Israel

Der Kampf von „Matzpen“ in Israel

Die Israelische Sozialistische Organisation (ISO), bekannter unter dem Namen ihrer Zeitschrift „Matzpen“ (= der Kompass), besteht seit 1962 und kämpft unter sehr schwierigen Bedingungen. Wir kennen ihre internationalistischen Thesen und ihren unerschütterlichen Mut, in Israel selbst den antizionistischen und antikapitalistischen Kampf mit der Perspektive einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten zu führen.

Interview mit Arie Bober

 Selbst nach der Entstehung des palästinensischen Widerstands hat sich die ISO in ihrem Aktionsfeld unaufhörlich entwickelt. Die ISO ist zugleich fester Bestandteil der Avantgarde im Nahen Osten und eine unschätzbare politische Kraft in Israel. Kannst Du die Art ihrer Bindungen zu den revolutionären arabischen Bewegungen und ihre Rolle in Israel selbst umreissen?

Die ISO betrachtet sich als eine Gruppe, eine Organisation, die in Israel eine Avantgarde-Partei zu bilden versucht, die Teil einer Revolutionären Organisation des Nahen Ostens sein wird. Denn nur eine solche kann unserer Meinung nach den antiimperialistischen Kampf siegreich bestehen und die sozialistische Revolution – oder Umwälzung – durchführen in dieser Gegend. Der Junikrieg 1967 brachte das ganze palästinensische Volk an die Spitze des Kampfes in diesem Raum. Zum ersten Mal wartete es nicht mehr darauf, daß jemand anderes seine Probleme löst, sondern engagierte sich in konkreten politischen Aktionen, im beispielhaften Widerstandskampf. Aus diesem Grunde unterstützen wir bedingungslos den Kampf der Palästinenser gegen die zionistische Besetzung. Andererseits kritisieren wir das politische Programm der verschiedenen palästinensischen Organisationen; der Hauptpunkt unserer Kritik ist die Beschränkung ihres Kampfes auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Beschränkung seiner Lösung einzig auf Palästina. Deshalb kritisieren wir zum Beispiel das Programm von El Fatah. Im übrigen sind wir der Ansicht, daß die politische Diskussion wichtig ist zur Klärung und Schulung, und deshalb nahmen wir den Dialog mit der Demokratischen Volksfront auf, wobei jede der beiden Organisationen Artikel veröffentlicht, die die Haltung von El Fath klären.

 Die imperialistische Offensive vom September 1970, deren Rückwirkungen sich jetzt in Ägypten bemerkbar machen, hatte auch direkte Auswirkungen auf Israel. Welche qualitativen Veränderungen sind dort seither eingetreten?

Bis September 1970 bestand die Rolle der ISO hauptsächlich darin, den Zionismus innerhalb Israels zu entmystifizieren, insbesondere bei der Jugend. Obwohl Israel eine Klassengesellschaft ist, so sagten wir, treten die Klassengegensätze im Innern zurück gegenüber der Tatsache, daß die ganze israelische Nation eine privilegierte Gesellschaft darstellt und mit ihrem kolonialen Charakter in frontalem Gegensatz zur arabischen Welt und zu den Palästinensern steht. Nach der ersten Phase der imperialistischen Offensive von 1970, auf die der Waffenstillstand am Suezkanal folgte, traten die inneren Widersprüche wieder in den Vordergrund. Das äußerte sich in den gewerkschaftlichen Aktionen in Israel, im Aufflammen der Streiks und im offenen Kampf der orientalischen Juden, der Sephardim gegen das ganze israelische kapitalistische System. Dabei ist wichtig, daß die inneren Widersprüche, die so zum Ausbruch gekommen sind, ebenso wie die Radikalisierung der Jugend direkt mit dem zionistischen Charakter der israelischen Gesellschaft verbunden sind und nicht nur dem allgemeinen Charakter einer kapitalistischen Gesellschaft entspringen. Israel ist keine normale kapitalistische Gesellschaft, es ist eine koloniale kapitalistische Gesellschaft, Solange die äußeren Spannungen andauerten, die ein Maximum an Sicherheit, Kontrolle etc. erforderte, solange waren all die inneren Widersprüche und ihre Äußerungen wie Streiks etc. erstickt. Das erklärt, warum bis zum letzten Jahr die einzigen Schichten, die sich radikalisierten, die Jugend und die arabische Bevölkerung Israels waren. Letztere waren direkte Opfer der zionistischen Repression, genauso wie die Araber der seit 1967 besetzten Gebiete. Der Jugend, die vor einem Krieg steht, dessen Ende nicht abzusehen ist, werden zu seiner Rechtfertigung ideologische Erklärungen serviert, die keiner ernsthaften Überlegung standhalten können. Aber sowie die äußere Krise an Spannung verlor, tauchten die inneren Widersprüche wieder auf. Sie äußerten sich allerdinge anders als in Frankreich, Italien oder England, da die Widersprüche der zionistischen Ideologie sie bestimmen.

 Welche Dynamik, welchen Sinn hat die Sephardim-Bewegung der „Black Panthers“ in Israel?

Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Israel, etwa 64 %, ist sephardim. Davon sind die allermeisten Lohnabhängige, Proletarier oder Lumpenproletarier Ihre kulturelle Tradition wurde zerstört; der Preis für sie, in die israelische Gesellschaft integriert zu werden, war ihre Anpassung an die westlichen Normen („man muß die Gefahr der Levantisierung vermeiden“, wie die zionistische Propaganda sagt). Eines der wichtigsten Mittel, um den sozialen Frieden trotz der wachsenden Unterschiede in Israel selbst zu erhalten, war, daß man auf chauvinistische Art die israelische Gesellschaft gegen den äußeren Feind zusammenzuschweißen suchte. Der Waffenstillstand am Suezkanal und die jüngste Einwanderungswelle insbesondere aus der Sowjetunion und aus dem Westen haben plötzlich zum Ausbruch all der inneren Widersprüche geführt. Während die orientalischen Juden (Sephardim) im ganzen Lande armselig und in Slums leben, wurden für die neuen Einwanderer mit kleineren Familien und größerem Einkommen neue Wohnungen gebaut. Israel steht vor dem Widerspruch, daß es eines der Ziele des Zionismus erreichen will, nämlich die Diaspora, die in der ganzen Welt zerstreuten Juden zu integrieren. und andererseits daß es die orientalischen Juden als Block in Widerspruch setzt zum zionistischen kapitalistischen System. Die Parole der Panther hieß: „Wann wird Abuthol (der orientalische Jude) wie Faigin (russischer, also westlicher Jude) sein?“

Dieser Konflikt führt über des unmittelbare Wohnungsproblem oder über kleine reformistische Verbesserungen hinaus, denn die israelische Gesellschaft ist als zionistische Gesellschaft unfähig, das Problem der orientalischen Juden zu lösen. Dazu müsste man zuerst das ganze kapitalistische System in Israel ändern, das auf der Ausbeutung der Arbeitskraft der Sephardim beruht. Ja, selbst ein bürgerlicher „Reformismus“ solche Prioritäten wie „Schaffung einer Heimat für die in der Diaspora zerstreuten Juden“ umwerfen und damit den ideologischen Existenzgrund für Israel infrage stellen. Deshalb unterstützt unsere Organisation die „Black Panthers“ wie jede andere Gruppe, die die Selbstorganisierung der Sephardim zum Ziele hat. Deshalb sagen wir: „Abuthol wird wie Faigin sein, wenn Mohammed wie Abuthol ist.“ Konkret, die Rolle von Matzpen in diesem Kampf ist, zur Verteidigung der „Black Panthers“ mobilisieren und diese dann davon überzeugen, daß sie ihr ethnisches Verständnis des Problem der Sephardim aufgeben müssen zugunsten eines Klassenverständnissee, daß im zionistischen Israel von vornherein ein internationalistisches Verständnis sein muß.

 Die ISO hat kürzlich eine Spaltung mitgemacht, die nun Austritt von zwei Tendenzen geführt hat. Aus welchen politischen Gründen hat sie sich vollzogen, und wie groß ist die tatsächliche Tragweite der Meinungsverschiedenheiten zu den beiden abgespaltenen Gruppen?

Die erste ist eine sogenannte maoistische Richtung. Im Grunde stimmt sie mit uns in der Analyse des Zionismus und des israelisch-arabischen Konflikts überein, aber sie ist weniger kritisch als wir gegenüber den kleinbürgerlichen Regimen und Tendenzen innerhalb der arabischen Bewegung. Es sind keine „echten“ Maoisten, weil sie dann ja innerhalb der israelischen Gesellschaft überhaupt keine Rolle hätten und eigentlich zu El Fatah gehen müßten. Zur Zeit verhandeln sie mit Rakah (pro-Moskau KP), um als Tendenz beizutreten: Für revolutionäre Maoisten wäre es völlig unmöglich, einer stalinistischen Organisation beizutreten, die den Rogers-Plan und den amerikanischen Imperialismus akzeptiert. Solche Maoisten findet man nur in Israel!

Die andere Gruppe, die Lambertisten, spalteten sich in die andere Richtung ab. Ihre Analyse des Zionismus ist geradezu akrobatisch. Sie vernachlässigen oder übersehen, daß Israel eine koloniale Gesellschaft ist. So setzen sie den Zionismus, die Palästinenser und die arabischen Staaten als gleichwertig an. Zum Beispiel definieren sie den Junikrieg als einen Krieg zwischen der israelischen und der ägyptischen Bourgeoisie. Wenn sie den Zionismus als die Ideologie der israelischen Bourgeoisie bezeichnen, so fälschen sie nicht nur die Geschichte, sondern machen ein enormen Zugeständnis gegenüber dem Zionismus. Übrigens, selbst dieser abgemilderte Antizionismus ist von den französischen Lambertisten von einer rechten Position her noch kritisiert worden; sie finden ihn zu „pablistisch“. Im Grunde sind sie der Überzeugung, die einer ihrer Führer einmal vor der Spaltung mir gegenüber so zum Ausdruck gebracht hat: „Die ganze Befreiungsbewegung der Dritten Welt und der Kampf der Palästinenser ist doch nichts anderes als ein ‚Sozialismus der Barbaren’.“. Diese Einstellung zieht eine ganz andere revolutionäre Strategie als die unsere mit sich. Sie sehen die Möglichkeit einer unabhängigen sozialistischen Revolution in Israel. Wir nicht, für uns wird die sozialistische Revolution völlig von den revolutionären Entwicklungen in der arabischen Welt bestimmt. Zweitens: Da in der lambertistischen Analyse Israel ein ganz „normaler kapitalistischer Staat“ ist, haben sie eine rein gewerkschaftliche Taktik für den israelischen Klassenkampf. Deshalb konzentrieren sie sich auf Betriebsarbeit, wo sie allerdings kaum Erfolg haben. Dabei haben 80 Jahre Zionismus die Wirkungslosigkeit einer solchen Taktik eindeutig gezeigt! (Matzpen bekämpft die zionistische Gewerkschaft Histadrut und ruft zur Schaffung einer neuen Gewerkschaft auf.) Gemäß unserer Analyse müssen wir dem Zionismus von Beginn des Kampfes an begegnen. Solange wir die zionistischen Ansprüche und die zionistische Ideologie nicht besiegt haben, werden wir keine Fortschritte in der Arbeiterklasse erzielen. Die radikale Entwicklung im Kampfe der orientalischen Juden um ihre rechtliche Gleichstellung, wie sie sich in der „Black Panthers“ Bewegung zeigt, bestätigt unsere Analysen.

      
Mehr dazu
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000).
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974).
Weshalb jeder Sozialist den Befreiungskampf der arabischen Völker unterstützen muss, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974).
Die Auswirkungen des Oktoberkrieges auf Israel, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974).
Nathan Weinstock: 25 Jahre zionistischer Staat, Inprekorr Nr. 27 (1. Juli 1973).
Interview mit Micha [Jakob Taut]: Zur Entwicklung des Trotzkismus in Palästina, Inprekorr Nr. 19 (15. September 1972).
Nathan Weinstock: Palästina, Zionismus, Israel: Mythos und Wirklichkeit (1969), Inprekorr Nr. 239 (September 1991).
 
 Was stellt „SIAH“ ideologisch und politisch dar? Welche Beziehungen unterhält diese Organisation insbesondere mit Matzpen?

„SIAH“ repräsentiert die traditionellen Tendenzen des „Linkszionismus“, die früher in der Mapam verkörpert waren. Als Mapam nach rechts schwenkte und in die Regierung eintrat, nahm Siah den Platz von Mapam ein. Da Siah eine sehr heterogene Gruppe ohne klares Programm ist, sind die Beziehungen zu Matzpen etwas unregelmäßig. Im allgemeinen verläuft in Jerusalem die Zusammenarbeit mit ihr bei gewissen Problemen (Notstandsmaßnahmen, Gazastreifen) sehr zufriedenstellend, während sie in Tel-Aviv viel rechter und antikommunistischer gegenüber Matzpen-Leuten ist.

 Kann man sagen, dass „SIAH“ eine zionistische Bewegung ist?

Unbedingt. Sie sind Zionisten, weil selbst die radikalsten unter ihnen die Lösung der Judenfrage in zionistischen Begriffen sehen und im Rahmen der Grenzen vor dem Junikrieg.

Trotz seiner numerischen Schwäche zeigt Matzpen die einzige antizionistische Alternative in Israel. Wir werden in unserer antizionistischen Propaganda deshalb bei den Massen Erfolg haben, weil der Zionismus in sich selbst ein Mißerfolg ist – er konnte die jüdische Frage nicht lösen, konnte nicht alle Juden in Israel versammeln, keinen demokratischen Staat schaffen; er hat die jüdischen Gemeinschaften der Diaspora nicht verschmelzen können; er hat es nicht einmal geschafft, die physische Existenz der Juden zu sichern: heute ist Israel der gefährlichste Ort auf der ganzen Welt für Juden. Wir sind der Überzeugung, daß die Wiederversöhnung von Juden und Arabern nur auf revolutionären und internationalistischen Grundlagen möglich ist.

Arie Bober ist ein Genosse der Matzpen-Gruppe
Aus: Rouge Nr. 117, 7. Juni 1971



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4 (15. Juni 1971). | Startseite | Impressum | Datenschutz