Israel

Der nationale Konsens ist zerbrochen

Am 16. Februar wurde unser Genosse und führendes Mitglied der LCR-Matzpen, Michael Warschawski, in Jerusalem zusammen mit fünf anderen Mitarbeitern der von ihm herausgegebenen Zeitung News from Within verhaftet. Warschawski und seine Genossen sind angeklagt, „im Dienst einer terroristischen Organisation zu stehen". Unter dem Druck einer internationalen Solidaritätskampagne wurde Warschawski wieder auf freien Fuß gesetzt und wartet nun auf seinen Prozess.
Warschawski und seine Genossen sind seit langem aktive Anti-Zionisten und haben sich beteiligt an der Bewegung gegen die militärischen Aggressionen Israels und gegen den zunehmenden anti-arabischen Rassismus in Israel. Im nachfolgenden Beitrag legt Warschawski die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Situation in Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 dar, wie er sie selbst miterlebt und wie sie seine politische Entwicklung geprägt hat.

Michael Warschawski

Vor zwanzig Jahren hat sich Israel auf den Krieg vorbereitet. In der Talmud-Schule, die ich besuche, verstehen sich die Studenten als Zionisten und gehen freiwillig zum Militär; sogar der Tag der Unabhängigkeit wird gefeiert. Im Mai 1967 hat noch keiner daran gezweifelt, daß Israel mit dem Rücken zur Wand seht und gegen seinen Willen zum Krieg gezwungen wird; daß der jüdische Staat und seine Bevölkerung wirklich von der Ausrottung bedroht sind. Wie alle, die nicht eingezogen wurden, melde ich mich freiwillig, erst in einem Blindenheim, später in einem religiösen Kibbuz an der Front, zwei Kilometer vom Kloster Latrum entfernt. Wir stehen allein gegen die ganze Welt, die unsere Vernichtung will.

Ich wurde in einer jüdisch-orthodoxen Familie in Frankreich erzogen und der Zionismus und der israelische Staat hatten für mich nur eine zweitrangige Bedeutung. Doch in jenem Monat Mai 1967 fühle ich mich zum ersten und zum letztenmal vollständig mit dem Volk Israel verbunden, seinen Ängsten, seinen Hoffnungen und seinem Freudenausbruch nach dem Sieg im Juni 1967.

Das war ein Fest: die „befreien Gebiete“ wurden im Siegesrausch eingenommen, man stolzierte auf dem Markt von Hebron umher, küsste das Grabmal der Rachel in Bethlehem, ergriff Besitz von den herrlichen Golanhöhen. Wir hatten kurz davor gestanden, vernichtet zu werden, uns war jetzt alles erlaubt. Die anderen, die Araber, gab es nicht, sie waren höchstens ein malerisches Attribut in den besetzten Gebieten, denen man einen Teppich abkaufte. Als mich ein Freund aus Frankreich fragte: „Und was soll aus der arabischen Bevölkerung werden?“, verstand ich die Frage nicht. Gab es da ein Problem?

Die Haltung dominierte bis zum Yom-Kippur-Krieg 1973 …


„Wach auf!"


Den ersten Mißklang in dieser nationalistischen Euphorie erlebte ich im Herbst 1967 an der Hebräischen Universität. Jugendliche, die ein bißchen wie Hippies aussahen, drückten mir ein Flugblatt in die Hand, in dem sie die Vertreibung von Hunderttausenden von Palästinensern verurteilten. Es waren Mitglieder der Matzpen, der Israelischen Sozialistischen Organisation. „Wach auf“, sagte Moshe Machover, einer der Gründer der Gruppe, zu mir, „wie lange wollen wir noch die palästinensische Frage ignorieren? Wie lange können wir uns noch gegen die arabische Welt stellen, die uns umgibt?“

„Tausend Jahre", sagte Moshe Dayan zwei Jahre später in einer berühmt gewordenen Rede. Es waren nicht mehr als ein paar Dutzend Genossinnen und Genossen der Matzpen, die 1968 nicht an dieses „Tausendjährige Reich“ glauben wollten. Ich schloß mich der Matzpen an, nachdem ich zwei Erfahrungen gemacht hatte: das direkte Erlebnis der israelischen Besatzung und der Repression in der israelischen Armee und während des mehrmonatigen Ausnahmezustands in Beit Sahur, und die Verhaftung eines arabischen Studenten, der der Matzpen angehörte, Halil Tuame, weil er Kontakt zu einem palästinensischen Studentenführer hatte. In beiden Fällen war das für mich eine Gewissensfrage, war meine Haltung moralisch bestimmt. Erst später begann ich zu begreifen, daß diese Frage auch langfristig für meine Zukunft, die meiner Kinder, der israelischen Bevölkerung insgesamt eine Rolle spielte.


Gegen den Strom schwimmen


Für jemanden, der das nicht mit eigenen Augen erlebt hat, ist es schwer sich vorzustellen, was es bedeutete, in der Zeit vor dem Krieg von 1973 gegen die israelische Besatzung zu sein. Es war nicht einmal so sehr die offizielle Repression – obwohl es laufend vorkam, daß man 48 Stunden festgenommen wurde, wenn man ein Flugblatt verteilte und daß die Veröffentlichung einer Zeitung in arabischer Sprache untersagt wurde -, sondern vielmehr die vollständige Isolierung von der jüdischen Bevölkerung, unter der wir litten. Der Strom, gegen den wir schwammen, war ein reißender Sturzbach nach der Schneeschmelze: selbst die liberale Linke von vor 1967 – ich würde sogar sagen, vor allem die liberale Linke – lehnte jeden politischen und persönlichen Kontakt mit uns ab, wir wurden in der Presse als „fünfte Kolonne“ denunziert. Uri Avneri, Amos Keinan, Moshe Sneh, und wie sie alle hießen, hetzten in vorderster Front den Pöbel auf uns, sich dieser Verräter zu entledigen, und forderten von den Behörden drastische Maßnahmen gegen alle, die den Namen Israels in den Schmutz zögen. Matzpen war an allem schuld: am Streik Hafenarbeiter von Ashdod ebenso wie an den Anschlägen auf die Raffinerien in Haifa. Doch Im Ausland erlangte unsere Bewegung ungeahnte Popularität: sie war die einzige, die sich der Besatzung und den Verbrechen in den besetzten Gebieten entgegenstellte, mit verschwindend geringen Kräften, aber unüberhörbar, während alle anderen schwiegen. Die linken Palästinenserorganisationen fingen an, sich für uns zu interessieren. Naef Hawatmeh, der Vorsitzende der Demokratischen Front (PDFLP), ergriff die Initiative zu einem Dialog mit der Matzpen.

Matzpen war nicht nur politisch, auch sozial isoliert. Eine Arbeit zu finden, war ein Lotteriespiel; außerhalb des engen Kreises von Antizionisten hatte man kaum Freunde. Oft genug mußte man sogar die Brücken zur eigenen Familie abbrechen.

Doch mit der Zeit hat die systematische und kompromißlose Anklage gegen die Besatzung und das Eintreten für das Existenzrecht des palästinensischen Volkes seine Unterstützung im nationalen Befreiungskampf und die radikale Kritik der zionistischen Politik Früchte getragen. Das ist vor allem dem spektakulären Aufschwung des palästinensischen Widerstands zu verdanken, der die palästinensische und die jüdische Frage im Nahen Osten und international wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Matzpen war nur ein Katalysator für diese Debatte in der israelischen Gesellschaft und in den fortschrittlichen Kreisen Europas und Amerikas. Neue Oppositionsbewegungen entstanden, zum Teil unter dem Einfluß der Ereignisse in Europa 1968-69; mehrere Dutzend Schüler führten in einem Offenen Brief Klage gegen die damalige Ministerpräsidentin Golda Meir, weil sie dem Vorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldman, verboten hatte, den ägyptischen Präsidenten Nasser zu treffen. Dies waren die ersten Zeichen für ein Echo des Kampfs der Palästinenser in der israelischen Gesellschaft. Es bedurfte eines schweren Schocks, bis er auch die Massen ergriff.


Ohne die amerikanische Luftbrücke wäre die zionistische Armee geschlagen worden


Mit dem Zusammenbruch der Bar-Lev-Linie [1] im Oktober 1973 fand der Traum, in dem die israelische Gesellschaft und ihre Führer seit 1967 lebten, ein jähes Ende. Die Militärmacht des jüdischen Staates bildete keine Garantie mehr für die Sicherheit seiner Bewohner. Plötzlich wurde allen klar, daß ohne die amerikanische Luftbrücke die ägyptische und die syrische Armee die zionistische Armee geschlagen hätten. Im Oktober 1973 ist Israel um die Katastrophe noch einmal herumgekommen, doch für die Zukunft gab es keine Garantie. Israel wurde wieder auf seine realen Dimensionen zurechtgestutzt und an die Stelle der irrationalen Euphorie der letzten sechs Jahre trat eine Haltung, die die Selbstverständlichkeiten von gestern hinterfragte. Die israelische Gesellschaft geriet in die Krise, der nationale Konsens zerbrach. Tausende demonstrierten gegen die Politik Goldas Meirs und forderten eine radikale Neubestimmung der politischen und moralischen Werte des israelischen Staates. Dennoch breitete sich die Schockwelle hauptsächlich unterirdisch aus: es mangelte noch an einer für breite Teile der Bevölkerung akzeptablen Alternative Die lieferte Sadat 1977. Zuvor aber stürzte noch das letzte Opfer des Yom-Kippur-Kriegs: die Regierung der Arbeitspartei, die seit der Gründung des Staates Israel am Ruder gewesen war.

In der Bevölkerung war die Euphorie der Skepsis gewichen. Mit den imperialen Illusionen wurden nun auch eine ganze Reihe von grundlegenden Werten der zionistischen Gesellschaft infragegestellt, vor allem die Vertrauensseligkeit in die politische Führung und die Argumente, mit denen sie die Bevölkerung immer wieder in Sicherheit zu wiegen suchte. Viele wanderten aus und es griff eine Stimmung um sich „Ein jeder ist sich selbst der Nächste“; „Laßt uns leben, wer weiß was der morgige Tag bringt“.

Der Kontrast zur Entwicklung, die derweil die palästinensische Bevölkerung in Israel und in den besetzten Gebieten durchmachte, hätte nicht größer sein können. Der politische und militärische Sieg stärkte die Autorität der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation; sie wurde zur unumstrittenen Führerin der Palästinenser, die mit ihren diplomatischen Erfolgen und ihren militärischen Initiativen der nationalen Bewegung in den besetzten Gebieten den Rücken stärkte. Für die radikale Linke in Israel eröffnete sich damit ein neues politisches Handlungsfeld: die Suche nach dem Dialog und der Zusammenarbeit mit den nationalen palästinensischen Kräften, in Israel wie in den besetzten Gebieten.


Es war der palästinensische Widerstand, der der Opposition in Israel eine Stütze und einen Sinn gegeben hat


Zwischen aktiven antizionistischen Juden und palästinensischen Aktivisten wurden politische und soziale Beziehungen hergestellt; zum erstenmal hatten wir nicht mehr das Gefühl, allein zu sein. Die 1. Mai-Veranstaltung der Matzpen in Jerusalem 1976 fand zum erstenmal in vollem Saal statt, die Stimmung auf dem anschließenden Fest war Freude und Optimismus – ein Ausdruck des Gefühls, daß wir „durch die Wüste durch“ waren. Natürlich verlief alles noch in bescheidenen Verhältnissen: an der Frauenbewegung beteiligten sich zum erstenmal Zionistinnen und Antizionistinnen; in den besetzten Gebieten kamen die unterschiedlichsten Bündnisse gegen die alltägliche Repression zustande. Vor allem entwickelte sich in Israel selbst eine nationale palästinensische Bewegung im Anschluß an die heroische und erfolgreiche Mobilisierung für das Recht auf palästinensischen Landbesitz in Galiläa am 30. Mai 1976. [2]

Man muß es immer und immer wiederholen: es ist die starke Mobilisierung der Palästinenser gewesen, die der Opposition in Israel eine Stütze und einen Sinn gegeben hat. Ohne sie hätte es kein Gegengewicht gegen die zunehmend aggressive und gewalttätige Politik und Ideologie der Herrscherden gegeben, deren Propaganda immer offener chauvinistisch und klerikal wurde. Als 1977 die Likud-Partei [3] an die Regierung kam, hatte sich die israelische Gesellschaft zehn Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg von Grund auf gewandelt. Der Sieg der Likud-Partei war die Folge, nicht die Ursache der Rechtswende in der Gesellschaft insgesamt. Mit der militärischen Herrschaft über eineinhalb Millionen Palästinenser und der zunehmend aggressiveren Politik gegen die arabische Welt – die Vergeltungsaktionen, die Bombardierung Libanon und Ägyptens, die Morde an Palästinenserführern – ist die Maske des kleinen, angegriffenen, friedliebenden Landes, das zutiefst demokratisch und einer liberalen Besatzungspolitik verpflichtet ist, gefallen.

Dieses Selbstimage hat nichts mehr, worauf es sich stützen kann, und in Ermangelung einer Alternative auf der zionistischen Linken, die hauptsächlich bemüht ist, sich von den palästinensischen „Terroristen“ abzusetzen, gibt die chauvinistische, klerikale Rechte den Ton an. In ihrem Fahrwasser schwimmt die Arbeitspartei, die vorwiegend aus dem neuen Geldsegen Kapital zu schlagen sucht, den die Besatzung, die US-Dollars und der spektakuläre Aufschwung einer modernen Rüstungsindustrie und einer krankhaft vergrößerten Armee mit sich gebracht haben. Der Staat Israel stützt sich heute auf Apartheid und Krieg. Er weiß es und akzeptiert es. Zehn Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg ist für Naivität die heuchlerische Ideologie der Arbeitspartei aus den fünfziger und sechziger Jahren kein Platz mehr. Weder im Inland noch im Ausland.

Sadats Initiative untergrub den nationalen israelischen Konsens auf doppele Weise. Sie bot eine Alternative zur Politik der Verweigerung, hinter der sich bis dahin die ganze politische Führung Israels verschanzt hatte; und sie machte dem von offizieller Seite vorgetragenen Argument ein Ende, es „gebe keine andere Wahl", „die Weigerung der Araber (sei) der einzige Grund für den ständigen Krieg, den Israel führt".


Der nationale Konsens ist zerbrochen


Zwei Dinge waren entscheidend, um den zionistischen Konsens aufzubrechen: der Preis, den es zu zahlen galt, und das Vorhandensein einer Alternative. Der Oktoberkrieg 1973 und Sadats Initiative 1977 erfüllten beide Bedingungen. Die Bewegung Peace Now! war der fortgeschrittenste Ausdruck für den Bruch des Konsenses.

Es geht dabei nicht darum, daß die Führer der Peace-Now-Bewegung und die Mehrzahl derer, die sie unterstützen, mit dem nationalen Konsens gebrochen hätten, sondern darum, daß der Konsens selbst zerbrochen ist. Dadurch hat sich eine breite Massenbewegung gegen die kriegslüsterne und annexionistische Politik der Staatsführung entwickeln können. Am Anfang hat die Arbeitspartei der Politik des Likud-Blocks vorsichtig Rückendeckung gegeben, ist dann aber allmählich auf Distanz gegangen, weil sowohl Washington als auch ein Teil der eigenen Wählerbasis Druck gemacht haben. Zweimal hat die Regierung dem Druck aus der Bevölkerung nachgeben müssen. Das erste Mal, als sie gezwungen war, das Abkommen von Camp David zu unterzeichnen, mit dem sie den gesamten Sinai samt der Siedlungen an Ägypten zurückgeben mußte; das zweite Mal, um das Abenteuer im Libanon zu beenden.

Daß der nationale Konsens zerbrochen ist, ist eine Tatsache, die nicht unterschätzt werden darf. Die Stärke des jüdischen Steves hat über dreißig lehre lang darin bestanden, daß das israelische Volk geschlossen hinter der Regierung stand und ein totales Gleichheitszeichen zwischen die Regierungspolitik, dem nationalen Interesse und den Interessen jedes Einzelnen setzte (hinzu kam natürlich die technologische Überlegenheit). Aufgrund dieser Identifikation, die freiwillig von allen akzeptiert wurde, konnte der Staat jedes Mal, wenn er an die Sicherheit und das nationale Interesse appellierte, auf eine geschlossene soziale und militärische Mobilisierung zählen. Wenn Kritik laut wurde, wie 1955-56, geschah dies verhalten und sie erstarb sofort nach der ersten Konfrontation mit dem Feind. Auch bei der Peace Now-Bewegung war die erste Reaktion auf die Invasion des Libanon gewesen: „Wir müssen alle geschlossen hinter der Regierung stehen, solange die Kämpfe anhalten.“ Doch diese Haltung währte nicht lange. Mitten während der Kampf tobte, am 26. Juni 1982, rief das Komitee gegen den Krieg im Libanon – ein Bündnis der Linken, extremen Linken und Unabhängiger, das mit dem Solidaritätskomitee der Bir-Zeit-Universität [4] in Verbindung steht – zu einer Demonstration auf, der sich 15 000 bis 20 000 Menschen anschlossen. Die Parolen verurteilten eindeutig die israelische Aggression und erklärten ihre Solidarität mit der PLO. Diese 20 000 Menschen waren keine Linksradikalen; sie brachten die Stimmung der zionistischen Basis von Peace Now zum Ausdruck. Die Führung der Bewegung wurde dadurch gezwungen, ihre Haltung zu überdenken und sich an die Spitze der Mobilisierung gegen den Libanonkrieg zu stellen.

Nach sechs Monaten Mobilisierung gegen die israelische Besetzung im Rahmen des Solidaritätskomitees mit der Bir Zen-Universität, die Tausende von Menschen auf die Straße gebracht und Peace Now gezwungen hatte, im März 1982 ihre erste große Demonstration gegen die Besetzung zu organisieren, haben die Aktivisten im Komitee gegen den Krieg im Libanon begriffen, daß sich etwas Grundsätzliches geändert hat und daß die Zeiten, wo der Geruch nach verbranntem Pulver alle Gewehr bei Fuß stehen ließ, vorbei sind. Die Zeit der Isolierung der Linken und der Kräfte, die für einen israelisch-palästinensischen Frieden eintreten, liegen hinter uns.

Die Entwicklung kann man sehr deutlich an der Armee ablesen. Als ich ins Militärgefängnis kam, weil ich mich geweigert hatte, in den Krieg zu ziehen, traf ich dort ein gutes Dutzend „refuzniks“. Die Mehrzahl unter ihnen waren linke Zionisten, oft Mitglieder von Kibbuzim der Arbeitspartei. In der Reservistenbewegung Yesh Gvul waren die Radikalen, die den Kriegsdienst verweigern, nicht nur kritisch gegen den Krieg Stellung beziehen wollten, in der Minderheit. Aussagekräftiger noch für die Entwicklung der Verhältnisse war die Reaktion der Soldaten in meiner Kompanie, ein repräsentativer Querschnitt der israelischen Bevölkerung. Nicht nur haben sie mich kein einziges Mal physisch oder verbal angegriffen, die Mehrheit unter ihnen, vom Kompaniechef bis zum Küchenbullen, zeigte mir auf verschiedenste Weise ihre Sympathie vor, während und nach meinem Gefängnisaufenthalt. Mindestens ein Dutzend hat ernsthaft diskutiert, ob sie meinem Beispiel nicht folgen sollten oder eine andere Form des Kampfes wählen sollten, um ihrer Gegnerschaft gegen den Krieg Ausdruck zu verleihen.

Noch fünf Jahre nach dem Libanonkrieg ist die Debatte über das Recht auf Ungehorsam in der Presse, an der Universität und selbst im Generalstab nicht abgeklungen. Das zeigt bis zu welchem Grad die nationale Einheit erschüttert ist; die Reaktionen gehen Immer weit über die verbale Kritik hinaus.

Zwanzig Jahre nach der Besetzung ist die israelische Gesellschaft nach rechts gerückt, die Politik der Staatsführung hat sich verhärtet. Die Repression, der mystische Chauvinismus, die alltägliche Gewalt dringen über die „grüne Linie“ [5] hinaus, und in dem Maße, wie diese immer mehr an Bedeutung verliert, färben sie auf die israelische Gesellschaft selbst ab und führen zur Degeneration Israels zu einem militaristischen und offen rassistischen Staat. Das ist die teuflische, unvermeidliche Logik der Besetzung. Die Pogromjäger der Gush Imunim sind heute die Pioniere, Rabbi Kahane ihr Prophet, und Yitzak Rabin gibt ihnen öffentlichen Flankenschutz. Das Israel von 1987 ist gewalttätiger, rassistischer, militaristischer, klerikaler als das von 1967.


Israel degeneriert zu einem militaristischen und rassistischen Staat


Aber das ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Das Israel von 1987 ist auch ein Land, in dem es den früheren nationalen Konsens nicht mehr gibt, wo in den Medien täglich radikale Kritik laut wird; wo die Kriegsdienstverweigerung ein anerkanntes Diskussionsthema ist; wo Skandale ans Tageslicht kommen, selbst in so unantastbaren Institutionen wie der Armee und den Geheimdiensten, die nicht damit zu tun haben, daß der Staat und seine Institutionen sich geändert haben, sondern damit, daß Mord, Korruption und andere „Mängel" nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden können.

      
Mehr dazu
Michael Warschawski: Soziale Proteste in Israel: Ende der Illusion einer nationalen Einheit, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
Sergio Yahni und Michael Warschawski: Der Kampf wird nicht aufhören, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994)
Jakob Taut: Neo-Messianismus, Inprekorr Nr. 195 (August/September 1987)
Resolution des VS: Der Krieg im Libanon: Eine Wende der Lage im Nahen Osten, Inprekorr Nr. 152 (3. Februar 1983)
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Interview mit Micha [Jakob Taut]: Zur Entwicklung des Trotzkismus in Palästina, Inprekorr Nr. 19 (15. September 1972)
Interview mit Arie Bober: Der Kampf von „Matzpen“ in Israel, Inprekorr Nr. 4 (15. Juni 1971)
 

Obwohl die Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern repressiver, gegenüber der öffentlichen Meinung, arroganter und gegenüber der Weltöffentlichkeit gleichgültiger geworden ist, hat sie sich nach innen „enttotalisiert“. Sei es aus ideologischen oder aus egoistischen Gründen, der Israeli von heute ist kein bedingungsloser Anhänger des „nationalen Interesses“ mehr. Angesichts der Bedeutung, die diese nationale Einheit für die Stärke des israelischen Staates hatte, ist dies ein entscheidender Punkt in der Krise der israelischen Gesellschaft.

Die Regierung ist kürzlich gegen fortschriftliche israelische Kräfte mit Repressalien vorgegangen. Sie hatte eine Änderung der Anti-Terror-Gesetze beschlossen, auf Grund dessen vier linken Aktivisten der Prozeß gemacht werden soll, weil sie sich öffentlich mit Vertretern der PLO getroffen haben. Sie hat das Alternative Informationszentrum geschlossen ebenfalls unter dem Hinweis auf das Anti-Terror-Gesetz. Ich selbst, der Leiter des Zentrums, wurde im Eilverfahren verhaftet. Für einige ist das ein zusätzlicher Beweis der „Faschisierung“ des israelischen Staates.

Doch mir scheint, sie sehen nur einen Teil der Wirklichkeit. Allein die Tatsache, daß der Repressionsapparat, der früher nur gegen die Araber eingesetzt wurde, jetzt auch gegen die Israelis eingesetzt wird, ist ein Beweis dafür, daß sich in der israelischen Gesellschaft etwas geändert hat und daß die herrschende Klasse die Opposition in Israel als Bedrohung empfindet. Ein Beweis dafür, daß die israelische Gesellschaft sich nicht faschisiert, sondern eher polarisiert, ist die beispiellose Solidaritätswelle nach meiner Verhaftung, die weit über die Kreise der Linken hinausgegangen ist, obwohl man mich beschuldigt hat, ich würde mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) zusammenarbeiten, was mich vor zehn Jahren noch zur totalen Isolation verdammt hätte, auch innerhalb der Linken. Tatsache ist, daß ein großer Teil der öffentlichen Meinung – und selbst Schichten der einfachen Bevölkerung, wie meine Nachbarn – nicht mehr bereit sind, Gewehr bei Fuß zu stehen, wenn man von ihr verlangt, um der „Sicherheit“ willen Repressalien zu erleiden.

Alles deutet daraufhin, daß dies auch beim nächsten militärischen Abenteuer so sein wird, in das sich die israelische Regierung früher oder später begeben wird.

Aus: La Breche vom 3. Juli 1987



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 195 (August/September 1987). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die Bar-Lev-Linie war die israelische Verteidigungslinie im Sinai; sie wurde von den Arabern im Yom-Kippur-Krieg 1973 durchbrochen.

[2] Am 30. Mai 1976 fanden in Galiläa zahlreiche Protestdemonstrationen der palästinensischen Bauern, Studenten und Schüler gegen die Diskriminierung der palästinensischen Bauern und die Bevorzugung der israelischen Siedler statt. Die Armee griff ein und erschoß mehrere junge Palästinenser. Seither ist dieser Tag zum Symbol des palästinensischen Widerstands geworden, der ihn alljährlich als „Tag der Erde“ feiert.

[3] Das ist die Rechts-Koalition, die Begin an die Regierung brachte.

[4] Die Bir-Zeit-Universität liegt in den besetzten Gebieten und wurde bereits mehrmals geschlossen, weil sie als ein Zentrum der Sympathisanten mit der PLO gilt. Für ihre Wiedereröffnung setzt sich seit langem ein Solidaritätskomitee ein, in dem neben israelischen Linken auch liberale Persönlichkeiten mitarbeiten.

[5] Die „grüne Linie“ ist die Grenze des Staates Israel vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967.