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Bericht über die Weltlage

Der Bericht wurde als Einleitung der Debatte über die Weltlage auf dem 16. Weltkongress der IV. Internationale gehalten und mit einer Mehrheit von 96 % gebilligt.

Laurent Carasso

Dieser Bericht will keine Detailübersicht über die ganze Welt liefern, sondern den Schwerpunkt auf die wichtigsten Ereignisse und Aufgaben legen, die eines gemeinsamen Verständnisses bedürfen. Über die Lage vor Ort werden einzelne GenossInnen vielfach detaillierte Informationen noch beitragen.


I. Die Weltlage steht unter dem Zeichen der Krise


Erstmals in der Geschichte stehen wir vor einer globalen Krise des kapitalistischen Systems, die zugleich Wirtschaft, Gesellschaft, Ernährung, Umwelt und Menschheit betrifft. Und erstmals in der Geschichte liefert die kapitalistische Globalisierung den Hintergrund und die Erklärung dafür. Keine Region wird ausgespart, und alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren sind weltweit miteinander verwoben. Die Wirtschaftskrise ist nicht konjunkturell, sondern strukturell und systemisch. Sie ist die schwerste Krise seit 1929: Die USA haben 35 % ihres Vermögens verloren und die Eurozone 25 %.

Wenn die Regierungen vom „Ausstieg aus der Krise“ sprechen, müssen wir widersprechen. Es mag konjunkturelle Aufschwünge geben, die durch Konjunkturmaßnahmen in dem einen oder anderen Land zustande kommen, aber die Kernländer – USA und Europa – entkommen der Krise nicht. Die explodierende Staatsverschuldung in Südeuropa – Griechenland, Spanien, ... – und die Ungewissheit auf dem Banken- und Finanzsektor belegen, wie instabil die Lage ist und dass die Krise zumindest in Europa in eine neue Phase eingetreten und mitnichten zu Ende ist.

Wir haben es also nicht mit einer einfachen Krise des Konjunkturzyklus zu tun, sondern mit einer lang dauernden Strukturkrise der Produktionsverhältnisse, die durch die neoliberale Konterrevolution Ende der 70er Jahre geschaffen wurden. In den vergangenen Jahrzehnten gab es abwechselnd Phasen des Aufschwungs und der Rezession, aber die Krisen werden von Mal zu Mal tiefer, die Abstände verkürzen sich immer mehr und sie betreffen jetzt das Herz des Systems mit zunehmend höheren globalen Kosten.

Die gegenwärtige Krise zeugt von einer Vertiefung der Widersprüche und historischen Grenzen des Systems. Begonnen hat sie zwar in der Finanzsphäre, trotzdem lässt sie sich keineswegs als bloße Banken- und Finanzkrise begreifen. Vielmehr resultiert sie aus dem Zusammenspiel von Überproduktion an Waren, Überakkumulation an Kapital und Unterkonsumption.

Als sich Ende der 70er Jahre die Wachstumsphase der vergangenen drei Jahrzehnte dem Ende zu neigte, ergriffen die herrschenden Klassen die Offensive, um die Profitrate wieder herzustellen. Die Löhne wurden gesenkt, umfassende Privatisierungen vorgenommen, Massenentlassungen durchgeführt und das soziale Gefüge dereguliert. Dieser Druck auf Löhne, Arbeitsplätze und Sozialausgaben führte zu einer Senkung der Nachfrage, was wiederum einen Überhang an Produktionskapazitäten und somit ein Rentabilitätsproblem für die Industrieproduktion zur Folge hatte. Daher sanken die Investitionen, weil es rentabler war, auf den Finanzmärkten statt in der Industrie zu investieren.

Um diese zweifache Krise zu kompensieren – nämlich der Erzeugung von Mehrwert bei sinkender industrieller Rentabilität und der Realisierung dieses Mehrwerts bei abnehmendem Konsum (eine doppelte Krise, wie sie schon Ernest Mandel Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre analysiert hatte) – hat das System sich in die Flucht nach vorn begeben: Jagd nach Profiten auf den Finanzmärkten im Zuge der Finanzialisierung und private und öffentliche Verschuldung der Haushalte bzw. der Staaten.

Dies genau ist 2008 zusammengekracht – vorneweg die Banken und die Finanzmärkte. Eine der Dimensionen trifft das Banken- und Finanzsystem vermittels der Entwertung des sog. „fiktiven Kapitals“. Aber was diese Spirale unterhalten hat, ist die Logik des Kapitalismus an sich: das Profitstreben, die Jagd nach höchstmöglicher Rentabilität des investierten Kapitals, die innerkapitalistische Konkurrenz und das Privateigentum in den wirtschaftlichen Schlüsselsektoren. Diese Mechanismen haben schließlich zu einer anhaltenden Krise mit folgenden Charakteristika geführt:

In dieser Situation verstärken die Unternehmer und herrschenden Klassen ihre Angriffe auf die ArbeiterInnen und Völker. Die Krise ist zugleich der Augenblick für eine neue Kapitaloffensive:

Griechenland und Spanien sind quasi die Pilotprojekte, die einer Welle austeritätspolitischer Maßnahmen in ganz Europa vorangehen. Zum Ausgleich der Schulden und Defizite fordern die herrschenden Klassen, die Finanzmärkte und die EZB die Zerschlagung der öffentlichen Dienste und die Reduzierung der Beamtenzahlen, der Löhne und der sozialen Sicherung. In Griechenland benutzt die Regierung das „Schreckensbild“ der Verschuldung als Vorwand, um den Sozialabbau durchzusetzen und die umfassenden öffentlichen Dienste und staatlichen Sektoren zu schleifen.

Es wäre noch untertrieben zu sagen, dass nach kurzer Aufregung und ideologischem Flügelschlagen über die „Rückkehr des Staates“ – als wäre dieser jemals verschwunden! – und die „Zähmung der Finanzmärkte und des Kapitalismus“, die neoliberale Politik wieder im Aufwind ist.

Jede Diskussion über die Option einer „keynesianischen Wende“ erübrigt sich damit. Hierbei geht es auch nicht um die Wiederaufnahme einer zurückliegenden Debatte sondern um das Verständnis der Bewegungsgesetze der Krise. Im Unterschied zu 1929 gab es massive Staatsinterventionen zur Eindämmung der Krise – einen neoliberalen Etatismus. Aber diesmal sind – anders als in der Zeit nach 1945 – weder die sozialen Kräfteverhältnisse noch die Optionen der Herrschenden so geartet, dass von staatlicher Seite neue wirtschaftliche oder sozialpolitische Impulse in Form von Konjunkturprogrammen oder der Schaffung neuer Produktionssektoren und umfassender Arbeitsplätze zu erwarten wären. Auf absehbare Zeit wird es nicht zu einer vergleichbaren Neuauflage einer massenhaften Produktions- und Konsumptionsankurbelung und der Etablierung entsprechender gesellschaftspolitischer Verhältnisse kommen wie damals.


II. Klimakatastrophe


Die zu erwartende Zuspitzung der Umweltkrise wird vor diesem Hintergrund erfolgen. Das Scheitern der Konferenz von Kopenhagen spricht Bände. Wir konnten davon ausgehen, dass der Kapitalismus nicht dazu in der Lage sein wird, die Umweltkrise zu bewältigen. Dort, wo man in Kategorien wie „soziale Bedürfnisse“ denken muss, denkt der Kapitalismus an Profit. Wo es um Koordination, Planung und langfristige Entscheidungen ginge, kennt der Kapitalismus bloß „die kapitalistische Konkurrenz und das Privateigentum“. Die Lektion von Kopenhagen lautet, dass sich das kapitalistische System nicht in einen „grünen Kapitalismus“ umwandeln kann. Es kann nur einen in der Wolle grün gefärbten aber keinen grünen Kapitalismus geben …

Die Staaten und Regierungen wollen weder noch können sie sich auf die dringend gebotenen Zielvorgaben zur Reduktion der Treibhausgase festlegen. Die Vorgaben des Klimarates werden einfach ignoriert. Vorrang haben die kapitalistischen Interessen, nämlich neue Märkte – namentlich im Emissionshandel – zu schaffen, und nicht die umweltgerechte Reorganisation der Energieversorgung, des Städtebaus und des Transportsektors. Der „grüne Kapitalismus“ kommt nicht daher wie der „New Deal“ der Jahre 2010. Unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz, die eine adäquate Antwort auf die Umweltkrise verhindern, wird das „green business“ kaum mehr als 2 % aller Arbeitsplätze hervorbringen. Wir können nicht mit einer Massenproduktion und -konsumption unter ökologischem Vorzeichen rechnen, einem wirtschaftlichen Aufschwung durch einen grünen Kapitalismus, selbst wenn die Regierungen und Großkonzerne die Umweltfrage zum Vorwand nehmen, um Atomkraftwerke durchzusetzen oder die Vertreibung indigener Völker aus ganzen Regionen Asiens oder Lateinamerikas zu rechtfertigen.


III. Die Welt gerät aus den Fugen


Eine der Besonderheiten der gegenwärtigen Krise liegt darin, dass die Welt zugleich im Zuge der kapitalistischen Globalisierung in ihren Grundfesten erschüttert wird. Dieser Prozess ist weder abgeschlossen noch irreversibel, aber die Gravitationszentren des Weltgeschehens verschieben sich.

Die USA erleben einen „relativen Niedergang“.

„Niedergang“ insofern, als der Anteil der US-Wirtschaft an der Weltwirtschaft abnimmt. Wie Europa durchleben sie einen Deindustrialisierungsprozess. Ihre Schulden erreichen ein schwindelerregendes Ausmaß. Ihre Stellung in der Welt ist angeschlagen, v. a. wegen ihrer Intervention in Afghanistan und Irak, die in einer Sackgasse steckt. Für die herrschenden Klassen war Obama die Option, weil sie eben wieder das Heft des Handelns in die Hand bekommen wollten. Aber die Probleme, auf die sie in Afghanistan und Irak gestoßen sind, und die zwangsläufige Anerkennung bestimmter Formen des Multilateralismus zeigen die Grenzen ihrer Politik. Die amerikanische Hegemonie der Jahre 1980 bis 2000 ist unverkennbar angeschlagen, und Obama kann das Ruder nicht herumreißen.

Zugleich ist der Niedergang „relativ“, da die USA weiterhin die stärkste Weltmacht bleiben. Der amerikanische Markt ist riesig und der Dollar bleibt – mit Unterstützung der Anleihen aus China und Japan – Referenzwährung. Vor allem jedoch steht ihre militärische Vormacht außer jedem Zweifel.

In dieser Situation des wirtschaftlichen Abstiegs sind die militärischen Interventionen und die geostrategischen Kontrollbestrebungen über Territorien, natürliche Ressourcen und Rohstoffe wie das Erdöl von größter Bedeutung. Der Nahe Osten, Kleinasien und Lateinamerika stehen hierbei im Vordergrund. Die militärischen Interventionen in Afghanistan, Honduras und Haiti illustrieren diese militärische Aggressivität der USA. Zudem ist dies ein Mittel, um die anderen imperialistischen Mächte – besonders über die Einbindung in die Nato – hinter sich zu bringen. Diese Zonen, in denen sich die politischen und militärischen Auseinandersetzungen mit dem US-Imperialismus vollziehen, müssen wir besonders im Auge behalten.

Insofern ist für unsere Bewegung das Engagement gegen den Krieg von aktueller Bedeutung und es bedarf einer einheitlichen Mobilisierung für den Rückzug der US-Truppen aus diesen Ländern und die Verteidigung deren Souveränität und demokratischen Freiheiten. Der israelische Staat dient unter dem Schutzschild der USA als Transmissionsriemen dieser aggressiven Kriegspolitik: Innerhalb von drei Jahren wurden zwei Angriffskriege auf den Libanon und den Gazastreifen mit mehr als 2000 Toten geführt und aktuell werden erneute Drohungen gegen Libanon laut. Diese Kriege sind Teil des weltweiten sog. „Krieges gegen den Terrorismus“ und erfordern unsere anhaltende Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volkes und der Anerkennung ihrer legitimen Rechte. In Ländern wie Irak, Palästina und Afghanistan verbinden wir die Forderung nach Truppenrückzug als Hauptaufgabe mit der Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte und der gleichzeitigen Bekämpfung der Dominanz der fundamentalistischen islamischen Strömungen. Für den Iran gilt, dass wir gegen jede Drohung der imperialistischen Mächte gegen das Land eintreten, gerade jetzt, wo in Europa die gleiche Medienkampagne wie vor der Invasion des Irak inszeniert wird. Zugleich unterstützen wir die Massenbewegungen gegen das Regime von Ahmadinedschad und ihren Kampf für Demokratie.

Eines der Schlüsselprobleme der Weltlage betrifft jedoch die neuen Beziehungen, die sich zwischen China, Indien, den USA und der restlichen Welt entwickeln. Während in den USA und Europa das Wirtschaftswachstum um 1–2 % liegt, erreicht China inzwischen wieder eine Rate von 10 % und ringt mit Japan um die Position der zweitstärksten Wirtschaftsmacht und größten Exportnation der Welt. Chinesische Konzerne konkurrieren mit multinationalen Konzernen in Schlüsselsektoren wie Raumfahrt und Transportwesen. Millionen Hektar Land in Lateinamerika und Asien werden von chinesischen Unternehmen und dem chinesischen Staat ausgebeutet. China ist somit zu einer wirtschaftlichen Weltmacht geworden.

Als „Werkbank der Welt“ richtet die chinesische Wirtschaft ihr Wachstum auf den Export aus. Zugleich jedoch vollziehen sich ein massiver und rascher Industrialisierungsprozess und eine Ausweitung des Binnenmarktes mit beträchtlichen Wachstumsraten in den vergangenen Jahren. Auf der anderen Seite leidet das Land unter Strukturproblemen: der starken Exportabhängigkeit, der riesigen Spekulationsblase, dem begrenzten Binnenmarkt, der überharten Ausbeutung der Arbeiter, der hundertmillionenfachen Armut der Bauern und dem fehlenden sozialen Sicherungssystem. Zudem lasten Bürokratie und Korruption schwer auf der wirtschaftlichen Entwicklung. Die relative Schwäche des Militärapparats im Vergleich zu den USA ist ein weiteres Moment. Mit den USA verbindet China ein wechselseitiges Spannungsverhältnis, was sich am Beispiel der Währungsparität nachvollziehen lässt.

Das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Ländern ist im Fluss begriffen: die chinesische Wirtschaft ist mittlerweile zum Zugpferd des Weltwirtschaftswachstums und somit zu einer fundamentalen Größe geworden. Trotzdem kann sie nicht die Krise beheben, indem sie bspw. Produktion und Konsumausgaben massiv ausweitet. Und ebenso wenig kann China die USA einfach ersetzen.


IV. Lateinamerika – eine Schlüsselregion im Konflikt mit dem US-Imperialismus


Die weltweite Krise trifft auch Lateinamerika, wenn auch unterschiedlich stark, da manche Länder auch einen Aufschwung erleben, und mit spezifischen Charakteristika, die auf der Ebene der Umweltkrise und in den Wechselbeziehungen von sozialen, nationalen und ethnischen Kämpfen als „Zivilisationskrise“ zum Ausdruck kommen.

Lateinamerika ist nach wie vor eine der Schlüsselregionen der politischen und sozialen Konfrontation mit dem US-Imperialismus. Drei Aspekte, die unterschiedliche Entwicklungsstränge darstellen, bedürfen besonderer Beachtung:

Aber jenseits dieser politischen Klassifikation gilt für Lateinamerika, dass die sozialen Kämpfe der Bevölkerung in zunehmenden Konflikt mit dem Imperialismus geraten und sich die sozialen und politischen Spannungen immer weiter zuspitzen. Immerhin war dieser Kontinent in der jüngsten Vergangenheit Schauplatz der meisten sozialen Widerstandsbewegungen und revolutionären Erfahrungen. Durch die ungleiche und kombinierte Entwicklung vor Ort können Bedingungen entstehen, unter denen Arbeiter, Bauern und indigene Bevölkerung sich zusammenschließen, um für ihre Grundrechte zu kämpfen oder Antikapitalismus und radikalen oder revolutionären Nationalismus im antiimperialistischen Kampf zu einen.


V. Asien – ein buntes Bild


Der Zerfall der UdSSR hat in Asien besonders tiefe Spuren hinterlassen, da die Bündniskonstellationen aus der Zeit des Kalten Krieges durcheinander geraten sind. Nicht nur Peking meldet seine Ansprüche an, auch Neu Delhi reklamiert seine wachsende militärische und politische Bedeutung in der Region von Sri Lanka bis Afghanistan und untergräbt damit die Stabilität in Pakistan noch weiter. Die ganze Region ist geopolitisch instabil geworden, was militaristisch-nationalistischen Tendenzen wie in Japan Vorschub leistet und ethnische Konflikte sowie religiösen Fundamentalismus befördert. Das Kräfteverhältnis zwischen den regionalen und internationalen Mächten (USA, Japan, China, Indien, …) ist im Fluss begriffen. Ein neuer Krisenbogen spannt sich von der koreanischen Halbinsel über Mindanao und Sri Lanka bis nach Afghanistan und Mittelasien mit neuen potentiellen Krisenherden, zumal einige der betroffenen Länder Atomwaffen besitzen (USA, China, Indien, Pakistan, Nordkorea in bestimmtem Umfang und bald vielleicht auch Japan). Vor diesem Hintergrund sind die USA bestrebt, ihre Militärbasen von Diego Garcia bis Okinawa auszubauen und ihre Anwesenheit vor Ort und Interventionsmöglichkeiten zu verstärken – bspw. auf den Philippinen und besonders in Mindanao.

Im Großen und Ganzen hat Asien die gegenwärtige Wirtschaftskrise besser überstanden als andere Regionen und im Schnitt höhere Wachstumsraten erzielt. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass es große Unterschiede zwischen den Ländern und zunehmende soziale Spannungen gibt, die aus dem wachsenden Reichtum der Kapitalisten und Teilen der Mittelschicht bei gleichzeitig verschärfter Ausbeutung von Millionen von Arbeitern und Bauern resultieren. Seit der Finanzkrise von 1997 musste die einfache Bevölkerung etliche Angriffe auf ihre sozialen Rechte und Umweltbedingungen hinnehmen, die sich seither deutlich verschlechtert haben. Und in einigen Ländern wie Thailand oder den Philippinen gibt es heftige institutionelle und soziale Krisen.

Die Fähigkeit der Bevölkerung zu Widerstand und Gegenwehr ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. In manchen Ländern entwickelt sich die Linke trotz schlechter Ausgangsbedingungen momentan erfreulich gut (Pakistan, Malaysia). In anderen Ländern wie Indien oder den Philippinen ist sie zwar stärker, aber weiterhin gespalten. Andernorts wie in Indonesien hat sie ihre Zerschlagung noch immer nicht überwunden oder muss – wie in China oder Thailand – eine politische und gewerkschaftliche Bewegung auf Grundlage der Klassenunabhängigkeit erst wieder aufgebaut werden. Ungeachtet der unterschiedlichen Bedingungen wurden die Beziehungen zwischen politischen und sozialen Bewegungen und Basisinitiativen in der Region erheblich ausgebaut. Dies betrifft Solidaritätsaufrufe, den Kampf gegen Krieg und Imperialismus, den Widerstand der Arbeiter und Bauern gegen die neoliberale Politik, die Aufrufe zur Annullierung der Schulden und der Wahrung der Ernährungssouveränität oder Kämpfe für soziale Forderungen, demokratische Rechte und Umweltschutz … Der Ausbau dieser regionalen Vernetzung und ihre Integration in weltweite Bewegungen dienen als Ansatzpunkt in kommenden Kämpfen.


VI. Afrika – die zunehmende Verwüstung eines ganzen Kontinent


Afrika bietet das Bild eines von der kapitalistischen Globalisierung und den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verwüsteten Kontinents. Klima- und Ernährungskrise machen sich hier besonders schlimm bemerkbar. Nach jahrzehntelanger Strukturanpassungspolitik mit Privatisierung der staatlichen Wirtschaftssektoren, Liberalisierung der Märkte, einseitiger Exportausrichtung und Bedienung der Staatsschulden, die vermittels der internationalen Institutionen wie IWF und WHO durch den Imperialismus auferlegt worden war, ist Afrika weiterhin abhängig vom Export von Primärerzeugnissen aus Land-, Energie- und Mineralwirtschaft in die Metropolen. Insofern ist es durch die sinkende Nachfrage auf diesen Sektoren hart betroffen. Ungeachtet der starken Nachfrage aus China sind die Zuwächse von 9 % in 2007 über 5,1 % in 2008 auf 1 % in 2009 gefallen.

Neben diesem Verfall des Wirtschaftswachstums wird der Kontinent durch die dort besonders schwere Ernährungskrise infolge der steigenden Lebensmittelpreise betroffen. Die einfache Bevölkerung dort partizipiert nicht an den Erträgen, die das imperialistische Kapital und die lokale Bourgeoisie einheimsen. Stattdessen wird ihre Lage immer schlimmer: die Reallöhne sinken, der Zugang zu fruchtbarem Land wird immer schwerer, neokoloniale Kriege, die als ethnisch oder konfessionell deklariert werden, fordern Tausende von Opfern, die Jugend leidet unter Arbeitslosigkeit, Frauen werden vergewaltigt und Naturkatastrophen infolge des Klimawandels grassieren. Gegen die gewaltsamen Folgen dieser Neoliberalisierung finden zunehmend Mobilisierungen in einigen Ländern statt. Die Kämpfe des politischen und sozialen Alltags richten sich gegen die Teuerung, für freien Zugang zu Trinkwasser, Energieversorgung und Gesundheitsfürsorge und für das Recht auf Bildung. Dieser Prozess bedarf dringend eines gemeinsamen Vorgehens aller Kader und Organisationen, die für eine sozialistische Alternative eintreten – jenseits aller althergebrachten Differenzen.

Im Maghreb haben in den vergangenen Jahren die sozialen Auseinandersetzungen erheblich zugenommen, was besonders der diesen Ländern von der EU zugedachten Rolle als Hinterhof zuzuschreiben ist.


VII. Europa – die Achillesferse des Imperialismus


Durch die Krise ist die EU geschwächt. Die strukturelle Unfähigkeit, Europa zu regieren, ist dadurch zutage getreten: die Schwäche des gesamteuropäischen Haushalts (unter 1 % des BIP), die fehlende Industrie- und Sozialpolitik, keinerlei Schuldenagentur … Die auseinander driftende Dynamik macht sich voll bemerkbar, da die einzelnen Länder einen unterschiedlichen Stellenwert in der Weltwirtschaft und internationalen Arbeitsteilung innehaben. England ist Finanzplatz, Deutschland hat seinen Maschinenbau und Frankreich seinen Schwerpunkt in staatlich gestützten Industriezweigen wie der Atomwirtschaft, der Rüstungsindustrie, der Luftfahrtindustrie und dem Transportwesen. Die Konzerne sind somit weit davon entfernt, sich zu europäischen Konsortien im Rahmen eines europäischen Kapitalismus zusammen zu schließen und lassen ihr Kapital und technisches Know-how lieber mit anderen Multis wetteifern, was die zwischenstaatliche Konkurrenz weiter anheizt. Die Schuldenexplosion hat Europa besonders getroffen, wie die Krise in Griechenland und die schwächelnden Länder Spanien und Portugal zeigen. Auch die osteuropäischen Länder stecken tief in der Krise, was die ungleiche Entwicklung, das Defizit und die Abhängigkeit besonders von Deutschland in dieser Region weiter befördert.

Um diese Schwäche in einem immer härteren weltweiten Wettbewerb auszugleichen, muss die europäische Bourgeoisie die Überbleibsel des „europäischen Sozialstaats“ zerschlagen. Daher werden die demokratischen Freiheiten und besonders die Rechte der Immigranten ins Visier genommen. Diese Vorstöße führen indes nicht zwangsläufig dazu, dass sich in der Gesellschaft Widerstand entwickelt oder die Arbeiter- oder antikapitalistische Bewegung wächst. Es gibt gesellschaftlichen Widerstand, aber keinen angemessenen. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts war die Reaktion in Gesellschaft und Politik auf die Krise zeitverzögert. Insofern könnten wir sagen: „Abwarten“, aber bis heute gibt es noch immer keine sozialen Auseinandersetzungen auf allgemeiner Ebene.

Auch auf der Rechten schafft die Wirtschaftskrise Probleme für die politische Repräsentanz der herrschenden Klassen. Auch den klassisch bürgerlichen Parteien bricht die soziale Basis weg, innere Spannungen und Widersprüche kochen hoch und populistische und faschistische Parteien bekommen Auftrieb. Die klassische Rechte ist durch die Krise geschwächt worden.

Genau so hat sie aber die traditionelle Linke geschwächt, die keine grundlegend andere Politik gegenüber der Krise vertritt als die Rechte. Die Krise hat die sozialdemokratischen Parteien nicht nach links getrieben sondern den neoliberalen Anpassungsprozess weiter vertieft. Die Sozialdemokratie behält soziale und politische Bezüge zu Geschichte und Alltag der Arbeiterbewegung aufrecht, aber sie erlebt eine immer stärkere Integration in die höchsten Stellen und Institutionen von Staat und Kapitalismus. Es mag hier und da ein paar taktische Positionen und „Links“wendungen geben, aber mehr denn je sieht sich die Sozialdemokratie als Krisenmanagerin im Dienste der Kapitalisten. Der gleiche Prozess vollzieht sich auch auf gewerkschaftlicher Ebene, besonders innerhalb des EGB. Dies führt zu einer Schwächung der Sozialdemokratie, wie die Europawahlen 2009 in Deutschland, Portugal und Frankreich gezeigt haben. Wahrscheinlich wird das Wählerpendel auch wieder zu ihren Gunsten ausschlagen, dennoch durchlebt sie eine organische Schwächung und neoliberale Mutation, die durch die Krise noch forciert wird.

In Osteuropa hat sich die Arbeiterbewegung von den zerstörerischen Folgen des Stalinismus noch nicht wieder erholt. Die kapitalistische Restauration in diesen Ländern hat die Lebensbedingungen von Millionen Menschen verschlechtert. In ihrer Rolle als Subunternehmer und Fertigungsdienstleister europäischer Großkonzerne wurden sie von der Krise 2008 voll erwischt. Hier und da entstehen neue Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die von den alten, aus dem Stalinismus hervorgegangenen Apparaten unabhängig sind, aber dies steckt noch in den Anfängen. Dies gilt auch für die kleinen antikapitalistischen Gruppen und Organisationen.

Insofern beruhen die Spielräume der herrschenden Klassen nicht auf der Stärke der rechten Parteien, sondern auf der Schwäche der Linken und ihrer politischen Unterstützung der kapitalistischen Regime.

Diese Sichtweise führt uns auch zu einer nüchternen Einschätzung der laufenden Reorganisationsprozesse der Arbeiterbewegung. Diese zweifache Führungskrise – auf der Rechten wie auf der Linken – öffnet Spielräume für neue linke politische Formationen. Aber diese Spielräume ergeben sich eher aus einer Rechtsentwicklung der alten, traditionellen politischen Formationen der Linken als aus einem neuen Aufschwung des Klassenkampfes. Insofern müssen wir zwar die Gelegenheiten nutzen, zugleich aber begreifen, dass innerhalb dieser Spielräume eine politische Auseinandersetzung zwischen radikalen Antikapitalisten und Linksreformisten, Poststalinisten und linken Grünen erforderlich ist. Daher rührt die Bedeutung unseres eigenen Auftretens und unserer (spezifischen) politischen Argumentation.


VIII. Antikapitalistische und ökosozialistische Alternativen


Wir müssen also einen politischen Kampf für antikapitalistische und ökosozialistische Alternativen führen.

  1. Entlang eines Katalogs von Sofortforderungen mit antikapitalistischer Stoßrichtung: keine Entlassungen, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen, Verteidigung und (kreativer) Ausbau des öffentlichen Dienstes und der sozialen Sicherungssysteme und des Erziehungs- und Bildungswesens. Nie zuvor war die Arbeiterklasse weltweit so zahlreich, zugleich aber politisch und sozial zersplittert und gespalten. Der Kampf gegen die Krise muss daher entlang grundlegender Forderungen reorganisiert werden durch eine Politik der Aktionseinheit und Einheitsfront zwischen den gewerkschaftlichen Organisationen und den sozialen Bewegungen.

  2. Wir müssen durchsetzen, dass der Reichtum aufgeteilt wird, und somit die Profitlogik infrage stellen. Auf diesem Wege holen wir uns den Teil des Mehrwerts wieder, den das Kapital in den letzten Jahrzehnten den Lohnabhängigen genommen hat, verschaffen den sozialen Bedürfnissen – Arbeitsplätze, Gesundheit, Bildung und Erziehung, angemessenes Einkommen, Freizeit – wieder vorrangigen Stellenwert und stellen das kapitalistische Privateigentum schrittweise infrage. Die Finanzierung dieser sozialen Bedürfnisse aus den Haushaltsmitteln stellt sich also in bewusstem Gegensatz zu der vom Imperialismus erzwungenen Politik der Strukturanpassung und setzt eine entsprechende Besteuerung des Kapitals und eine Vergesellschaftung des Bankensektors unter Arbeiterkontrolle voraus. In der jüngeren Vergangenheit wurden bspw. in Argentinien und Venezuela von der Krise betroffene Unternehmen unter Arbeiterkontrolle gestellt, die Produktion wieder aufgenommen und weitergeführt. Solche Erfahrungen müssen zum Allgemeingut werden. Ebenso ist die kollektive Aneignung der natürlichen Ressourcen für Asien, Lateinamerika und Afrika ein grundlegendes Muss.

    Ein solches antikapitalistisches Programm ist zugleich ökosozialistisch. Angesichts des Klimawandels brauchen wir eine andere Politik, die hinsichtlich Städtebau, Verkehrswesen, Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Ressourcen und Umgestaltung ganzer Wirtschaftszweige neue Wege geht. Eine solche mittel- und langfristige Orientierung ist nicht mit Profitstreben und kapitalistischer Konkurrenz vereinbar. Vielmehr erfordert sie demokratische Diskussionen und Entscheidungen im Rahmen einer koordinierten und unter Kontrolle der Lohnabhängigen und der Bevölkerung kontrollierten Wirtschaft, in der auch die Eigentumsfrage an den Produktionsmitteln gestellt wird und die Produktionsziele entlang der sozialen Bedürfnisse festegelegt werden. Diese Dynamik steckt auch in den Mobilisierungen der indigenen Völker, und in diesem Zusammenhang sind Demokratie und Kontrolle durch die Bevölkerung zentrale Themen.

  3. Für uns ist klar, dass sich angesichts der Krise, die ja eine Kombination aus Wirtschafts- und Umweltkrise darstellt, unsere Antworten nicht darauf beschränken können, die Nachfrage zu erhöhen und die Funktionsweise der Finanzmärkte zu reformieren, kurzum ein keynesianistisches Programm aufzulegen. Es bedarf vielmehr einer kompletten Umgestaltung.

  4. Letztlich müssen diese programmatischen Fixpunkte als Aufgaben einer Arbeiterregierung gesehen werden. Zwar stellt sich diese Frage nicht in allen Ländern, aber dort, wo dies der Fall ist, ist die Verteidigung eines solchen Programms unvereinbar mit der Unterstützung oder Beteiligung an Regierungen, die sich als Sachwalter der kapitalistischen Wirtschaft und deren Institutionen verstehen. Dies ist eine Grundsatzfrage von strategischer Bedeutung. In den neokolonial beherrschten Ländern müssen die Forderungen nach nationaler und ethnischer Souveränität und einer Verfassunggebenden Versammlung mit der Forderung nach einer antikapitalistischen Regierung des Volkes kombiniert werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Krise „die historischen Grenzen des Systems“ aufzeigt. Wir müssen daher über das Auf und Ab der Kämpfe hinaus auf den vielfachen Konsequenzen aus der politischen und ideologischen Krise des Systems aufbauen, um antikapitalistische Kräfte voran zu bringen.

      
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Damit soll keiner Endzeitstimmung das Wort geredet werden. Der Kapitalismus kennt keine ausweglosen Situationen. Auch mit der Krise kann das System überleben und funktionieren. Doch der soziale, ökologische und menschliche Tribut wird zunehmend größer. Darauf müssen wir abzielen: die strukturelle Unfähigkeit des Kapitalismus, die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Unvermögen macht eine Änderung des sozialen und ökonomischen Systems und einen Bruch mit dem Kapitalismus so dringlich.

Diese Debatte, die die sozialistischen Perspektiven wiederbelebt, ist ungeheuer wichtig. Es kann keine Lösung ohne den Sturz des kapitalistischen Systems, das auf Unterdrückung und Ausbeutung basiert, und ohne eine kollektive Aneignung der Produktionsmittel geben. Eine entsprechende Bewegung wird jedoch nicht allein durch die inneren Widersprüche des Systems erzeugt: Um das System zu stürzen, bedarf es einer außergewöhnlichen sozialen und revolutionären Mobilisierung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene und v. a. einer glaubwürdigen Alternative auf Ebene des Bewusstseins, der Organisation und der Führung. Dies ist die historische und praktische Aufgabe, die wir erfüllen und in die wir uns in vollem Umfang einbringen müssen.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010).