Für die imperialistischen Länder des Westens spielt Israel immer noch eine bedeutende geopolitische Rolle, auch wenn sich inzwischen (im Vergleich zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) die konkrete Funktion geändert hat. Für Deutschland allerdings ist Israel auch und vor allem aus innenpolitischen Gründen von besonderer Bedeutung.
Jakob Schäfer und Michael Weis
1952 sagte Kanzler Adenauer im Luxemburger Abkommen Israel finanzielle und militärische Unterstützung zu – ausdrücklich zur „Wiedergutmachung“. Für die Westmächte war dies eine Bedingung für das Ende der Besatzung Deutschlands und die Aufnahme der BRD in die „Völkergemeinschaft“. In den folgenden Jahrzehnten trat ein anderes Motiv in den Vordergrund: Der deutsche Imperialismus will bei der Beherrschung des Nahen Ostens beteiligt sein, um daraus Ansprüche auf Teilhabe an der Sicherung der Rohölversorgung sowie der sonstigen Handelswege ableiten zu können.
Deutsch-israelisches Militärmanöver (2020) Foto: IDF Spokesperson's Unit |
Mindestens genauso wichtig allerdings ist ein anderes Motiv, nämlich das innenpolitische: Mit der militärischen und vor allem mit der bedingungslosen politischen Unterstützung der israelischen Regierung – ganz gleich, wie rechtsradikal und offen rassistisch sie ist – meinen die Herrschenden in diesem Land einen Teil der historischen Schuld am Holocaust, wenn nicht ausgleichen, so doch mildern zu können.
Deswegen wird diese spezifische Haltung zur „deutschen Staatsräson“ erklärt und deswegen werden alle Kritiker:innen dieser spezifischen Beziehung verfolgt und kriminalisiert. Da weite Teile der Öffentlichkeit (allen voran die großen Medien) von der gleichen Motivation getrieben werden und diese Propaganda unablässig verbreitet wird, greift der Vorwurf des Antisemitismus auch bei vielen Menschen, die sich mit der Materie oder mit den konkreten kritischen Äußerungen dieser oder jener Person gar nicht beschäftigt haben.
Damit gelingt es, von der spezifischen Schuld der bürgerlichen Klasse bei der Machtübertragung an Hitler und während der NS-Zeit abzulenken. Die undifferenzierte Kollektivschuldthese soll auch jenen ein schlechtes Gewissen machen (und ihnen indirekt eine Mitverantwortung suggerieren), die zur damaligen Zeit noch nicht mal geboren waren.
Hat man aber diese Logik der kollektiven Verantwortung aller Deutschen (unabhängig von ihrem Alter) und die daraus abgeleitete „deutsche Staatsräson“ akzeptiert, dann ist es folgerichtig, bei der bedingungslosen Unterstützung jeder israelischen Regierung auch zu akzeptieren, dass palästinensischenes Leben keine Rolle spielt.
Dabei wird zweierlei verdrängt: Erstens das Ausmaß des Massenmords durch Bombardements etc., einschließlich aller Abriegelungen und der Verhinderung von Hilfslieferungen (Wasser, Lebensmittel, Medikamente usw.); zweitens die strukturelle Unterdrückung der palästinensischenen Bevölkerung seit der Nakba.
Ganz geflissentlich wird auch übergangen, welche Opfer die palästinensischene Bevölkerung in den vergangenen Gazakriegen zu beklagen hatte: „Operation Gegossenes Blei“ 2008/2009, „Operation Wolkensäule“ 2012, „Operation Protective Edge“ 2014, „Operation Guardian on the Wall 2021“, „Operation Breaking Dawn“ 2022 oder etwa die israelischen Luftangriffe auf Gaza im Mai 2023. Dramatisch war auch die Ermordung von Dutzenden von Palästinensern beim „Marsch der Rückkehr“ im März 2018 und März 2019, als israelische Scharfschützen auf unbewaffnete Demonstrant:innen schossen. Die Verletzten zählten nach Hunderten. Schon das Demonstrieren und die Forderung nach Aufhebung der Blockade ist in der Logik des Apartheidstaates Israel ein Angriff auf seine Unabhängigkeit und begründet das Recht auf „Selbstverteidigung“ ohne Rücksicht auf das Leben der Demonstrierenden. Zu all diesen Opfern schwieg die deutsche Regierung (und natürlich auch die US-Regierung).
Ganz geflissentlich wird auch übergangen, dass nicht alle Israelis der Meinung sind, dass man die Palästinenser:innen als Menschen zweiter Klasse (oder gar als Tiere) behandeln soll.
Ganz geflissentlich wird übergangen (oder heruntergespielt) dass Jüdinnen und Juden in den USA massenhaft gegen diesen Krieg demonstrieren und sich dagegen wehren, dass die Erinnerung an den Holocaust als Rechtfertigung für die rassistische Politik der israelischen Regierung missbraucht wird.
Strukturelle UnterdrückungDiese strukturelle Diskriminierung besteht in juristischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht. Für die Bewohner:innen des israelischen Staatsgebiets ist dies in Artikel 1 des 2018 verabschiedeten Grundgesetzes festgeschrieben, in dem es heißt: „Die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel ist dem jüdischen Volk vorbehalten“, ein Recht, das den Palästinenser:innen also verwehrt wird; ein weiterer Artikel besagt, dass „der Staat die Ausweitung der jüdischen Siedlungen als nationales Ziel ansieht und dahingehende Initiativen und Bemühungen fördern und unterstützen wird“. Das bedeutet, dass ein Recht darauf besteht, Land zu beschlagnahmen, das Palästinensern gehört. Im gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan wendet das israelische Regime Gesetze, Praktiken und staatliche Gewalt an, um die Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere zu festigen, also der Jüdinnen und Juden über die Palästinenser:innen. Eine wichtige Methode zur Verfolgung dieses Ziels ist die unterschiedliche Gestaltung des Raums für jede Gruppe. Während für jüdische Bürger:innen mit Ausnahme des Gazastreifens überall die gleichen Rechte gelten, sind diese für die Palästinenser je nach Gebiet unterschiedlich. Davon betroffen sind etwa das Recht auf Einwanderung, Erwerb bzw. Enteignung und Nutzung von Land, Bewegungsfreiheit oder politische Beteiligung. Die jahrzehntelange bewusste Ungleichbehandlung der palästinensischenen Bürger:innen Israels hat dazu geführt, dass sie im Vergleich zur jüdischen Bevölkerung wirtschaftlich benachteiligt sind. Verschärft wird dieses Problem durch die diskriminierende Zuweisung staatlicher Mittel: Ein jüngstes Beispiel ist das Corona-Konjunkturpaket der Regierung, von dem nur 1,7 Prozent der Mittel an die palästinensischenen Kommunalbehörden gingen. Die strukturelle Ungleichheit im Sozial- und Gesundheitswesen zeigt sich in folgendem Beispiel: Israel kaufte rund 30 Millionen Dosen Corona-Impfstoff. Nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums waren bis Oktober 2021 64 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft, darunter israelische Staatsangehörige, Bewohner:innen Ost-Jerusalems, Arbeitsmigrant:innen und palästinensischene Gefangene. Mehr als 4 Millionen Bürger:innen hatten eine dritte Dosis erhalten. Im November 2021 wurde mit der Impfung von Fünfjährigen begonnen. Im März und April 2021 lieferte Israel gerade mal 5 000 Impfstoffdosen an die Palästinensische Behörde, nachdem es Presseberichten zufolge im Februar Tausende Dosen an die diplomatischen Verbündeten Guatemala, Honduras und die Tschechische Republik geschickt hatte. Fehlende Selbstbestimmung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit wirken sich natürlich auch auf die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten aus. Die Jugendarbeitslosigkeit in Gaza beispielsweise lag schon vor dem Krieg bei über 60 % und ist seither explodiert, während in Israel die Gesamtarbeitslosigkeit bei 4,2 % liegt. Das BIP pro Kopf beträgt in Israel bei 39 000 $, in Palästina hingegen bei 2900 $. Für weitergehende Informationen zu dieser strukturellen Diskriminierung verweisen wir auf den Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem aus 2021, der in der Internationale1/2024 dokumentiert ist, sowie auf die Berichte von Amnesty international aus 2022. Zur wirtschaftlichen Lage siehe auch Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung von Shir Hever, 2014 im Neuen ISP Verlag erschienen. |
Stellvertretend für viele schreibt Mario Keßler: „Hatte Israel eine andere Wahl, als militärisch zu reagieren? Ein israelischer General, der sein Land zu schützen hat, muss darüber anders urteilen als ein Kritiker von außen. Dieser Krieg ist Israel aufgezwungen worden, und der jüdische Staat führt einen Verteidigungskampf. Doch „Wie weit darf die Anwendung von Gewalt gegenüber Zivilisten auch in Gaza gehen?“, fragt der israelische Historiker Omer Bartov.“ (Sozialismus 12/2023).
Keßler und mit ihm viele andere tun gerade so, als stünden sich in dem israelisch-palästinensischenen Konflikt zwei Parteien auf Augenhöhe gegenüber. An der strukturellen Unterdrückung der palästinensischenen Bevölkerung hat er wenig auszusetzen, jedenfalls gesteht er der palästinensischenen Bevölkerung kein Recht auf Widerstand zu. Dass wir die reaktionäre Hamas und ihre Kampfmethoden ablehnen, kann nicht heißen, dass wir uns von dem berechtigten Kampf der Palästinenser:innen distanzieren. Aktionen wie beispielsweise der Marsch der Rückkehr verdienen unsere volle Solidarität.
Die deutsche Außenministerin Baerbock und andere fordern – rein verbal – die Einhaltung des „humanitären Menschenrechts“ ein (natürlich ohne selbst realen Druck auszuüben; im Gegenteil: Man wehrt die Klage Nicaraguas ab, man wendet sich gegen den Haftbefehl des Chefanklägers in Den Haag gegen Netanjahu usw.). Auch andere sind inzwischen ein wenig verunsichert und hoffen auf eine Milderung des Vorgehens der israelischen Regierung. Nun ist es aber so, dass die Logik der rassistischen faktischen israelischen Staatsräson es extrem schwer macht, wenigstens einem Waffenstillstand zuzustimmen. Die Politik des israelischen Staates ist seit der Staatsgründung und der Nakba auf ethnische Säuberung ausgerichtet. Jede israelische Regierung, die die faktische israelische Staatsräson anerkennt, kann es sich politisch kaum leisten, die mit dem 7. Oktober geschaffene Gelegenheit nicht zu ergreifen und die Politik der ethnischen Säuberung nicht auf eine neue Stufe zu heben.
Je mehr aber der Krieg in einen Völkermord übergeht, umso mehr kommen die Verteidiger der deutschen Staatsräson ins Schwimmen bzw. verheddern sich in Widersprüche (wie lange sie das durchhalten, ist eine andere Frage). Denn inzwischen hat die Dahija-Doktrin eine neue Stufe erreicht
„Auf militärischer Ebene hat die israelische Armee gehandelt, wie sie es oft getan hat: gemäß der Doktrin von General Gadi Eizenkot, die im Gefolge des Libanon-Kriegs von 2006 entwickelt wurde. Diese ‚Dahiya-Doktrin‘ – benannt nach den südlichen Vororten Beiruts, der Hochburg der Hisbollah – sieht unverhältnismäßige Gegenschläge und Vergeltungsmaßnahmen vor, die gegen zivile Infrastrukturen, die dem Feind als Basis dienen könnten, gerichtet sind. Keine andere Armee der Welt hat es gewagt, offen eine solche terroristische Doktrin zu formulieren – auch wenn einige natürlich nicht davor zurückschrecken, ähnlich zu agieren wie die USA im Irak oder Russland in Tschetschenien“, so Alain Gesh in Le Monde Diplomatique v. 10.6.2021. Nicht für umsonst hat die Republik Südafrika vor Monaten schon Klage eingereicht.
Die BRD ist nach den USA Israels wichtigster Waffenlieferant. Im Jahr 2023 war die Bundesrepublik nach Angaben der Rechercheagentur Forensis sogar für 47 Prozent aller israelischen Waffenimporte verantwortlich, dicht hinter den USA mit 53 Prozent. Dies ergebe sich aus Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI). Die Zahl schließt die Lieferung von zwei Kriegsschiffen der Sa‘ar-6-Klasse sowie von Raketen und Motoren für Panzer ein. Über einen längeren Zeitraum von fünf Jahren betrachtet – zwischen 2019 und 2023 – machten Lieferungen aus Deutschland immerhin 30 Prozent aller Waffenimporte aus, während 69 Prozent aus den USA stammten. Diese Waffen werden zumindest zum Teil auch in Gaza eingesetzt, so wie die Munition bei dem Angriff auf das Flüchtlingslager in Rafah laut NYT und CNN aus US-Produktion stammt.
Staatsräson: ein Merkmal des AbsolutismusMit der Stärkung des Staates im Absolutismus wurde die Staatsräson geboren, zunächst formuliert von Machiavelli. Sie besagt, dass dem staatlichen Interesse alles andere unterzuordnen ist. Folglich spielen dann auch Menschenrechte keine Rolle mehr, sie werden zumindest zweitrangig. Für Deutschland wurde dieses obrigkeitshörige Konzept zum ersten Mal wieder neu formuliert von dem ehemaligen Botschafter in Tel Aviv, Rudolf Dreßler (in seinem Aufsatz „Gesicherte Existenz Israels – Teil der deutschen Staatsräson“: Er schrieb: „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.“ Kanzlerin Merkel griff dies in ihrer Rede in der Knesset (2008) auf und seitdem ist dieser Begriff zu mehr als einer politischen Rechtfertigung der militärischen und politischen Unterstützung Israels durch die deutsche Regierung geworden. Inzwischen ist es auch ein Instrument, um missliebige Kritiker:innen zu kriminalisieren oder auch z. B. die Einbürgerung vom Bekenntnis zur dieser obrigkeitshörigen Doktrin abhängig zu machen. Dass dieses Konzept mit den Grundsätzen einer demokratischen Verfassung wenig zu tun hat, drückte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einem 23 Seiten langen Gutachten folgendermaßen aus: „In der heutigen wissenschaftlichen Literatur sind der Nutzen und der analytische Wert des Begriffs Staatsräson umstritten. […] In der liberalen und naturrechtlichen Denktradition steht die Idee der Staatsräson darüber hinaus im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaats. […] Im Grundgesetz hat die Idee der Staatsräson als wertfrei auf Machterhalt und Machterweiterung fokussiertes Konzept keinen Platz.“ |
Daneben fungiert die BRD als verlässlichste ideologische Stütze des zionistischen Regimes. Gegenüber dem IGH tritt die BRD als Drittpartei auf Seiten Israels auf, um den Vorwurf des Völkermords an Palästinenser:innen zu widerlegen. Den Entscheid des Internationalen Gerichtshofs, nach dem Israel aufgefordert wird, eine „militärische Offensive und jegliche anderen Handlungen im Gouvernement Rafah“ sofort einzustellen, „die dem palästinensischenen Volk in Gaza Lebensbedingungen auferlegen könnten, die seine vollständige oder teilweise physische Zerstörung zur Folge haben könnten“, kommentiert Volker Beck (Vorsitzender der dt.-isr. Gesellschaft) im Sinne der Regierung: „Diese Entscheidung des Gerichts lässt Israel Spielraum für sein militärisches Vorgehen in Gaza und delegitimiert nicht sein Selbstverteidigungsrecht“. Mit eben diesen Worten rechtfertigte auch Netanjahu den „tragischen Beschuss“ auf das Flüchtlingslager in Rafah.
Die BRD ist neben den USA, GB und Frankreich die wichtigste politische Stütze im Westen und federführend bei der Repression der propalästinensischenen Proteste, sieht man davon ab, dass in Frankreich harte Verurteilungen wegen Unterstützung terroristischer Vereinigungen erfolgen. Dies äußert sich nicht nur in direkten Maßnahmen wie dem Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin, sondern in der einseitigen medialen Darstellung des Gazakriegs und der versuchten Gleichschaltung des Kulturlebens, wo kritische Stimmen durch Ausladungen, Nichtgewährung von Versammlungsräumen, Aberkennung von Kulturpreisen etc. wegen vorgeblichen Antisemitismus mundtot gemacht und existentiell bedroht werden.
Unseligerweise besteht auch eine gewerkschaftliche Einheitsfront pro Israel (einige Gliederungen und die DJU in puncto Pressefreiheit ausgenommen). Der DGB und seine Einzelgewerkschaften haben sich seit der pro-israelischen Stellungnahme Anfang Oktober 2023 nicht mehr gerührt und die traditionell pazifistische Grundhaltung ad acta gelegt, anders die Gewerkschaften in den o. g. und anderen Ländern. Noch nicht einmal die Resolutionen internationaler Gewerkschaftsverbände zu diesem Thema werden vom DGB veröffentlicht, wie in dem Offenen Brief der VKG an den DGB vom 13.6. moniert wird.
Die reformistische Linke wie DIE LINKE und das Gros der zivilgesellschaftlichen Organisationen wie die DFG/VK scharen sich hinter der Regierungsposition oder üben sich die meiste Zeit in Stillschweigen. Ausgenommen ist hier das BSW, das einen Stopp der Waffenlieferungen fordert und die Kriegsverbrechen als solche benennt.
Trauriger Höhepunkt ist die „postkoloniale oder postautonome Linke“, deren antideutscher Flügel sich dazu versteigt, Proteste zu denunzieren und seine Vernichtungsphantasien gegenüber Palästina in der Losung „Gaza zu Garzweiler“ zu halluzinieren.
Auch unter der radikalen Linken wird eine historische Kontextualisierung des 7. Oktober als antisemitisch konnotierte Relativierung angesehen – wir selbst haben uns daran gewöhnt, unser Rederecht durch Distanzierung von Hamas vorauseilend zu legitimieren.
Insofern haben wir als antiimperialistische Linke und Gewerkschafter:innen die Pflicht, die unterdrückten Nachrichten und Zusammenhänge öffentlich zu machen, zu zeigen, wie in anderen Ländern Solidarität auch in gewerkschaftlichen Kreisen besteht, und die sich jüngst formierenden studentischen Proteste zu begleiten. Hier besteht ein erhebliches Radikalisierungspotential, da die jungen Leute aufgrund der „Staatsräson“ zwangsläufig der offiziellen Politik diametral gegenüberstehen und keine Gefahr einer sozialintegrativen Variante mit Kanalisierung auf parteipolitische Mühlen besteht wie bei FFF. Diese Bewegung wiederum diskreditiert sich vollständig durch die Unterordnung unter die Staatsräson und die schäbige Ausgrenzung ihrer Galionsfigur Greta Thunberg.
Da bei Protesten gegen die auferlegte „Staatsräson“ zumeist die Forderung nach Offenlegung der Beziehungen zu israelischen Institutionen und der Kooperation mit Rüstungsbetrieben, die diesen Krieg munitionieren, aufgestellt wird, liegt es auf der Hand, das Engagement für die BDS-Kampagne zu fördern.
Die Gründe für die Befolgung der deutschen Staatsräson liegen bei den unterschiedlichen Akteuren in jeweils unterschiedlichem Maß an ihrer Staatshörigkeit und an Konfliktscheu bis hin zum Duckmäusertum. Wenn sie sich der inhaltlichen Debatte stellen, dann glänzen sie zumeist mit selektiver Wahrnehmung und der Verunglimpfung der Israelkritik als Antisemitismus.
Aufgrund des propagandistischen Trommelfeuers der Massenmedien gehört für Menschen, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, schon einiges an Mut dazu, den Charakter der rassistischen und völkermörderischen Politik beim Namen zu nennen. Anders ist es bei den (meist jungen) Menschen, die aufgrund der ungeheuerlichen Vorgänge im Gazastreifen sich jetzt zum ersten Mal politisch artikulieren, und zwar ohne Scheuklappen und Maulkorb. Angetrieben werden sie dabei in erster Linie von humanistischen Motiven. Und je größer das Missverhältnis zwischen den erkennbaren Fakten und der völlig entstellenden (verharmlosenden) Positionierung der Bundesregierung ist, umso mehr schreitet der Politisierungsprozess bei diesen jungen Menschen voran. Häufig (aber nicht nur) sind es Menschen mit migrantischem Hintergrund. Bestätigt fühlen sie sich sowohl durch die Klage der Republik Südafrika gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof als auch durch die Massenproteste an US-Universitäten.
Welche Achsen der politischen Debatte müssen wir, revolutionäre Marxist:innen in diesem Zusammenhang (und in der gegenwärtigen politischen Lage hier im Land) fördern? Ergänzend zu den am Ort laufenden Mobilisierungen gilt es Diskussionen anzustoßen bzw. zu bereichern (z. B. auf Veranstaltungen) zu folgenden Punkten:
Es muss klargestellt werden, dass das Dringlichste die Durchsetzung eines Waffenstillstands und der uneingeschränkten Hilfslieferungen ist. Dazu muss die Verantwortung der Bundesregierung in den Vordergrund gestellt werden (getreu dem einzig richtigen Satz des Antikommunisten Willy Brandt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“). D. h. wir dürfen uns nicht mit dem Verweis auf die komplexe Lage oder die falsche Strategie der reaktionären Hamas von der allerdringlichsten Forderung abbringen lassen.
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Wir müssen die Zusammenhänge des Konflikts (die strukturelle Unterdrückung der Palästinenser:innen seit der Nakba) herausarbeiten und dazu die ausgezeichneten Arbeiten der kritischen israelischen Wissenschaftler:innen nutzen (von Shlomo Sand über Moshe Zuckermann bis zu Ilan Pappé).
Gleichzeitig gilt es die geopolitischen Zusammenhänge zu vermitteln.
Und wir müssen erklären, dass mit einem Waffenstillstand der Konflikt längst nicht gelöst ist. Bei der Skizzierung einer zukunftsfähigen Lösung darf nicht die Zweistaatenlösung angepriesen werden, denn der Rumpfstaat Palästina (die 22 Prozent des ehemaligen Palästinas sind wirtschaftlich nicht lebensfähig) bliebe am Tropf Israels und der internationalen Unterstützung, nicht zu vergessen die bisher schon 700 000 israelischen Siedler im Westjordanland. Eine tatsächlich tragfähige Lösung (einschließlich der Durchsetzung des Rückkehrrechts der Flüchtlinge) ist ohne eine durchgreifende Umwälzung der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse nicht vorstellbar. Die Lösung des Konflikts – die Durchsetzung gleicher Rechte für alle Menschen in Israel-Palästina – ist eine Klassenfrage. Auch dies gilt es zu vermitteln und nicht eine Illusion zu schüren.
Nicht zuletzt gilt es die Hintergründe der sogenannten „deutschen Staatsräson“ offenzulegen.
Aufgrund des gewaltigen Interessengegensatzes in Israel-Palästina ist nicht mit einem baldigen Ende des Kriegs zu rechnen. Bestenfalls könnte es – unter dem Druck der US-Regierung – zu einem Waffenstillstand kommen. Aber die mörderische Blockade der Hilfslieferungen wird weitergehen, ganz gleich, wer in den USA die Wahlen gewinnt. Umso mehr kommt es auf die Massenmobilisierungen in der ganzen Welt an, auch in Deutschland.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2024 (Juli/August 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz