. Dies ist keine Kritik an der israelischen Staatsdoktrin, also der Apartheidpolitik im 1948er Gebiet und der Unterdrückung und Vertreibung in den besetzten Gebieten. Im Gegenteil: Auf diesem für Palästinenser:innen so wichtigen politischen Feld ist die israelische Gesellschaft mit diesem Anschlag noch weiter nach rechts gerückt. Und da die israelische Regierung aufgrund der geopolitischen Interessen des Westens auf dessen volle Unterstützung bauen kann, nutzt die Regierung die Ereignisse vom 7. Oktober dafür, die Politik der ethnischen Säuberung auf eine neue Stufe zu heben. Offen ausgedrückt hat dies der israelische Verteidigungsminister.
Die Absperrung der Versorgungsleitungen, die anhaltenden Bombardierungen und das Behindern von Hilfslieferungen sind hier vorläufig nur die ersten Schritte. Zeitgleich laufen ähnliche Maßnahmen im Westjordanland, wo die Bewegungsfreiheit noch mehr als sonst eingeschränkt wurde. Im Rahmen einer solchen Politik der Blockade ist die israelische Armee noch nicht mal auf eine Bodenoffensive angewiesen, zumal dies auch für israelische Soldaten verlustreich sein kann, was allerdings nicht heißt, dass sie nicht stattfinden wird.
Gideon Levy [1] schrieb unmittelbar nach der Aktion vom 7. Oktober in Haaretz: „Die Grausamkeiten gegen israelische Zivilisten sind Ergebnis und Spiegelbild der jahrzehntelang erfahrenen Unterdrückung und Entmenschlichung des palästinensischen Volkes, Resultat aufgestauter Frustration und Wut.“ [2]
Neben der palästinensischen Zivilbevölkerung haben am ehesten die arabischen Nachbarländer ein Interesse an einer Vermittlungslösung, denn diese Regimes haben Angst, weil sie in den Augen ihrer jeweiligen Bevölkerung die Palästinenser:innen sich selbst überlassen. Dies gilt nicht nur für die unmittelbaren Nachbarländer, sondern auch für die Staaten, die die sogenannten Abraham Accords geschlossen haben, also diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen haben (Bahrein, VAR, Sudan u. Marokko). Dass Quatar die Hamas kräftig unterstützt hat, liegt einzig und allein daran, dass sich das dortige Regime Druckmittel besorgen wollte (und besorgt hat!), um sich als regionaler Player zu etablieren.
Die westlichen Staaten wollen zwar einen Flächenbrand verhindern, können aber nicht als ehrliche Makler auftreten. Zu offensichtlich unterstützen sie politisch und mit Waffenlieferungen die israelische Politik. So verschließen sie seit Jahren ihre Augen gegenüber der ständig brutaler werdenden Siedlungspolitik im Westjordanland. Dort wird der Landraub vorangetrieben, werden ständig weitere Siedlungen gebaut und die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung weiter eingeschränkt. Nicht nur die Siedler werden immer rabiater, auch die Armee kann ungestraft Menschen erschießen. Die Ermordung der Journalistin Abu Akle ist nur ein weithin bekannt gewordenes Beispiel [3]. Es gehört offensichtlich zur „deutschen Staatsräson“, all dies mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels abzutun.
Die Bewaffnung Israels mit modernsten Kampfbombern durch die USA ist die materielle Grundlage dafür, dass dieses Regime seit Jahrzehnten straflos Syrien und den Libanon bombardieren kann. Aber auch die deutsche Regierung liefert Waffen und könnte sich sogar sehr direkt mitschuldig machen an der Ermordung von Palästinenser:innen und an der ethnischen Säuberung, wie der israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever deutlich macht.
Seit Jahren schon ist eine Umdeutung vieler Konflikte als ethnisch motiviert festzustellen. Wenn sich jemand bei uns gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wendet wird, wird er/sie gleich des Antisemitismus verdächtigt. Wenn demnach jemand Gerechtigkeit für die Palästinenser:innen fordert, dann tut er/sie das nur weil er/sie Palästinenser ist. Antisemit ist er/sie aber so oder so. Es ist unerträglich, zu sehen, wie die Preisverleihung für die palästinensische Autorin Shibli verschoben wird, einfach nur deswegen, weil sie eben Palästinenserin ist. Oder wenn dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek Antisemitismus vorgeworfen wird, obwohl er doch nur ganz zaghaft die Einhaltung von Menschenrechten auch für Palästinenser:innen anmahnt.
Umgekehrt allerdings wird ein Schuh daraus. Die kritiklose Unterstützung aller israelischen Regierungen (und seien sie noch so rechtsradikal) durch die deutsche Regierung fördert den Rassismus, den Antisemitismus und die diversen Verschwörungstheorien. Das Ausbuhen von Slavoj Žižek [4] auf der Buchmesse, die Einschränkung des Versammlungsrechts, die Diffamierung jeglicher Kritik an Israel als Antisemitismus, all dies sind die Früchte der „deutschen Staatsräson“.
Wegducken, auf die Wahrnehmung demokratischer Rechte verzichten oder gar dem ideologischen Druck nachgeben und Palästinenser:innen zu Menschen zweiter oder dritter Klasse zu erklären – egal ob in Israel/Palästina oder bei uns – kann keine Alternative sein. Aufstehen für ungeteilte Menschenrechte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung ist das Gebot der Stunde.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz