Am 46. Jahrestag der sandinistischen Revolution wurden auch ihre letzten noch verbliebenen Überreste in einer ebenso bizarren wie pompösen Zeremonie mit Füßen zertreten und beerdigt. [1]
Matthias Schindler
Am 19. Juli 1979 triumphierte das Volk Nicaraguas über die Diktatur des Somoza-Clans und eröffnete damit die fast 11 Jahre andauernde Sandinistische Revolution.
![]() Demonstration 2018 Vereinigung der Mütter der im April 2018 von der Ortega-Diktatur ermordeten Jugendlichen: Keine weiteren Morde! Keine weiteren Massaker! Wir fordern Gerechtigkeit! (Foto: mejiaperalta) |
Am 19. Juli 2025, zum 46. Jahrestag, ließ das Diktatorenpaar Daniel Ortega und Rosario Murillo – hermetisch abgeriegelt von der normalen Bevölkerung – über 36 000 Schülerinnen und Schüler und 4000 Uniformierte der Polizei und der Armee auf der Plaza de la Fé (Platz des Glaubens) in streng geordneten Blöcken von jeweils 150 Personen aufmarschieren, um sich als die absoluten Herrscher Nicaraguas feiern zu lassen.
Der gesamte Ablauf dieser vierstündigen Kundgebung war darauf ausgerichtet, dass Rosario Murillo neben Daniel Ortega als gleichberechtigte Co-Präsidentin erscheint. Dennoch machten Daniel-Daniel-Daniel-Gesänge deutlich, wer der eigentliche Herrscher im Lande ist. So begann Ortega seine Rede auch mit den Worten: „Hier sind wir alle Daniel!“ Der Comandante, der niemals am bewaffneten Befreiungskampf teilgenommen hat und der 1979 in Nicaragua eine völlig unbekannte Person war, setzt sich hier gleich mit der FSLN, mit der Sandinistischen Revolution und mit dem gesamten Volk Nicaraguas. Dies ist jedoch nur ein erneuter Ausdruck seines Größenwahns und seiner Überzeugung, in Nicaragua eine göttliche Mission zu erfüllen.
Seine wichtigste Botschaft bestand in der offenen Bedrohung jeglicher kritischer oder gar oppositioneller Regungen: „Damit wir in Frieden leben können, müssen wir Stärke und Kampfgeist beweisen … wir müssen allzeit bereit sein, Krieg gegen die Verschwörer zu führen.“ Er forderte die ihm treu ergebenen paramilitärischen Stadtteilstrukturen zur „revolutionären Wachsamkeit“ gegenüber allen „Terroristen und Vaterlandsverrätern“ auf, denn „sie sollen wissen, dass man sie fassen und verurteilen wird.“
Dass dies keine leeren Worte sind, zeigt die Entwicklung der staatlichen Repression der letzten Monate und Jahre. Das Jahr 2025 war dadurch gekennzeichnet, dass die politischen Verfolgungsmaßnahmen sich zunehmend auch gegen mittlere und höhere Funktionäre des Regimes richteten. Vor dem Hintergrund immer wiederkehrender Gerüchte über den angeblich schlechten Gesundheitszustand Ortegas ist aktuell eine wahre Säuberungswelle zu beobachten, die schon vor über einem Jahr begonnen hat und die inzwischen sogar engste Vertrauenspersonen des Präsidentenpaares trifft.
So wurde beispielsweise Bayardo Arce – einer der neun Comandantes de la Revolución, die die Sandinistische Revolution angeführt haben, und der letzte noch verbliebene Verbündete Ortegas aus diesem Gremium – unter dem Vorwurf der Korruption am 26. Juli 2025 unter Hausarrest gestellt. Er war sicherlich einer der größten Profiteure der privaten Aneignung öffentlichen Eigentums durch hohe Kader der FSLN und kam so in den Besitz diverser Unternehmen, vor allem bei der Vermarktung von Reis, einem der Grundnahrungsmittel in Nicaragua. Aber die dort herrschende Vetternwirtschaft machte aus ihm noch keinen erfolgreichen Kapitalisten, sondern endete in hohen Steuerschulden und führte letztlich zur Enteignung seiner Betriebe.
Am 14. August widerfuhr sogar Néstor Moncada Lau das gleiche Schicksal. Er war in diverse terroristische Anschläge verwickelt, hat die militärische Unterdrückung friedlicher Proteste maßgeblich mitorganisiert, diente auf dem Papier als Vater mindestens eines der außerehelichen Kinder von Daniel Ortega, war über viele Jahre hinweg der Sicherheitschef des Sekretariats der FSLN und gilt – als einer der engsten Vertrauten Ortegas – auch als einer der besten Kenner aller Skandale innerhalb des Präsidentenhauses.
Bereits am 19. Juni 2025 wurde der prominente Kritiker des Ortega Regimes Roberto Samcam von Auftragskillern in seinem costa-ricanischen Exil ermordet. Samcam war Major im Ruhestand und einer der besten Kenner der internen Vorgänge in der nicaraguanischen Armee. Er analysierte und kritisierte in vielen Artikeln und auch Büchern sehr detailliert die innere Dynamik des orteguistischen Unterdrückungsapparates und insbesondere auch die Beteiligung des Militärs an den Repressionsmaßnahmen des Regimes.
Dies sind nur drei Beispiele einer Verfolgungswelle, vor der niemand mehr sicher ist und der inzwischen bereits mehrere tausend Menschen – von einfachen Privatpersonen bis hin zu höchsten Amtsträgern – zum Opfer gefallen sind.
Dem Regime geht es offensichtlich darum, Rosario Murillo möglichst reibungslos als Nachfolgerin Ortegas durchzusetzen. Daher werden seit Monaten nahezu täglich Figuren aus Schlüsselpositionen des Regimes, deren bedingungsloser Gefolgschaft Murillo möglicherweise nicht komplett sicher ist, ihrer Posten enthoben und durch andere Marionetten ersetzt. Viele Opfer dieser Säuberungswelle werden sogar vor Gericht gestellt und wegen Landesverrates oder Korruption zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Da viele dieser Leute hohe Funktionsträger des Regimes waren, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie sich tatsächlich in großem Stil bereichert haben. Der eigentliche Grund für ihre Verfolgung liegt jedoch nicht in ihren Korruptionsgeschäften, die in allen Institutionen Nicaraguas tief verankert sind, sondern darin, dass Ortega-Murillo Zweifel an deren blindem Gehorsam haben.
An den Todesumständen von Humberto Ortega – dem Bruder von Daniel – wird deutlich, welch überragende Bedeutung die Nachfolgeregelung Ortegas für das Regime gegenwärtig hat. Humberto war ebenfalls einer der neun Comandantes der Nationalen Leitung der FSLN. Er war darüber hinaus auch der Stratege des Befreiungskampfes und der Revolution, Chef der Sandinistischen Armee und bis zur Aktualität ein starker Mann im Hintergrund der nicaraguanischen Politik. Am 19. Mai 2024 veröffentlichte die argentinische Internetplattform infobae ein Interview mit ihm, in dem er die Führungsqualitäten von Rosario Murillo in Frage stellte und von der Notwendigkeit sprach, einen Kompromiss mit den oppositionellen Kräften zu finden. Als Antwort darauf wurde innerhalb weniger Stunden sein Haus von der Polizei umstellt, ihm wurden alle Kommunikationsmittel abgenommen, er wurde in völliger Isolation gehalten, und insbesondere wurde ihm die medizinische Versorgung, die er wegen verschiedener Erkrankungen brauchte, verweigert. Eine Woche später verurteilte Daniel Ortega seinen Bruder öffentlich als „Verräter“. Am 9. Juni schickte Humberto von einem geheimen Handy aus noch einen letzten Hilferuf an die Redaktion der Internetplattform Confidencial. Am 11. Juni wurde er ins Militärkrankenhaus eingeliefert, aber unter diesen Bedingungen verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends, sodass er – persönlich isoliert und medizinisch vernachlässigt – am 30. September 2024 verstarb.
Die aktuellen Wellen der Repression gegen die Bevölkerung und der Säuberungen in den staatlichen Institutionen gehen auf den hunderttausendfachen Protest zurück, den die Menschen im April 2018 gegen die politische Unterdrückung und die maßlose Bereicherung der Familie Ortega-Murillo friedlich auf die Straße getragen haben. Als jedoch die Polizei und Ortega treu ergebene Paramilitärs immer brutaler gegen die Demonstrationen vorgingen und Oppositionelle in ihren Stadtvierteln verfolgten und ermordeten, wurden viele Barrikaden errichtet, um die Unterdrückungskräfte nicht mehr in die Wohnquartiere hineinzulassen.
Auf diese Situation reagierte das Regime mit äußerster Gewalt. Über 2000 Personen wurden in den Folgemonaten ins Gefängnis geworfen, über 300 durch Schüsse – teilweise aus Scharfschützengewehren der Armee – getötet. Der autoritäre Staat, der bis dahin noch gewisse Freiräume der Information, der Lehre, der Religionsausübung und der politischen Debatte zugelassen hatte, wandelte sich zu einer offenen Diktatur, die jegliche nicht staatlich kontrollierte Aktivität der Bevölkerung immer gnadenloser unterdrückte.
Von diesem Moment an wurden unzählige Maßnahmen ergriffen, um das Volk endgültig zum Schweigen zu bringen. Es wurden reihenweise Gesetze erlassen, um den Repressionsmaßnahmen der Regierung einen legalen Schein zu verleihen. Demonstrationen wurden unterdrückt, selbst wenn sie nur darin bestanden, die blau-weiße Nationalfahne Nicaraguas öffentlich zu schwenken. Nach und nach wurden alle Parteien illegalisiert, die sich der Diktatur nicht unterwerfen wollten. Die Wahlen von 2021, die von etwa 80 Prozent der Bevölkerung boykottiert wurden, waren eine totale Farce. Das neue Parlament fasste seither alle Beschlüsse einstimmig und ohne Gegenstimmen.
Die beiden bekanntesten Vertreter der ethnischen Minderheit der Miskitus, Steadman Fagoth Müller und Brooklyn Rivera, wurden verhaftet und sind seit 2 Jahren „verschwunden“. Über 4.000 Nichtregierungsorganisationen – darunter Universitäten, Kirchen, Berufsverbände, das Rote Kreuz, Frauenvereinigungen, Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte usw. – wurden verboten, deren Eigentum und Vermögen beschlagnahmt. 2023 wurden 222 politische Gefangene aus Nicaragua in die USA deportiert. Insgesamt über 300 Personen wurde ihre Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Eigentum wurde konfisziert, ihre Rente wurde ihnen gestrichen, und aus dem Sozialregister wurden sie entfernt.
Die gesamte politische und kulturelle Elite Nicaraguas befindet sich inzwischen im Exil. Die 86-jährige Vilma Núñez, die Präsidentin des Zentrums zur Verteidigung der Menschenrechte CENIDH, ist die einzige Person aus dieser Gruppe, die sich bis heute standhaft weigert, das Land zu verlassen. Wegen ihres hohen Alters und ihrer internationalen Bekanntheit wagt es das Regime jedoch offensichtlich nicht, sie anzutasten. Und so muss sie ihr Leben aktuell ohne irgendeinen rechtlichen Status in weitgehender Isolation verbringen.
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Am 18. Februar 2025 wurde auf verfassungswidrige Weise eine neue Verfassung in Kraft gesetzt. Sie ändert den gesamten Aufbau des Staates, hebt die Trennung der Staatsgewalten auf und unterstellt diese Instanzen – nun nicht mehr „Gewalten“, sondern „Organe“ – der Präsidentschaft. Sie ersetzt aber auch die Funktionen des Präsidenten und Vizepräsidenten durch die Figur zweier gleichberechtigter „Co-Präsidenten“, eines Mannes und einer Frau. Auf diese Weise ist die absolute Macht im Lande an Daniel Ortega und Rosario Murillo übertragen worden. Damit wurde jedoch auch die von der Sandinistischen Revolution geschaffene Verfassung – mit rechtsstaatlichen Garantien, Gewaltenteilung, weitgehenden Freiheiten und politischem Pluralismus – bis in ihre Grundmauern zerstört.
Während der Revolution war Ortega der Koordinator der Revolutionsjunta und der Präsident Nicaraguas, aber er wirkte unter der demokratischen Kontrolle des Parlamentes und der Führung der FSLN. Aktuell ist er – zusammen mit seiner Frau Rosario – der alleinige diktatorische Herrscher im Lande und hat ohne die geringste demokratische Legitimation nun auch die immer noch bestehenden Reste der republikanischen Verfassung abgeschafft.
Nicaragua liegt am Boden. Die kapitalistische Vetternwirtschaft hat die Ökonomie zerstört. Die Haupteinnahmequellen sind inzwischen nur noch der Export von umweltzerstörerisch abgebautem Gold und die Rücküberweisungen von emigrierten Familienangehörigen, hauptsächlich aus den USA. Das allgegenwärtige Misstrauen und die Angst prägen aktuell die Grundstimmung im Lande. Die Gesellschaft ist zerfressen durch immer neue Unterdrückungs- und Säuberungswellen. Die organisierte Opposition – sie befindet sich vollständig außerhalb Nicaraguas – ist schwach und zersplittert. Sie wird die Diktatur nicht stürzen. Aber die inneren Widersprüche des Regimes führen zu immer absurderen Maßnahmen, die irgendwann zwangsläufig auch zu internen Zerwürfnissen und Spaltungen führen müssen. Viele sehen in der Implosion des Systems augenblicklich die wahrscheinlichste Variante seines Untergangs. Viele Menschen hoffen darauf, dass dies möglichst bald geschehen möge. Aber bei vielen steigt auch die Erwartung, dass dies tatsächlich innerhalb kürzerer Zeit passieren kann.
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Lissabon, 7. Oktober 2025 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2025 (November/Dezember 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz