Liebe Freunde und Genossen, wir haben uns heute hier versammelt, um das Andenken unseres Freundes und Genossen Ernest Mandel zu ehren. Wir sind erschüttert über seinen Fortgang, der plötzlich und viel zu früh kam.
Wir, das sind die Mitglieder seiner Familie, besonders seine Frau Anne, mit der er Jahre voller Glück gemeinsam verbracht hat; das sind seine Genossen in der POS und der Vierten Internationale, für die er nicht nur ein politischer Führer war, sondern auch ein Aktivist unter Aktivisten, ein Freund, der um ihr persönliches und politisches Schicksal besorgt war.
François Vercammen
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Ernest Mandel war ein revolutionärer Kämpfer, aber er akzeptierte den, der sich, wie er selbst, im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf derselben Seite der Barrikade engagierte. Sicher war er ein heftiger Polemiker, fest überzeugt von seinen Ansichten, aber er wollte sein Gegenüber überzeugen und nicht vernichten.
Dieser Humanismus, diese Liebenswürdigkeit, diese menschliche Wärme war bei ihm kein äußerlicher psychologischer Anstrich, der, wie bei so vielen anderen, unter den harten Schlägen des Lebens in der heutigen Welt abplatzte. Bei Ernest hatte dieses Verhalten nach seinen Erlebnissen in der Jugend tiefe Wurzeln geschlagen.
Ernest wurde 1923 geboren, ein Jahr vor der schweren Niederlage der sozialistischen Revolution in Deutschland. Seine Eltern hatten sich bereits entschieden, ins Exil zu gehen, und lebten in Antwerpen, während seine Mutter die bekannte Umgebung in Frankfurt für seine Geburt vorzog.
Wirtschaftskrise, wachsender Faschismus, Kriegsgefahr und Armut in den Wohnvierteln des Volkes ließen den jungen Ernest die Seite wählen; dabei half ihm die Familientradition eines demokratischen, revolutionären Kommunismus. Im Kontakt mit diesen „vortrefflichen Antwerpener Arbeitern“, wie er sagte, traf Ernest die bewußte Arbeiterklasse. Aus ihrem Kampf schöpfte er die Kraft, um vor der ganzen Klasse seinen Geschichtslehrer Leo Michelsen, damals ein stalinistischer Führer, in der Frage der Moskauer Prozesse herauszufordern.
Hier traf er auch deutsche Emigranten, die den Kern der deutschen Sektion der Vierten Internationale ausmachten. Ernest lebte in einer fiebrigen und internationalistischen Atmosphäre: Versammlungen, Zusammenstellung einer Zeitung, die für das deutsche Volk unter Hitlers Joch bestimmt war, Briefkontakt mit Trotzki.
Hier entstand seine später unlösbare Verbundenheit mit der deutschen Arbeiterklasse, mit der geschlagenen und mit künftigen deutschen Revolutionen, mit Marx und der deutschen marxistischen Tradition Rosa Luxemburgs. Seine Hoffnung auf eine sozialistische Erneuerung in Ostdeutschland beim Zusammenbruch der stalinistischen Bürokratie 1989/90 hängt damit zusammen. Seine Überzeugung 1944/45, daß die Zeit für die deutsche Arbeiterklasse nach Hitlers Sturz gekommen sei, hatte hier ihre rationelle Ursache.
Aber auch seine Verwegenheit. In diesen dunkelsten Stunden seines persönlichen und politischen Lebens, im Krieg, als er Flugblätter an deutsche Soldaten im besetzten Belgien verteilte und zum ersten Mal verhaftet wurde, da war es sein Wille, mit den deutschen Bewachern zu reden. Die erwiesen sich als frühere Mitglieder der verbotenen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, was es ihm ermöglichte zu fliehen. Dasselbe im April 1945, als er aus einem Arbeitslager in Deutschland flüchtete. Es war sein persönlicher Mut, aber auch seine internationalistische und revolutionäre Überzeugung, die ihn tausend Hindernisse überwinden ließ, bis er mit seinen Genossen in Belgien wieder vereint war.
Sein unerschütterlicher und ansteckender Optimismus, der uns so inspirierte, kam aus dieser harten Erfahrung des Lebens, seines Lebens. Nicht von einem blinden Glauben an das Gute im Menschen und nicht aus Vorlesungen irgendwelcher in die Unausweichlichkeit des Fortschritts verliebter Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts. Sondern von seiner früheren Erfahrung, daß Menschen, seien sie schwach oder stark, mutig oder feige, niedergeschlagen oder revolutionär, empfänglich dafür sind, bewußt zu werden und unter den harten sozialen Bedingungen des Kapitalismus zu kämpfen. Und daß die Bewußtesten, Motiviertesten, best Organisierten „Wunderwerke ausrichten“ können, wenn sie es schaffen, sich mit ihnen zu vereinigen, ihre Herzen zu gewinnen, um eine revolutionäre Organisation in der Arbeiterwelt aufzubauen.
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Ernest war revolutionärer Internationalist in Herz und Seele. Konkrete Solidarität, Hilfe für die Opfer der Repression, politische Analyse und strategische Debatten waren Ausdruck davon, über die Grenzen.
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1950 reiste er nach Jugoslawien als Mitglied einer Arbeitsbrigade, die von der Vierten Internationale entsandt wurde, als Stalin drohte, die Revolution zu erwürgen, die sich seiner Kontrolle entzog und zur sozialistischen Selbstverwaltung überging.
Er war begeistert und verwirrt von der Gruppe Jugendlicher, die 1959 Kubas Diktator Batista in die Flucht jagte und den Weg zum Sozialismus betrat. Mehrmals besuchte er Kuba - um zu sehen, zu lernen und zu diskutieren. Großer Anlaß zur Freude war die Einladung von Che Guevara, sich an seinem politischen Kampf - im Herzen der castristischen Führung - zu beteiligen bei der Frage, welcher ökonomische Weg eingeschlagen werden solle. Das war 1963/64.
Er, der nie aufhörte zu glauben, daß Westeuropa die besten Aussichten für eine sozialistische Revolution bot, erlebte ohne Zweifel seine intensivsten Stunden politischen Fiebers in den Jahren 1968-74. Es begann in Paris, auf Massenversammlungen, auf Untergrundtreffen der Partei und auf den Barrikaden mit seinen französischen Genossen. Aber er hielt auch unzählige Versammlungen in Portugal und Italien ab, wo sich ähnliche Kämpfe abspielten, und an anderen Stellen der Welt, um den „revolutionären Sozialismus auf dem Marsch“ zu verbreiten.
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Die Botschaft, die er uns brachte, war die von Kampf und Hoffnung. Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit; die Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft für die Menschheit. Aber er war nicht blind für die enormen Hindernisse, die sich heute mehr als gestern auf diesem Weg erheben.
Die Menschheit steht vor einer Entscheidung: Sozialismus oder Barbarei. Wie diese Frage beantwortet wird, hängt vom Volk selbst ab und besonders von seinen bewußtesten und aktivsten Teilen.
Er hatte einen unerschütterlichen Glauben an die Eigenaktivität der Arbeiterklasse, der Frauen, der Jugend, daß sie sich fähig zeigen würden, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Er hatte den unerschütterlichen Glauben, daß die unterdrückte und ausgebeutete Menschheit nicht für ewig Ungerechtigkeit und Ungleichheit ertragen würde, ohne Widerstand zu leisten, zu kämpfen, zu revoltieren. Selbst wenn die Aussichten für den Sozialismus heute alles andere als gut sind, so sind die Gründe, um gegen den Kapitalismus zu kämpfen, umso zahlreicher und stärker.
Ernest Mandel hatte den unerschütterlichen Glauben, daß unter diesen Verhältnissen früher oder später - und er erlebte es selbst mindestens dreimal in seinem Leben - die Arbeiterbewegung unausweichlich zu neuem Leben erwachen und sich wieder in den Kampf werfen würde.
Er hatte den unerschütterlichen Glauben an die Notwendigkeit einer revolutionären sozialistischen Partei in jedem Land und einer revolutionär sozialistischen Internationale auf Weltebene, um die bewundenswerten Kämpfe, die Volk und Arbeiterklasse in jedem Fall führen werden, zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Das war Ernest Mandels Überzeugung, und es ist auch unsere. Deshalb wird sein Kampf, unser Kampf, weitergehen - unerschütterlich.
François Vercammen ist Führungsmitglied der Parti Ouvrier Socialiste (POS) in Belgien und der Vierten Internationale. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 287 (September 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz