Vom 17. bis 22. September fand der VI. Bundeskongress der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Berlin statt. Es waren über 1000 ehrenamtliche Delegierte in den Fachbereichen und auf den Ebenen gewählt worden. Dafür fand ein über eineinhalb Jahre dauernder Konferenzmarathon von der Orts- bis zur Bundesebene statt.
Helmut Born
Ver.di hat in den vier Jahren seit dem letzten Bundeskongress viele Veränderungen in der Organisation erfahren. Statt 13 Fachbereiche gibt es nur noch 5 und viele Bezirke haben miteinander fusioniert. Dies führte dazu, dass viele basisnahe Strukturen beseitigt wurden und manche/r Funktionär*in seine/ihre Arbeit in den Gremien eingestellt hat. Dazu kam die bleierne Zeit der Pandemie, in der das gewerkschaftliche Leben über eine lange Zeit stillgelegt wurde. Auf dem Kongress sollte sich zeigen, dass es ein großes Bedürfnis gibt, wieder die wichtigen Fragen diskutieren zu können. Dabei muss bedacht werden, dass ver.di durch die Tarifkämpfe in diesem Jahr, vor allem im Öffentlichen Dienst, viele Mitglieder neu gewinnen und damit an Mobilisierungsfähigkeit gewinnen konnte. Trotzdem waren die Tarifergebnisse von vielen Mitgliedern abgelehnt worden, was in der Gewerkschaft Spuren hinterließ. Andererseits ist ver.di die Gewerkschaft im DGB, die am weitestgehenden neue Streikformen und Mitgliederbeteiligung anwendet und damit z. T. sehr erfolgreich gewesen ist, wie z. B. bei den mehrwöchigen Streiks an den Kliniken in Berlin, NRW und an anderen Orten.
Ganz ungewöhnlich begann der Kongress schon am Sonntagmittag mit einem Kulturprogramm, der Begrüßung der Delegierten und Gäste und dem Prozedere der Eröffnung. Als besonderer Gast durfte Bundeskanzler Scholz zu den Teilnehmer*innen sprechen und seine Politik anpreisen. Schon während seiner Rede wurde von den Delegierten deutlich sichtbar Kritik an der unsozialen und Aufrüstungspolitik der Ampel geübt. Scholz versuchte dies zu entkräften, indem er versprach, dass jetzt endlich etwas für die Erhöhung der Tarifbindung gemacht werde und es keine Kürzungen bei den Sozialleistungen geben werde.
Am zweiten Tag begann die Diskussion um den Geschäftsbericht, den der Erste Vorsitzende Frank Werneke vortrug. Schon bei der Aussprache, bei der es insgesamt 47 Wortmeldungen gab, wurde der Diskussionsbedarf deutlich. Es gab sehr kritische Wortmeldungen, die sich mit den nicht zufriedenstellenden Ergebnissen der verschiedenen Tarifrunden beschäftigten, die Aufrüstungspolitik der Ampel und die Asylpolitik anprangerten und den Bundesvorstand aufforderten, deutlicher gegen die Bundesregierung aufzutreten. Schon dieser Top dauerte erheblich länger als vorgesehen.
Bei der anschließenden Wahl des Bundesvorstandes gab es erstmals eine Position, für die zwei Kandidaten antraten. Gegen den vom Gewerkschaftsrat für das Finanzressort vorgeschlagenen Christoph Meister kandidierte auch der ehemalige Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel Orhan Akman. Er hatte sich in einem Kündigungsschutzverfahren gegen seine Kündigung in einem Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht gegen den Bundesvorstand durchgesetzt. Die vom Bundesvorstand bekämpfte Kandidatur von Akman zeigt einmal mehr, dass innergewerkschaftliche Demokratie auch bei ver.di seine Grenzen hat. Es war das erste Mal in der 20jährigen Geschichte von ver.di, dass es eine Gegenkandidatur bei einer Wahl des Bundesvorstandes gab. Dass er die Kandidatur gegen erhebliche Widerstände, die bis zur Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gingen, durchsetzen musste, ist auch Ausdruck davon, dass eine Kandidatur ohne entsprechende Empfehlung eines Bundesgremiums praktisch ohne Aussicht auf Erfolg ist. Dass er bei der Wahl trotzdem 23,9 % bekam, kann durchaus als Erfolg für ihn gewertet werden.
Der ver.di Bundesvorstand besteht aus folgenden Personen: Frank Werneke, Vorsitzender; Andrea Kocsis, stellv. Vorsitzende; Christine Behle, stellv. Vorsitzende; Christoph Schmitz; Sylvia Bühler; Silke Zimmer; Rebecca Liebig; Detlef Raabe; Christoph Meister. Damit besteht der Bundesvorstand aus sieben SPD-Mitgliedern, einer Grünen und einem Parteilosen.
Bei der Antragsberatung warteten viele durchaus kontroverse Diskussionen auslösende Themen auf ihre Beratung. Ein Antrag für die Abschaffung von Schlichtungen bei Tarifverhandlungen wurde nach Intervention des Vorsitzenden eindeutig abgelehnt. Anträge gegen Rassismus und Rechtsextremismus und für die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in ver.di und der AfD oder anderen rechten Organisationen wurden einstimmig angenommen. Ebenso gab es eine breite Mehrheit gegen weitere Einschränkungen des Asylrechts und für die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Freilassung von Julian Assange.
Der Antrag E 084 mit dem Titel „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ hatte im Vorfeld des Kongresses den meisten Wirbel verursacht. Gegen diesen Antrag wurden mit dem Aufruf „Sagt Nein“ über 15 000 Stützungsunterschriften gesammelt. Die Debatte um diesen Aufruf mit insgesamt 15 Änderungsanträgen nahm insgesamt über acht Stunden in Anspruch. Es gab über 70 Wortmeldungen dazu. Dabei wurde frühzeitig durch Abstimmung geklärt, dass der am meisten umkämpfte Passus – er enthält die Billigung von Waffenlieferungen – nicht geändert wird. Immerhin stimmte ein Drittel der Delegierten für den Änderungsantrag, der Waffenlieferungen ablehnt. Dies nahmen einige Delegierte zum Anlass den Kongress zu verlassen, ohne die weitere Debatte abzuwarten. Durch Zustimmung zu einem Geschäftsordnungsantrag eines Hamburger Kollegen sprach sich der Kongress dafür aus, die Änderungsanträge, so wie sie von der Antragskommission (AK) empfohlen worden waren, en bloc abzustimmen. Damit konnten dann nur noch die Anträge in den Leitantrag übernommen werden, die von der AK empfohlen wurden. Immerhin gelang es dadurch eindeutiger, sich gegen das 100 Milliarden Aufrüstungsprogramm und gegen das von der NATO vorgegebene 2 %-Ziel auszusprechen. Ebenfalls fand der Änderungsantrag, dass sich der Kongress gegen die Lieferung der Taurus-Raketen ausspricht, Eingang in den Leitantrag. Auch wenn es nicht gelang, eine Mehrheit gegen Waffenlieferungen zu erreichen, so können die Änderungen in dem Antrag des Bundesvorstandes als Erfolg gewertet werden. Am Ende stimmten ca. 20 % noch gegen den veränderten Antrag des Bundesvorstandes. Die Strategie, den Antrag des Bundesvorstandes durch Änderungsanträge zu verbessern, ist zumindest teilweise aufgegangen. Vor allem wurde gegenüber der Bundesregierung ein deutliches Zeichen gesetzt und ein 100-Milliarden-Programm für Bildung, Soziales, Klima und Infrastruktur gefordert.
Erneuert wurde der Beschluss zur 30-Stundenwoche aus dem letzten Bundeskongress. Dieses Mal allerdings konnte der Bundesvorstand sich nicht wieder mit der Ankündigung, eine breite Debatte dazu zu führen, rausreden. Dazu gab es zu eindeutige Anträge, die eine Mehrheit bekommen haben. Dem Bundesvorstand blieb nichts anderes übrig, als zuzusichern, Arbeitszeitverkürzungen jetzt auch konkret anzugehen. Bisher hielt ver.di sich damit immer zurück, weil es in den verschiedenen Bereichen durchaus auch an Durchsetzungskraft mangelt. Andererseits ist das klägliche Scheitern z. B. bei der Post 2015 noch gut in Erinnerung.
Erfreulich war, dass wiederum, wie bei den vergangenen Kongressen, die Anträge, die eine Verlängerung der Amtszeit der Gremien auf 5 Jahre vorsahen, mehr Gegenstimmen hatten als bei den vorangegangenen Kongressen und damit die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit deutlich verfehlt wurde. Erfreulich war auch der Beschluss, endlich der LSBIQ-Gruppe den Status einer Personengruppe „queer“ anzuerkennen. Dies wurde aber aus teilweise formalen Gründen den Migrant*innen, Behinderten und Senior*innen verwehrt.
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Bei allen Diskussionen und verabschiedeten Anträgen kommt es jetzt darauf an, dass diese auch umgesetzt werden. So erfreulich z. B. die eindeutige Absage an die AfD ist, muss diese jetzt aber auch umgesetzt und in die Betriebe getragen werden. Dass die AfD gerade von Gewerkschaftsmitgliedern häufig gewählt wird, macht diese Aufgabe umso dringender. Es wäre sicherlich hilfreich, wenn ver.di sich darüber hinaus am Aufbau eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses gegen die AfD und die Rechtsentwicklung beteiligen bzw. dieses Initiieren würde.
Es zeigte sich einmal mehr bei diesem Bundeskongress, dass ver.di eine durchaus diskussionsfreudige Gewerkschaft ist, in der viele verschiedene Positionen vertreten werden. Allerdings bleibt festzuhalten, dass vor allem der Vorsitzende Frank Werneke über genug Einfluss verfügt, kritische Diskussionen, die nicht im Sinne des Bundesvorstandes laufen, zu beeinflussen und Entscheidungen in seinem Sinne herbeizuführen. Dies wurde sehr deutlich bei dem Antrag, in dem die Kündigung der Schlichtungsvereinbarungen gefordert wurde.
Es gab wiederum Treffen der verschiedenen Gruppierungen der Gewerkschaftslinken in ver.di, die nicht immer in die gleiche Richtung gingen. Es wurde aber vereinbart, sich wieder zu treffen, um gemeinsam den Kongress auszuwerten und die weitere Zusammenarbeit zu erörtern. Wenn dies gelingen würde, wäre das sicherlich ein Fortschritt für die Gewerkschaftslinke in ver.di.
6.10.2023 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz