Osteuropa

Krise im Osten: der Imperialismus jubelt, aber...

Interview mit Ernest Mandel

 Du hast Dein Buch über die UdSSR unter Gorbatschow [1] ausgehend von einem Urteil über die historische Bedeutung der durch die neue Führungsmannschaft eingeleiteten Reformen verfaßt. Kannst Du dieses Urteil präzisieren?

Es ist nicht ein Urteil über die eingeleiteten Reformen, sondern über die Veränderungen. die in der UdSSR vonstatten gehen. Diese können in einer Formel zusammengefaßt werden: die sowjetische Gesellschaft und vor allem die Volksmassen haben sich in Bewegung gesetzt; der Aufbruch zur politischen Aktion, zur Selbstaktivität und tendenziell zur Selbstorganisation von Dutzenden von Millionen von Menschen in dem Land mit dem zahlenmäßig stärksten Proletariat der Welt bedeutet eine radikale Änderung der Weltlage. Man kann sie mit dem Sieg der chinesischen Revolution, ja sogar mit der spanischen Revolution von 1936-37 vergleichen. In Hinblick auf die Zahl der daran beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter übertrifft sie bei weitem diese. Vorläufer. In diesem Sinn handelt es sich zweifellos um die wichtigste Veränderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

 Wie läßt sich im Rahmen dieser Veränderung das Projekt Gorbatschows zusammenfassen? Es ist ein Projekt der Bürokratie, aber Gorbatschow selbst spricht von Revolution.

Das Wort Projekt scheint mir recht zweideutig, weil es eine theoretische und ideologische Kohärenz voraussetzt, die der Bürokratie nicht eigen ist. Die Bürokratie ist im wesentlichen pragmatisch. Sie antwortet auf das Nächstliegende. Ich würde daher eher sagen, daß es sich um einen Versuch handelt, die Situation der extrem schweren Krise, von der die UdSSR und die osteuropäischen Länder seit Jahrzehnten geschüttelt werden, aufzulösen. Diese Krise äußert sich durch eine Tendenz zur Senkung oder Stagnation des Wirtschaftswachstums, durch eine Tendenz zur Senkung des Lebensniveaus und vor allem durch eine Tendenz zum völligen Legitimitätsverlust der politischen Führungsstrukturen und somit auch der Kommunistischen Partei. Dieser Legitimitätsverlust in den Augen der Massen droht mittelfristig der Bürokratie mit einer sozialen Explosion. Um auf diese Bedrohung zu antworten hat der modernistische Flügel der Bürokratie sich für einen radikalen Reformkurs entschieden, um seine Kontrolle über die Gesellschaft zu erhalten oder wiederzuerrichten und so das Wesen seiner Macht und seiner Privilegien zu verteidigen.

 

Ernest Mandel (1982)

Foto: Hans van Dijk / Anefo

Es handelt sich also um radikale Reformen und nicht um eine Revolution. Aber das Wechselspiel zwischen dem Aufbruch der Massen und ihrer autonomen Aktion, die den Reformen vorangegangen ist, der Wirkung der Reformen und der Ausdehnung der autonomen Massenbewegung infolge dieser Reformen kann offensichtlich einen Prozeß eröffnen, der in eine wirkliche Revolution mündet. Und diese Revolution kann nur eine Revolution von unten sein, eine Volksrevolution, an der Dutzende von Millionen Menschen beteiligt sind.

 Haben vom Standpunkt der Verteidigung der Interessen der Bürokratie Deng Xiaoping, Honecker und Ceausescu gegenüber Gorbatschow nicht recht?

Diese Frage konfrontiert uns mit einem geschichtsphilosophischen Problem. Die Geschichte zeigt uns, daß, wenn eine Gesellschaft reif ist für eine Revolution — eine politische wie eine soziale Revolution —, alles, was die Regierenden tun, darauf hinausläuft, die Explosion zu fördern. Ich glaube, daß vom Standpunkt der Bürokratie die Option der Reformer ein wenig realistischer ist als die der Konservativen. Die Konservativen steuern auf die sichere Katastrophe zu. Es genügt, das Beispiel der heutigen DDR zu betrachten, um dies festzustellen. Die Reformer ihrerseits haben eine kleine Chance, da hinauszukommen.

Da das sowjetische Proletariat sehr differenziert ist, ist die Idee einer gewissen Kontrolle über die Massen nicht so unsinnig wie die Auffassung, man könne sie gewaltsam zur Passivität zwingen.

 Unter den „Szenarien", die Du in Deinem Buch beschreibst, ist das der politischen Revolution für Dich das wahrscheinlichste. Was sind die grundlegenden Elemente, die ein solches Urteil rechtfertigen?

Achtung, das ist nicht alles, was ich sage. Ich sage, daß die politische Revolution langfristig das wahrscheinlichste „Szenarium" ist, nicht unmittelbar. Für die unmittelbare Zukunft schließe ich eine Rückkurbelung der Entwicklung zugunsten der Konservativen keineswegs aus. Aber wenn dies geschieht, kann das langfristig nur die Revolution begünstigen. So ist es 1905 in Rußland geschehen oder nach dem ersten Versuch von Solidarnosc 1980. Diese Präzedenzfälle sind nützlich, um die laufenden politischen Entwicklungen zu begreifen.

 Ist es kurzfristig nicht die Wiedererrichtung des Kapitalismus, die auf der Tagesordnung steht, besonders in Ländern wie Ungarn und Polen, die als erste Reformen vom selben Typ wie Gorbatschow in der UdSSR durchgeführt haben?

Man muß grundlegend zwischen der Situation in der UdSSR oder China einerseits und der in Ländern wie Ungarn, Polen oder Jugoslawien andererseits unterscheiden. Es hängt vor allem alles vom objektiven Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Kräften ab. In der Sowjetunion sind die prokapitalistischen gesellschaftlichen Kräfte, die kleine und mittlere Bourgeoisie, völlig marginal und überhaupt nicht mit den 125 Millionen Arbeitern und Arbeiterinnen vergleichbar. Selbst die Bauernschaft, die 15% der Bevölkerung ausmacht, ist eine minoritäre soziale Kraft. China ist trotz seiner enormen Fortschritte ein unterentwickeltes Land geblieben, wo die Bauernschaft nach wie vor die überwiegende soziale Klasse darstellt. Dies ist im übrigen die grundlegende Erklärung für die Niederlage der Pekinger Kommune. Deng konnte bei der Repression auf Divisionen zählen, die aus den weniger entwickelten Regionen kamen und wenig informiert und wenig kultiviert waren.

Ungarn, Polen und Jugoslawien stellen eine dritte Kategorie dar. In diesen Ländern ist die kleinere und mittlere Bourgeoisie, während sie eine Minderheit darstellt, nicht unbedeutend. Sie repräsentiert eine soziale Kraft. Und in einem viel größeren Maße als in der UdSSR oder China hat sie Verbindungen zum internationalen Kapital, mit den Banken. Der Handel mit den kapitalistischen Ländern hat in diesen Ländern ein viel größeres Gewicht als in der UdSSR oder China. Folglich vollzieht sich der dreipolige Kampf zwischen der Bürokratie, der kleinen und mittleren Bourgeoisie und dem Proletariat unter verschiedenen Bedingungen, je nachdem ob es sich um Polen, Ungarn, China oder die Sowjetunion handelt.

Man muß nun die politischen und ideologischen Phänomene integrieren. In der UdSSR liegt die Revolution 72 Jahre zurück. Es gibt kaum mehr Überlebende aus der Aristokratie und Bourgeoisie der Epoche. In China dagegen, hat die Revolution 1949 gesiegt, die Überlebenden sind zahlreicher. Aber die Revolution war immerhin eine Volksrevolution, die von den armen Bauern, die nach einer historischen Revanche für die Leiden dürsteten, die ihnen die alten besitzen-den Klassen seit Jahrhunderten auferlegt hatten, aufs Land getragen worden war.

Daß diese Bauern bereit seien, das Rad zurückzudrehen und ihre alten Ausbeuter wiederzuholen, ist eine rein theoretische Vorstellung.

In Osteuropa ist die Situation anders. Außer in Jugoslawien ist ein neues soziales Regime durch eine ausländische Macht, die sowjetische Armee und Polizei, errichtet worden. Von daher wirkt sich das nationale Gefühl, der Durst nach nationaler Unabhängigkeit und Souveränität gegen die KPen aus, im Gegensatz zur UdSSR und zu China, wo die Revolution mit einem Wiedererlangen nationaler Souveränität und sogar nationalen Stolzes gleichgesetzt wurde.

Darüber hinaus ist die Politik der KPen, die darin bestand, mit Gewalt, Terror und Manipulation das zu integrieren, was sie die „nationale Bourgeoisie" nannten, durch die Aufrecht-erhaltung politischer Strukturen wie das Parlament oder der mit den KPen in der nationalen Front verbündeten Parteien gekennzeichnet.

Nebenbei gesagt straft das, was heute geschieht, obendrein den Verfechtern der These vom Totalitarismus Lügen. Die Strukturen, die etliche als zu 100% manipuliert ansahen, sind es nicht und fangen an eine gewisse Autonomie zu gewinnen. In Polen wenden sie sich sogar gegen ihre ehemaligen Herren, um mit Solidarnosc im Parlament einen Block gegen die KP zu bilden.

 Somit ist in diesen Ländern die Wiedererrichtung des Kapitalismus nicht völlig ausgeschlossen?

In der Tat. Aber man muß sich dar-über im klaren sein: diese Wiedererrichtung ist nicht ausgeschlossen, in-sofern als ... der dreipolige Kampf, der ein realer Kampf auf gesellschaftlichem Terrain ist, mit einem Sieg der prokapitalistischen Kräfte und einer Niederlage der Arbeiterklasse endet. Darin besteht der große Unterschied zwischen unserer Analyse und der der bürgerlichen Medien oder der neostalinistischen Dogmatiker.

Was ich ausschließe, ist eine graduelle, friedliche, unmerkliche Wiedererrichtung des Kapitalismus. Sie ist ebenso unmöglich wie die graduelle, friedliche, unmerkliche Ab-schaffung des Kapitalismus. Das ist eine reformistische Illusion. Das wird nicht geschehen. Es wird erforderlich sein, auf dem Terrain den Widerstand der Arbeiterklasse zu schlagen. Es handelt sich somit um eine Schlacht, und eine Schlacht endet nie mit einem Schlag durch den Sieg der einen oder anderen Seite.

 Aber kann man nicht sagen, daß die Arbeiterklasse Illusionen über den Kapitalismus hat und seine Wiedererrichtung anstrebt? Wird sich die Arbeiterklasse, wenn sie in Bewegung gerät, sich automatisch des Programms der politischen Revolution bemächtigen?

Man muß zwei Ebenen unterscheiden: die Aktivität und das Bewußtsein. Was die Aktivität betrifft, wiederhole ich eine Banalität, die oft vergessen wird. Wenn die Arbeiterklasse sich in Bewegung setzt, dann nicht in erster Linie für Ideen, für Programme oder Projekte. Sie setzt sich in Bewegung, um ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen.

Die Arbeiterklasse dieser Länder wird sich nicht passiv verhalten gegenüber dem katastrophalen Niedergang ihres Lebensstandards infolge von Preissteigerungen, von durch den IWF aufgezwungenen Sparmaßnahmen, von massiven Betriebsstillegungen und massivem Arbeitsplatzabbau — nicht zu vergessen die unmenschlichen Kürzungen bei den Sozialausgaben. Sie wird in harter und explosiver Weise reagieren. Walesa, ein Führer, der sehr sensibel für das ist, was in der Arbeiterklasse geschieht, und gleichzeitig ein durchtriebener Politiker, spricht offen von „Bürgerkrieg". In Wirklichkeit ist das, was er damit sagen will, die Explosion der Arbeiterklasse. Denn ich sehe heute nicht, daß polnische Soldaten einen Bürgerkrieg gegen einen Generalstreik der Arbeiter führen könnten. Es handelt sich somit um einen Hinweis an seine teuren kapitalistischen Freunde im Westen: „Gebt uns Geld, oder es wird eine Explosion geben!" Dies ist bereits das Szenarium, das anfängt verwirklicht zu werden.

Die Arbeiter werden Widerstand leisten. Sie werden ihre unmittelbaren Interessen verteidigen. Sie können geschlagen werden, denn ihr Wider-stand wird nicht automatisch siegreich sein. Aber sie werden einen erbitterten und heftigen Widerstand leisten, davon bin ich absolut überzeugt.

Dann gibt es die zweite Dimension, die politisch-ideologische Dimension. Auch da stehen die Dinge positiver, als man gemeinhin denkt. Eine Zahl: in Ungarn geben Umfragen der KP, die gerade ihren Namen geändert hat, 30% der Stimmen bei freien Wahlen. Zu sagen, daß der Sozialismus, sogar mit „unmenschlichem Antlitz", jeden Kredit verloren habe, ist eine verein-fachende Vorstellung. Die politische Option ist zumindest in der Schwebe. Die Sache ist noch nicht für den Kapitalismus ausgemacht.

 Um zu Deinem Buch und zu den langfristigen Prognosen zurückzukommen. Warum siehst du ein „Szenarium" vom Typ Prag '68, wo ein Sektor der Partei faktisch die politische Revolution vertrat, als wenig wahrscheinlich an? Gehen die historischen Erfahrungen von Krisen in den Arbeiterstaaten nicht mehr in diese Richtung als in die eines stürmischen Ausbruchs einer politischen Revolution?

In der CSSR 1968 ist sich die Bürokratie der grundlegenden Bewegungen der Gesellschaft, die ihre Macht in Frage stellten, bewußt geworden. Da diese Protestbewegung noch nicht die Form einer substantiellen Selbst-aktivität der Arbeiterklasse angenommen hatte, hat die Bürokratie versucht. ihr durch kühne Reformen zuvorzukommen. Indem sie dies tat, verschärfte sie teilweise die gesellschaftliche Bewegung, stieß aber auf die abwartende Haltung eines großen Teils der Arbeiterklasse.

Diesbezüglich kann man eine Parallele zu dem ziehen, was heute in der UdSSR geschieht. Am Vorabend und nach der Intervention der Truppen des Warschauer Pakts hat sich dann die Lage geändert. Als die Bevölkerung des enormen Drucks seitens Breschnews und seiner Verbündeten auf die Dubcek-Gruppe gewahr wurde, begann sie sich um die KP zu mobilisieren. Zu Beginn mehr aus nationalen Gründen als aus einer grundlegend antibürokratischen Motivation heraus. Aber nach und nach kamen diese beiden Elemente zusammen. Es gab Anfänge von Selbstorganisation in den Betrieben, die Erneuerung der gewerkschaftlichen Strukturen, An-sätze von Arbeiterräten, von Selbst-verwaltung. Und es war während und nach der Ankunft der Truppen des Warschauer Pakts, daß sich wirklich die revolutionäre Bewegung entwickelte, die schließlich durch die „Normalisierung" ausradiert wurde. Man muß sich eine Vorstellung von ihrer Breite machen: sie mußten eine halbe Million Mitglieder aus der KP aus-schließen, was etwa sechs bis sieben Millionen Mitgliedern der KPdSU entspricht!

 Haben wir die Vitalität der Kommunistischen Parteien unterschätzt?

Ich neige zu dieser Annahme. Das gilt nicht für alle Länder, aber sicher für die UdSSR, die DDR und die CSSR. In Polen und Ungarn ist die Frage offen. Dagegen besteht für Jugoslawien keinerlei Zweifel. Man muß verstehen, daß es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Machtstruktur im Osten, von einigen Ausnahmen abgesehen (Rumänien), und der Struktur der Macht der bürgerlichen Klasse gibt. Die Differenz liegt im Grad der vertikalen sozialen Mobilität. Von der kleinen und mittleren Bourgeoisie zu den Spitzen der Bourgeoisie aufzusteigen impliziert in Ländern wie den unsrigen, daß man zum Milliardär wird, was nahezu unmöglich ist. Das Gegenteil zu behaupten, hieße Mythen verbreiten.

In den Ländern des Ostens ist es anders. Die Verzahnung der kleinen und mittleren Bürokratie mit der Arbeiterklasse ist nicht vergleichbar mit der Überschneidung der kleinen und mittleren Bourgeoisie mit den arbeitenden Massen in den kapitalistischen Ländern. Sie äußert sich nicht so sehr durch den Zugang von Arbeitern in die Spitzen der Nomenklatura, sondern durch die Tatsache, daß die kleinen und mittleren Bürokraten umschwenken können, wenn die Massen sich in Bewegung setzen.

 Die rasche Verschärfung der Krise des Systems der bürokratischen Herrschaft erlaubt der Bourgeoisie, ihre ideologische Offensive gegen das „sozialistische Projekt" wiederaufzunehmen und zu erweitern. Und auf wirtschaftlicher Ebene bieten die Versuche der Bürokratie bei der Einführung von Marktmechanismen neue Einflußperspektiven für einen krisengeschüttelten Kapitalismus. Ist nicht der Imperialismus der große Gewinner bei den von Gorbatschow betriebenen Reformen?

Auf ideologischer Ebene triumphieren die Bourgeoisie, ihre Ideologen und ihre Stützen innerhalb der Arbeiterbewegung: „Der Kommunismus ist gescheitert, der Kapitalismus hat den Sozialismus geschlagen, der einzige Weg zu einer besseren Gesellschaft verläuft über Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems, ohne es dabei in Frage zu stellen..." Darin besteht Übereinstimmung unter den herrschenden politischen Kreisen im Westen. Wir kämpfen gegen diese Strömung, mit viel Überzeugung und einer kohärenten Argumentation. Aber bei den Fakten wiegen, auch wenn wir langfristig recht haben, unsere Argumente weniger schwer als die Realität, wie sie erscheint und wie sie in den Medien gezeigt wird.

Wenn wir das traurige Beispiel Chinas nehmen, so stellen wir fest, daß alle bereits den großartigen, kommunistischen und zukunftsweisenden Aspekt der Pekinger Kommune vergessen haben, so daß nur das blutige Bild der Repression übriggeblieben ist. Dies ist eine Niederlage für die Linke und die extreme Linke im Weltmaßstab. Was wir auch immer sagen oder tun, das Bild dieser Niederlage wirkt unmittelbar stärker als die historischen Erinnerungen oder die subtilen Analysen, die wir vorbringen können.

Auf der Ebene der Perspektiven ist es anders. Dort werden die probürgerlichen und proimperialistischen Ideologen enttäuscht werden. Nehmen wir das Beispiel China. Es sind die Kapitalisten, die Bankiers, die Imperialisten, die den meisten ideologischen Lärm um das Massaker auf dem Tienanmen-Platz gemacht haben, die jetzt davon zunehmend weniger reden und zunehmend mehr Geschäfte mit Deng machen. Die Profite wiegen schwerer als die Menschenrechte. Und es sind die gesunden Kräfte der internationalen Arbeiterbewegung, die die Schlacht für die sozialistische Demokratie in China bis zum Ende führen werden. Der unversöhnliche Kampf für die Menschenrechte und die demokratischen Freiheiten gehört allein zu unserem Lager. Dasselbe wird in bezug auf Polen und die UdSSR passieren.

Man muß hinzufügen: die Bourgeoisie hat Angst. Sie fürchtet, daß die, die jetzt am Ruder sind, die Kontrolle über die Lage verlieren. Sie will keine Destabilisierung. Sprechen wir nicht von einer siegreichen politischen Revolution, sondern von einem General-streik ä la Mai '68 in Frankreich. Ein solcher Streik in der UdSSR oder in Polen hätte Rückwirkungen in der ganzen Welt. Sie wird unter diesen Bedingungen nichts tun, um zu unter-drücken, was das Wesentliche bleibt: die Kontrolle über die staatlichen Strukturen, über die Armee und die Polizei der sowjetischen Nomenklatura.

 Die Bourgeoisie hat für den Osten eine Art „Marshall-Plan" anvisiert, um eine „lange expansive Welle" ihrer Wirtschaft auszulösen?

Ich würde sagen: in ganz und gar bescheidenen Dimensionen. Zu glauben, daß die Großkapitalisten kurzfristig die defizitären Betriebe aufkaufen und privatisieren, d.h. Verluste privatisieren, ist ganz und gar illusorisch.

      
Mehr dazu
François Vercammen: Ein unerschütterlicher Optimist, Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
François Vercammen: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
Salah Jaber: Ernest Mandels Beitrag zur marxistischen Theorie, Inprekorr Nr. 299 (September 1996)
Ernest Mandel: 1953: Der Arbeiteraufstand in der DDR, Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989)
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft – Eine Kritik der Theorie des „Markwirtschaftlichen Sozialismus“, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
Ernest Mandel: Der Kurs der Bolschewiki – eine kritische Analyse, die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017)
 

Die Staatsindustrie in diesen Ländern hat sich entgegen der Logik der Marktwirtschaft entwickelt. Die eine ist somit unvereinbar mit der anderen. Entsprechend dieser Logik muß diese Industrie abgebaut werden, und diese Länder müssen zu einer Situation zurückkehren, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte. Unsere Genossin Catherine Samary, die eine der besten Spezialistinnen in dieser Frage ist, hat eine Formel geprägt, die sehr gut die Situation zusammenfaßt: „Die Wiedererrichtung des Kapitalismus ist möglich, aber das wird nicht Schweden sein, sondern die Türkei." Die Mehrheit der westlichen Bourgeoisie ist nicht bereit, eine derartige Operation zu finanzieren, bevor nicht eine soziale und politische Stabilität entsteht.

Man darf im übrigen nicht vergessen, daß der Marshall-Plan nicht 1945 gekommen ist. Es ist zunächst nötig gewesen, die soziale, politische und militärische Situation in Europa zu stabilisieren, den Aufstieg der Arbeiterbewegung zurückzudrängen, bevor der Kontinent mit Dollars über-schwemmt werden konnte.

Könnte nun ein Plan dieses Typs die kapitalistische Expansion ankurbeln? Ich denke nicht. Polen und Ungarn haben nur ein geringes Gewicht im Welthandel. Natürlich, wenn es sich um China oder die Sowjetunion handelt, dann ist das anders. Aber dies wäre eine Wende in der Weltlage. Wenn diese beiden Länder sich grundlegend in den kapitalistischen Markt integrierten, dann wären die beiden größten Ereignisse dieses Jahr-hunderts — die russische und die chinesische Revolution — ausgelöscht. Aber davon sind wir noch sehr weit entfernt. Diese Veränderung wird nicht eintreten. Der Kapitalismus wird sich weiter in einer langen depressiven Welle mit Wachstums-schwierigkeiten herumschlagen.

Die nächste Rezession ist absolut unvermeidlich. Es wird eine Aufeinanderfolge ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Krisen geben — in den Ländern der „Dritten Wett" wie in den Metropolen. Diese Krisen werden mit den Krisen im Osten kombiniert werden. Im Rahmen dieser neuen Weltrealität wird der Sozialismus wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Mehr als je zuvor gehört die Zukunft nicht dem von unlöslichen Widersprüchen zerrissenen Kapitalismus. Vorausgesetzt, daß die Kommunistinnen und Kommunisten ihre Pflicht erfüllen, wird die Zukunft dem Sozialismus gehören.

Das Interview führte Alain Tondeur.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 223 (Januar 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] E. Mandel, Das Gorbatschow-Experiment. Ziele + Widersprüche, Frankfurt am Main: Athenäum, 1989. ISBN 3-610-08527-4.