Gewerkschaften

Gewerkschaften in Europa heute – Dossier

Daniel Berger

In dem nachfolgenden Dossier, das sich mit der Lage der Gewerkschaften in vier großen Ländern Europas auseinandersetzt, sind neben interessanten Besonderheiten gewisse Charakteristika festzustellen, die auch auf die deutschen Gewerkschaften zutreffen:

Erstens: Mehr oder weniger ausnahmslos haben sich die Gewerkschaftsführungen noch weiter in das kapitalistische System integriert und sich dabei den Bedürfnissen der kapitalistischen Wirtschaft angepasst.

Zweitens: Seit Jahren setzen sie alles daran, größere Konflikte mit den Unternehmern oder dem Staat zu vermeiden. Über die Beteiligung am Runden Tisch (bzw. in der Konzertierten Aktion) sind sie bestrebt, ihre privilegierte Stellung als bürokratische Schicht zu bewahren.

Drittens: Die Konfliktscheu ist nicht nur ihrer Ängstlichkeit geschuldet (schließlich können größere Kämpfe auch in einer Niederlage enden und damit die Stellung der Bürokratie gefährden), sondern entspricht zum größten Teil auch ihren tatsächlichen Überzeugungen. Dies zeugt von der Integrationskraft stabiler bürgerlicher Herrschaft.

Viertens: Diese Grundkonstellation führt dazu, dass sich die Gewerkschaftsbürokratie auf ihre Stammmitgliedschaft stützt und damit regelmäßig die Interessen neuer, prekarisierter Schichten dem sozialen Frieden opfert, mit der Folge, dass damit die Spaltung der Klasse noch vertieft wird.

      
Mehr dazu
Paul Van Pelt: Folgen der Desintegration, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
Terry Conway: Streikwelle in Großbritannien weitet sich aus, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
Léon Crémieux: Gewerkschaften in Frankreich, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
Franco Turigliatto: Ein Schatten ihrer selbst, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
Ernest Mandel: Systemkonforme Gewerkschaften?, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
 

Fünftens: Zum Erhalt ihrer Stellung versucht die Bürokratie den Umbau der Gewerkschaften in Dienstleistungsorganisationen voranzutreiben (Angebote bestimmter Versicherungen usw.)

Wie allerdings die aktuellen Auseinandersetzungen in Großbritannien und Frankreich deutlich vor Augen führen, sind große, die gesamte Klasse erfassende Auseinandersetzungen ohne die politische und organisatorische Kraft der Gewerkschaften völlig unrealistisch.

Gewerkschaften sind auf der einen Seite ein wichtiges Instrument zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter*innenklasse und auf der anderen Seite bremsen sie, wenn es um das Durchalten größerer Kämpfe geht. Die bremsende Rolle der Gewerkschaftsbürokratie macht sie zu einer kleinbürgerlichen Schicht in den Reihen der unmittelbaren Klassenorganisation, was wie ein Mühlstein die Kampfkraft der Klasse nach unten zieht.

Es stellt sich damit die strategische Aufgabe, für die Demokratisierung der Gewerkschaften und den Aufbau klassenkämpferischer Strömungen zu kämpfen. Mittel- und längerfristiges Ziel muss es sein, die Mitgliedschaft politisch so zu stärken, dass sie die Kampfführung in die eigenen Hände nimmt.

In der Druckausgabe erschien aus Platzgründen nur eine gekürzte Fassung dieser Einleitung



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz