Trotzki

Zu Trotzkis Analyse des Faschismus

Ernest Mandel

Der Stalinismus als Sieg der politischen Konterrevolution in Rußland war im wesentlichen das Ergebnis einer Teil­niederlage der Weltrevolution in der Zeit von 1918 bis 1923. Diese Niederlage lastete als schwere Bürde auf den gro­ßen Klassenkämpfen von 1923 bis 1940 und beeinflußte deren Ausgang. In großen Teilen der Welt war die Bilanz dieser Kämpfe vernichtend. Der Faschismus oder Militärdiktaturen gleichen Typs wurden fast in der ganzen nördlichen Hemisphäre errichtet, mit der entscheidenden Ausnahme der USA. Kanadas. Großbritanniens und Mexikos. Die Ermordung Trotzkis im August 1940 in Mexiko durch einen Agenten der GPU war sym­bolischer Ausdruck einer reaktionären Entwicklung globalen Ausmaßes, die in der Barbarei des Zweiten Weltkriegs ihren Höhepunkt fand.

Der Faschismus als Sieg der politischen Konterrevolution in den imperialistischen Ländern war für das zeitgenössische ge­sellschaftspolitische Denken — einschließlich des marxistischen — ebenso schwierig in eine Konzeption einzuordnen wie der Stalinismus. Und wieder einmal hat Trotzki seine Zeitgenossen bei der Erklärung dieses Phänomens um Haupteslänge überragt. Kein anderer Denker hat die Natur des Faschismus so klar erfaßt und die Gefahr, die er für die Arbeiterklasse und für die menschliche Zivilisation darstellte, so klar erkannt. Niemand außer ihm hat die Arbeiterklasse beizeiten so klar gewarnt und darauf hingewiesen, daß es notwendig sei, sich gegen diese Ge­fahr zu stemmen, wobei er zugleich die für diesen Widerstand gebotene Taktik vorschlug. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es vielleicht mit Ausnahme von Marx' Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 [1850] und Der achtzehnte Bru­maire des Louis Bonaparte [1852] keine marxistische Analyse zeitgenössischer politischer Fragen gibt, die hinsichtlich Tiefe und Klarheit mit Trotzkis Schriften über das Deutschland von 1929 bis 1933 verglichen werden könnte.

Bei seinem Herangehen an das Phänomen des Faschismus kam Trotzki einmal mehr sein tiefes Verständnis des Gesetzes der ungleichen und kombinierten Entwicklung zu Hilfe, die auf die Klassengesellschaft angewandte Synthese der materialisti­schen Dialektik. Wie einige andere marxistische Autoren (z.B. Ernst Bloch und Kurt Tucholsky) hat Trotzki die partielle Un­gleichläufigkeit der sozioökonomischen und ideologischen For­men verstanden, d. h. die Tatsache, daß sehr starke Ideen, Ge­fühle und irrationale Vorstellungen vorkapitalistischer Epochen in großen Teilen der bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen (vor allem in der von der Verarmung bedrohten Mittelklasse, aber auch zum Teil in den Reihen des Bürgertums, der deklassierten Intellektuellen und sogar innerhalb gewisser Schichten der Ar­beiterklasse). Besser als irgendein anderer hat er folgende ge­sellschaftliche und politische Schlußfolgerungen gezogen: Unter den Bedingungen des wachsenden Drucks der zunehmend un­überwindlichen sozioökonomischen Klassengegensätze könnten sich bedeutende Teile der Mittelklasse und andere oben er­wähnte soziale Schichten — menschlicher Treibsand, wie Trotzki sie treffend bezeichnete — zu einer mächtigen Massen­bewegung verschmelzen, die, hypnotisiert von einem charisma­tischen Führer und von Teilen der Bourgeoisie und deren Staats­apparat bewaffnet, als Rammbock dienen könnte, um die Arbei­terbewegung durch Einschüchterung und blutigen Terror zu zer­brechen.

Das würde den Weg frei machen für eine kurzfristige kapitali­stische „Lösung“ der großen Krise der bürgerlichen Gesell­schaft, eine auf der Überausbeutung der Arbeiterklasse beru­hende Lösung, die sich mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung als unmöglich erwiesen hatte. Aber auf lange Sicht könne in ei­nem einzelnen Land ein Zustand stabiler kapitalistischer Ver­hältnisse mit solchen Mitteln nicht wiederhergestellt werden. Sobald die Arbeiterklasse niedergeschlagen und eine durch Gewalt zusammengehaltene bürgerliche Gesellschaft etabliert ist, werde der Faschismus seine terroristische Dynamik nach außen wenden und versuchen, neue Kolonien zu erobern, ganze Völker in die Sklaverei zu führen, seine imperialistischen Kon­kurrenten zu unterwerfen, die Sowjetunion zu zerschlagen und die Weltherrschaft zu erringen.

Diese tiefschürfende Analyse des Faschismus vereint und kombiniert verschiedene analytische Elemente. Jedes dieser Elemente bewahrt sich eine relative Autonomie, die den beson­deren Aspekten der politischen und gesellschaftlichen Wirklich­keit der imperialistischen Länder in der Zeit tiefgehender sozio­ökonomischer Krisen entspricht. Dabei wird ihre Kombination — im Unterschied zu einem einfachen Aneinanderreihen — zu einem Instrument, dessen Anwendung es ermöglicht, die Totali­tät des Phänomens — Aufstieg des Faschismus — zu verstehen.

Die faschistische Ideologie und faschistische (oder faschi­stoide) politische Gruppierungen haben sich unabhängig von unmittelbaren Bedürfnissen der kapitalistischen Klasse von dem Zeitpunkt an entwickelt, wo die von der Macht der kapitalisti­schen Monopole und der Macht der Gewerkschaften erdrückten Mittelklassen der Verbitterung und der Hoffnungslosigkeit anheimgefallen waren. (Die relative Unabhängigkeit ihrer Ideologie ist eine andere Sache. Der Rassismus ist in der für die kolonialimperialistische Epoche typischen bürgerlichen Ideologie tief verwurzelt, wenngleich er mit Resten vorbürgerlicher Vorstellungen vermischt ist.) Während einer gewissen Anfangsphase gibt es mehrere solcher Gruppierungen, so daß es zwischen den rivalisierenden „Führer“-Kandidaten zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Nur eine bestimmte Kombination von Umständen kann das Monopolkapital dazu veranlassen, den Faschismus tatsächlich großzügig zu unterstützen. Diese Umstände sind bei einer Vertiefung der wirtschaftlichen Krise gegeben, wenn das Großkapital ein zwingendes Bedürfnis hat, wesentliche Elemente der bürgerlichen Demokratie preiszugeben, wenn das objektive Bedürfnis größerer Konzentration der politi­schen Macht besteht, um eine gewisse Anzahl von drängenden wirtschaftlichen Zielen zu erreichen, und wenn für mindest ei­nen der Diktator-Kandidaten ein gewisses Maß an öffentlicher Unterstützung vorhanden ist.

Vom Standpunkt der allgemeinen, langfristigen Interessen der kapitalistischen Klasse und der relativen Stabilität der bürgerli­chen Gesellschaft ist das bürgerlich-parlamentarische Regime jeder Form von Diktatur vorzuziehen, von der faschistischen gar nicht zu reden. Die Vorherrschaft der bürgerlichen Klasse beruht auf einer spezifischen Verquickung von Repressions- und Integrationsmechanismen. Je geringer das Gewicht der letzteren ist, desto größer ist auf lange Sicht die gesellschaftliche Instabi­lität. Der Faschismus und andere extreme Formen der bürgerli­chen Diktatur stellen einen dauernden Belagerungszustand oder sogar eine Situation permanenten Bürgerkriegs dar (eine beson­dere Form des Bürgerkriegs allerdings, in dem das eine Lager dauernd entwaffnet und der Macht des anderen Lagers ausgelie­fert ist). Diese Regierungsformen sind für das Bürgertum viel gefährlicher, denn sie tendieren dahin, die sozialen Spannungen zu erhöhen und in einer Zeit verschärfter Krisen zu einem explo­siven Punkt zu treiben, ohne daß es irgendwelche Mechanismen der Klassenversöhnung gibt.

In der Tat fanden bis jetzt alle siegreichen sozialistischen Re­volutionen in Ländern statt, wo ein diktatorisches Regime dieser oder jener Art während längerer Zeit existiert hatte (der Zaris­mus; im besetzten Jugoslawien nach einer monarchistischen Diktatur eine faschistische; die Diktatur Chiang Kai-sheks; die Diktatur von Batista; von Bao-Dai, von Diem und Thieu in Süd­vietnam usw.).

Der objektive Widerspruch vom Standpunkt der bürgerlichen Klasseninteressen besteht jedoch in der Tatsache, daß, während der langfristige soziale und politische Preis der repressiven Dik­taturen hoch und gefährlich ist [1], der ökonomische Preis für die bürgerliche Demokratie auf kürzere oder mittlere Frist unter gewissen Umständen zu hoch werden kann. In den industriell entwickelten Ländern schließt die bürgerliche Demokratie eine entwickelte Arbeiterbewegung (in erster Linie gewerkschaftlich organisierter Massen) ein. Das hat zur Folge, daß die Ware Ar­beitskraft nicht individuell, sondern kollektiv verkauft wird. Unter solchen Bedingungen ist der Preis dieser Ware viel höher als dort. wo die Arbeiterklasse atomisiert ist. Zu diesem höhe­ren Preis kommen noch weitere Kosten für das Kapital, wie so­genannte Sozialausgaben, die den Mehrwertanteil am Nettopro­dukt vermindern. Wenn die Gesamtheit des produzierten Neu­wertes stagniert oder gar zu fallen beginnt als Folge einer un­günstigen Veränderung der innerimperialistischen Konkurrenz­verhältnisse nach einem verlorenen Krieg, wegen einer ernsten Wirtschaftskrise oder infolge einer Kombination all dieser Fak­toren, dann kann die materielle Möglichkeit, diesen Preis zu zahlen, schwinden. Das Bürgertum hat keine andere Wahl, als zu versuchen, sich der bürgerlichen Demokratie zu entledigen.

Wir fügen hinzu, daß die Klasse der Kapitalisten oft, wenn nicht immer, in dieser Frage geteilter Meinung ist. Man kann die These aufstellen, daß jene Sektoren, die direkt für den Mas­senkonsum produzieren, zurückhaltender sind, wenn es darum geht, eine offene Wendung zur Finanzierung und Unterstützung einer faschistischen Machtergreifung zu vollziehen, während die Groß- und Schwerindustrie, die Produktions- und Rüstungs­güter herstellt, aus naheliegenden Gründen eher geneigt ist, eine solche Unterstützung ins Auge zu fassen. [2]

Wir sagten, das Bürgertum könnte versuchen, sich der bür­gerlichen Demokratie zu entledigen. Aber die Errichtung eines faschistischen Regimes hängt nicht nur davon ab, was innerhalb des Kleinbürgertums und innerhalb der kapitalistischen Klasse vor sich geht bzw. von der Art und Weise, wie diese Dinge zwi­schen ihnen geregelt werden. Sie hängt weitgehend auch davon ab, was im Lager der Arbeiterklasse geschieht, d. h. von der Reaktion der organisierten Arbeiterbewegung.

Im Gegensatz zu dem „menschlichen Treibsand“, den ge­wisse Führer-Kandidaten in nicht zu unterschätzenden Mengen auf ihre Seite bringen können, verfügt die moderne Arbeiter­klasse aller industriell entwickelten Länder über ein enormes Potential gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Macht. Alle schöpferischen und produktiven Funktionen der Gesellschaft sind bei ihr direkt oder bei immer enger mit ihr ver­bundenen sozialen Schichten konzentriert. In den meisten dieser Länder waren die kulturellen und politischen Massenorganisa­tionen der Arbeiterklasse sehr aktiv, teils bis Ende der zwanzi­ger oder anfangs der dreißiger Jahre. Sie vereinten Hunderttau­sende, wenn nicht Millionen von Menschen, die fähig waren, mit Enthusiasmus und Hingabe für die gemeinsamen Interessen der Klasse zu kämpfen. Und in all diesen Ländern gab es eine große und mächtige Gewerkschaftsbewegung, die imstande war. die kapitalistische Wirtschaft zu blockieren, und die poten­tielle Kraft besaß, den kapitalistischen Staat selbst zu paralysieren.

Um einen solch starken Gegner anzugreifen, müssen die be­wußten führenden Schichten der Bourgeoisie nicht nur in einer aus oben angeführten Gründen ausweglosen Lage sein, sondern sie müssen auch die Überzeugung haben, daß sie zumindest eine Chance haben, am Ende nicht Kopf und Kragen zu verlieren —als Resultat der gewaltigen Kraftprobe, ohne die die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie unmöglich erscheint. Jeder Irrtum bei diesen Überlegungen, jede Fehleinschätzung des Kräftever­hältnisses, würde für die kapitalistische Klasse verheerende Fol­gen haben. Sie könnten vom individuellen wie vom gesellschaft­lichen Standpunkt einem Selbstmord gleichkommen. Barcelona, Madrid, Valencia und Málaga lieferten im Juli 1936 diesbezüg­lich ein Lehrbeispiel. [3]

In einer Zeit zunehmender faschistischer Gefahr, aber noch vor der Machtergreifung widmen die bedeutendsten Köpfe des Großbürgertums allen Vorgängen innerhalb der Arbeiterklasse und in der organisierten Arbeiterbewegung, die mit der faschi­stischen Gefahr in Zusammenhang stehen, die größte Aufmerk­samkeit. Tatsächlich kommt ihre Analyse der im Gang befindli­chen Veränderung des Kräfteverhältnisses jener der revolutionä­ren Marxisten aus gleichlaufenden, wenn auch entgegengesetz­ten Gründen recht nahe.

Jedes Anzeichen von gemeinsamem und starkem Widerstand, das im Lager der Arbeiterklasse sichtbar wird, jeder Hinweis auf eine entschiedene Orientierung auf massenhafte bewaffnete Selbstverteidigung, jedes Zeichen wachsender Kampfbereit­schaft und entschlossenen Willens, sich der faschistischen Bestie um jeden Preis zu erwehren, vermehrt das Zögern und die Zwei­fel des Großkapitals, ob es der Weisheit letzter Schluß sei, eine Politik der entscheidenden Kraftprobe zu verfolgen.

Umgekehrt jede Entwicklung zur Spaltung, zur Passivität oder Resignation der Arbeiterbewegung, jeder bedeutende takti­sche Erfolg der Faschisten, der nicht auf entschiedenen Wider­stand gestoßen ist oder keinen Gegenangriff auslöst, jedes An­zeichen dafür, daß die Führer der Massenorganisationen trotz ihrer Phraseologie am Ende vor dem Faschismus kapitulieren und die Massen nicht imstande sein werden, eine spontane Ge­genoffensive gegen den faschistischen Angriff zu führen, all diese Symptome werden das Großkapital zu der Überzeugung gelangen lassen, daß der Preis für den Wechsel des Regimes geringer ist, als es befürchtet hatte. Solche Anzeichen der Schwäche beschleunigen den Prozeß der Machtergreifung durch den Faschismus, weil sie zeigen, daß der Bürgerkrieg eine ein­seitige Sache und die Niederlage der Arbeiterklasse schwer und dauerhaft sein wird. [4]

Von daher ergibt sich die absolute Notwendigkeit, sich der Entfaltung des Faschismus von Anbeginn an gemeinsam, ent­schlossen und energisch entgegenzustellen durch den Kampf zur Verteidigung der freien Organisationen der Arbeiterklasse (die­ser „Keimzellen der proletarischen Demokratie innerhalb der bürgerlichen Demokratie“, wie Trotzki sie zu Recht nannte), des Streikrechts und aller anderen grundlegenden demokrati­schen Freiheiten, ohne die die Arbeiterklasse für eine ganz hi­storische Zeitspanne entscheidend geschwächt sein (und bedeut­same wirtschaftliche Nachteile erleiden) würde.

Eine einheitliche, entschlossene und energische Antwort löst eine Kettenreaktion aus, die das gesamte politische Klima des Landes verändert. Es läßt beim Kleinbürgertum Zweifel über die realen Siegesaussichten der Faschisten aufkommen, schwächt somit deren Massenbasis und verbessert die Chance, nicht unerhebliche Teile der Mittelklassen zu neutralisieren, wenn nicht gar für die Sache der Arbeiterbewegung und des So­zialismus zu gewinnen. Um das zu erreichen, muß man aller­dings ein korrektes, auf diese gesellschaftlichen Sektoren ausge­richtetes Programm entwickeln. Das Kleinbürgertum muß das Gefühl haben, daß es der Arbeiterklasse ernst ist mit ihrem Ent­schluß, gegen die faschistische Lösung des Problems der politi­schen Macht eine Alternative zu bieten.

Die Kapitalisten werden durch traurige Erfahrungen erken­nen, daß das in die faschistischen Banden investierte Kapital eine zumindest ungewisse Rendite hat, daß es eventuell ganz verloren ist und weitere schwere Verluste auf diesem Gebiet nachfolgen werden. Folglich werden sie eine „zurückhaltende Taktik“ anwenden, und ihr Wille, die Faschisten zu unterstüt­zen, tritt in den Hintergrund und ist nicht länger Hauptelement ihrer politischen Orientierung.

Was die Arbeiterklasse betrifft, so wird jeder taktische Erfolg im Kampf gegen die Faschisten die Einheit in ihren Reihen festi­gen, ihre Kampfbereitschaft und ihre Entschlossenheit stärken. Ihr Vertrauen in ihr eigenes Schicksal und in eine sozialistische Alternativlösung der gesellschaftlichen Krise, die das Land er­schüttert, wird weiter wachsen. Auf diese Weise wird der Boden bereitet für eine mächtige soziale und politische Gegenoffen­sive, die die sozialistische Revolution sehr rasch auf die Tages­ordnung setzen kann.

All diese Chancen und Möglichkeiten hängen von der Einheit und Unabhängigkeit der Arbeiterklasse ab. Wenn die Klasse politisch gespalten bleibt, wenn die Sozialdemokraten und Kom­munisten (Stalinisten) sich gegenseitig bekämpfen, anstatt ihre Reihen im Kampf gegen den Faschismus zu schließen, wenn die Kommunisten (Stalinisten) glauben, daß sie erst die Sozialdemo­kraten schlagen müssen, bevor sie sich mit Erfolg gegen die Faschisten wenden, wenn die Sozialdemokraten meinen, daß es unmöglich sei, die „faschistische Gewalt“ zu neutralisieren, solange sich die „kommunistische Gewalt“ entwickelt, wenn also der einheitliche Einsatz der Klasse in diesem historischen Kampf im Namen abstrakter und sektiererischer „Prinzipien“ versäumt wird, wird die Chance immer geringer, einen ange­messenen, entschiedenen und siegreichen Widerstand gegen den wachsenden faschistischen Terror (der vom bürgerlichen Staats­apparat ermutigt und immer mehr vom Großkapital unterstützt wird) zu leisten. Man wird im Gegenteil erleben, wie eine Ket­tenreaktion von Zaudern, Desorientierung und Demoralisierung schließlich in die Niederlage führt. So geschehen in Deutschland trotz der zahlreichen Warnungen Trotzkis, die auch über die trotzkistischen Kreise hinaus ein Echo in anderen oppositionel­len kommunistischen Strömungen fanden, wie in der KPO unter Führung von Brandler und Thalheimer, sowie in der SAP, einer linken Abspaltung der SPD.

Die deutsche Katastrophe — die kampflose Kapitulation der größten Arbeitermassenorganisationen der Welt — war ein schwerer Schlag gegen das Selbstvertrauen und das Klassenbe­wußtsein der deutschen und internationalen Arbeiterklasse. Die negativen Auswirkungen dieser Niederlage waren viel schlim­mer als die unmittelbaren wirtschaftlichen und politischen Fol­gen: Die Menschheit mußte einen schrecklichen Preis bezahlen für den Irrsinn eines Otto Wels und eines Stalin (Thälmann war in diesem Falle nur ein unglückseliges Werkzeug Stalins). Sie weigerten sich, eine von der Spitze bis zur Basis reichende mili­tante und bewaffnete Einheitsfront der deutschen Arbeiterbewe­gung zu schaffen, obwohl dies sogar nach dem 30. Januar 1933 noch absolut möglich und von großer Wirkung gewesen wäre. [5]Niemals zuvor wurde die entscheidende Rolle der Führung —und verräterischer Führungen — im Klassenkampf, des berühm­ten „subjektiven Faktors“ in der Geschichte, für Marxisten kla­rer demonstriert als von 1919 bis 1933 in Deutschland.

Aber die politische Unabhängigkeit der Klasse ist eine ebenso wichtige Bedingung für einen siegreichen Widerstand gegen den Faschismus wie die Arbeitereinheitsfront. Während im Falle Deutschlands die verheerenden Folgen der Spaltung im Vorder­grund stehen, treten im Falle Frankreichs und Spaniens in den Jahren 1934 bis 1938 die Folgen der fehlenden politischen Un­abhängigkeit der Klasse krasser zutage. Trotzki hat auch diese Erfahrungen einer ins einzelne gehenden Analyse unterzogen.

Die gegen die Nazis erlittene Niederlage der deutschen Arbei­terklasse, die schändliche kampflose Kapitulation der sozialde­mokratischen, stalinistischen und gewerkschaftlichen Führun­gen übte eine traumatische Wirkung auf die internationale Ar­beiterbewegung aus. Trotzki hatte das richtig vorausgesehen, und seit dem Frühjahr 1933 versuchte er verzweifelt, seine kleine Gruppe von Anhängern in diese Entwicklung einzuschal­ten.

Das erste Ergebnis dieses Schocks war ein unwiderstehlicher Drang nach der Schaffung einer Einheitsfront aller Arbeiteror­ganisationen gegen die faschistische Gefahr oder jede andere Form einer reaktionären Diktatur. Die von der Rechten vorge­tragene Offensive vom 6. Februar 1934 in Frankreich hat in der Tat zur Bildung einer Einheitsfront der sozialdemokratischen und Kommunistischen Partei geführt, die für die Dauer von mindestens drei Jahren das Kräfteverhältnis und die Dynamik der französischen Gesellschaft total umgekehrt hat. Die Kraft der Arbeiterklasse hatte sich sprunghaft erhöht. Schließlich führten der Generalstreik vom Juni 1936 und die Fabrikbeset­zungen Frankreich an die Schwelle einer sozialistischen Revolu­tion.

In Spanien hatte die reaktionäre Offensive von 1934, die ein rechtes, sich auf den Klerus und halbfaschistische Kräfte stüt­zendes Regime in den Sattel hob, einen mächtigen einheitlichen Gegenschlag der Arbeiterklasse ausgelöst. Er fand zunächst sei­nen Ausdruck in der gescheiterten Erhebung vom Oktober 1934 mit nachfolgendem ununterbrochenem Ansteigen der Massen­kämpfe in der ersten Jahreshälfte 1936. Er erreichte schließlich seinen Höhepunkt mit dem Beginn der sozialistischen Revolu­tion, die in fast allen großen Städten und in wichtigen Teilen des Landes als Antwort auf den militärisch-faschistischen Staats­streich vom Juli 1936 ausbrach.

Aber sowohl in Frankreich wie in Spanien wurde das enorme Potential dieses einheitlichen Vorstoßes der Arbeiterklasse in Kanäle abgeleitet, die mit der Aufrechterhaltung des Privatei­gentums und des bürgerlichen Staates durchaus zu vereinbaren waren. Es handelte sich hier in der Tat um eine von den sozial­demokratischen, stalinistischen und gewerkschaftlichen Büro­kraten (und in Spanien von bedeutenden Führern der starken anarchistischen Bewegung) bewußt verfolgte Politik der Klas­senzusammenarbeit.

Ab 1935 hatte die Kommunistische Internationale unter der Führung Stalins die alte menschewistisch-sozialdemokratische Strategie des kleineren Übels aufgegriffen, die Politik des Blocks mit dem „liberalen“ gegen das „reaktionäre“ Bürger­tum. Diese sogenannte Volksfrontpolitik, die mit einer tiefge­henden strukturellen Krise der kapitalistischen Wirtschaft und der gesamten bürgerlichen Demokratie einherging — einer Krise, die durch keinerlei Reformen gemildert werden konnte —, hatte nicht nur zur Folge, daß eine weitere historische Chance der Machteroberung durch die Arbeiter verlorenging. Diesmal trugen die Stalinisten die Schuld, wie 1918-23 die So­zialdemokraten (die gleiche Erfahrung wiederholte sich ein drit­tes Mal 1944-48 in Frankreich, in Italien und in Griechenland, und die Kommunistischen Parteien sind dabei, eine weitere Wie­derholung in Südwesteuropa vorzubereiten). Die Politik der Volksfront bedeutet auch, daß der Zusammenbruch der Arbei­terbewegung unter den Schlägen der Reaktion und des Faschis­mus nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben war.

In Spanien hatten die Faschisten den Bürgerkrieg erfolgreich fortführen können, nachdem Stalinisten und Reformisten die soziale Revolution im republikanischen Lager erstickt hatten. In Frankreich hatte die enorme Kraftentfaltung der Arbeiterklasse sich zersetzt durch die Kapitulation der aufeinanderfolgenden Volksfrontregierungen vor dem Großkapital und durch die da­durch verursachte Enttäuschung und Entmutigung der Arbeiter. Kaum zwei Jahre nach dem grandiosen Generalstreik vom Juni 1936 kam es zu der Niederlage des Generalstreiks von 1938, zur Unterdrückung der von den Arbeitern errungenen Freiheiten, zur Illegalisierung der Kommunistischen Partei, zur Paralysie­rung der Gewerkschaften und zur schändlichen Selbstliquidie­rung der IV. Republik, als das senile bonapartistische Regime des Marschalls Pétain ohne jede Reaktion der Arbeiter an die Macht kam.

Es ist kein Zufall, daß die vor Hitlers Machtergreifung geübte scharfe Kritik Trotzkis an der Spaltungspolitik der Sozialdemo­kraten und Stalinisten heute in breitesten Kreisen Zustimmung und Bewunderung findet. [6] Dagegen stoßen seine nicht weniger überzeugenden Darlegungen der verheerenden Folgen der Volksfront vielfach auf Unverständnis und werden von den mei­sten Historikern und Kritikern, seien sie Trotzki freundlich oder feindlich gesonnen, bestritten. [7] Denn der Faschismus stellt eine physische Gefahr nicht nur für das Überleben von revolutionä­ren Organisationen dar, sondern auch für die gemäßigtesten so­zialdemokratischen Organisationen. Er wird nicht nur von der Vorhut der Arbeiterklasse, sondern auch von einem großen Teil der kleinbürgerlichen Intelligenz und von der gesamten Arbei­terbürokratie als barbarische Bedrohung angesehen. Dies ist ja gerade die materielle Grundlage einer Einheitsfrontpolitik von der Spitze bis zur Basis.

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Helmut Dahmer: Was ist der Faschismus, und wie kann man ihn bekämpfen?, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Manfred Behrend: Trotzki zum Faschismus, Inprekorr Nr. 386/387 (Januar/Februar 2004)
Manfred Behrend: L. D. Trotzki und der deutsche Faschismus, Inprekorr Nr. 238 (August 1991)
 

Die Volksfront dagegen ist nichts anderes als eine Variante der Politik der Klassenversöhnung und Klassenzusammenarbeit, wie sie von den reformistischen Führern und von der Arbeiter­bürokratie seit Beginn dieses Jahrhunderts betrieben wird. Sie hat auch allgemein die Zustimmung der meisten linken Intellek­tuellen gefunden. Für sie würde die Anerkennung der von Trotzki geübten Kritik nicht nur bedeuten, daß sie ihrer eigenen Vergangenheit und Tradition abschwören müßten, sondern in vielen Fällen auch, daß sie sich direkt gegen ihre eigenen mate­riellen Interessen wenden würden.

Wie dem auch sei, für die Marxisten und für die fortgeschrit­tenen Arbeiter ist es heute entscheidend zu verstehen, daß ein logischer Zusammenhang zwischen Trotzkis Kampf für die Ein­heitsfront in Deutschland 1929-33 und seinem Kampf gegen die Volksfront in Frankreich und Spanien 1935-38 besteht. Der Aufstieg des Faschismus zu einer unmittelbaren Gefahr für die organisierte Arbeiterbewegung fällt zeitlich mit einer tiefgehen­den strukturellen Krise der bürgerlich-parlamentarischen Demo­kratie zusammen, die mit einer schweren strukturellen Krise der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verbunden ist. Wer unter solchen Umständen den Widerstand gegen die faschistische Gefahr um jeden Preis mit der Verteidigung der bürgerlich-parlamentarischen Demo­kratie verbindet, setzt alles auf das Überleben von Institutionen, die sich bereits im Todeskampf befinden. Wiewohl es richtig ist, alle politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Ar­beiterklasse, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, gegen die Reaktion zu verteidigen, ist es selbstmörderisch, das Ziel dieser Verteidigung im engen Rahmen der in Zersetzung begrif­fenen Institutionen des bürgerlich-demokratischen Staates zu halten.

Wenn die in der siegreichen Verteidigung der Arbeiterorgani­sationen und der demokratischen Freiheiten zusammengefaßte Kraft nicht als Katapult für eine revolutionäre, sozialistische Lösung der Krise der bürgerlichen Demokratie und Gesellschaft genutzt wird, dann wird diese Kraft rasch schwinden und sich zersetzen. Nach einem zeitweiligen Rückzug wird die faschistische oder halbfaschistische Reaktion eine neue Offensive gegen die wegen des Ausbleibens positiver Ergebnisse ihrer gewalti­gen kämpferischen Anstrengungen entmutigte Arbeiterklasse beginnen. Es gibt keine Zukunft für die bürgerliche Demokratie in Situationen schwerster Krise des Kapitalismus, die die Kapi­tal­verwertung an den Rand der Paralyse bringt. Sie wird entwe­der durch die proletarische Demokratie ersetzt oder unter einer Diktatur von rechts zusammenbrechen. Die Weigerung, diese Lehre zu beherzigen, hat in Spanien (und später in Chile) zu Niederlagen geführt, die nicht minder tragisch. blutig und dau­erhaft waren als jene, die in Italien und Deutschland durch die Spaltung der Arbeiterklasse verursacht wurden.

Die Überschrift stammt von der Redaktion. Es handelt sich um das achte Kapitel („Der Faschismus“) aus: E. Mandel, Trotsky. A Study in the Dynamic of His Thought, London 1979, hier wiedergegeben nach der deutschen Übersetzung: Leo Trotzki, Eine Einführung in sein Denken, Berlin 1981, S. 102-115.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 230 (September/Oktober 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] [Die Worte „während der langfristige soziale und politische Preis der repres­siven Diktaturen hoch und gefährlich ist“ werden hier nach der französischen Übersetzung (Trotsky, Paris 1980, S.111) eingefügt, sie fehlen in der deutschen Ausgabe.]

[2] Diese These wird im einzelnen verteidigt von Daniel Guérin, Fascisme et grand capital, Paris 1969.

[3] Die spanische Bourgeoisie war einem großen Irrtum erlegen, als sie im Jahre 1936 glaubte, es handle sich bei dem militärisch-faschistischen Staatsstreich um einen Spaziergang. Die Folge war, daß sie im größten Teil des Landes im Laufe weniger Tage beinahe die Macht verloren hätte.

[4] Es ist interessant festzuhalten, daß die Reichswehr eine abwartende Haltung einnahm, um zu sehen, welche Reaktion die im Januar 1933 organisierte Provo­kation der SA vor dem Berliner Parteilokal der KPD bei der KPD auslöste, be­vor sie schließlich grünes Licht für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gab.
Bei einem nach seinem erfolgreichen Staatsstreich gegebenen Interview sagte General Pinochet, er habe nicht geglaubt, daß der Sturz der Regierung Allende keinerlei Risiko in sich berge. Diese Meinung habe er sich erst zu eigen ge­macht, nachdem er die passive Haltung der Arbeitermassenorganisationen an­läßlich des ersten fehlgeschlagenen Putsches, des sogenannten Tankazo, unter­sucht hatte.

[5] Zahlreiche Belege für den großen Widerstandswillen der sozialdemokrati­schen Arbeiter und für ihren Willen zur Einheitsfront mit der KPD finden sich u.a. in E. Matthias/R. Morsey (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1979, S. 151-165.

[6] Nicos Poulantzas (Faschismus und Diktatur, München 1973) kritisiert die Faschismus-Theorie von Trotzki in zwei Punkten. Erstens: Indem Trotzki den Faschismus als einen Staat des „Bürgerkriegs“ charakterisiere, sei er dem glei­chen Irrtum unterlegen wie die Komintern, die im Faschismus eine Antwort auf eine Offensive einer „aufständischen“ Arbeiterklasse sah. Es ist offensichtlich, daß es sich hier um eine Entstellung der Position Trotzkis handelt. Er betrachtete den Faschismus als einen „einseitigen Bürgerkrieg“, d. h. als eine Offensive des Bürgertums, um die tatsächlich in der Defensive befindliche Arbeiterklasse nie­derzuschlagen. In seinem Eifer, den „Ökonomismus“ zu bekämpfen, versteht Poulantzas nicht den ökonomischen Zwang, der unter den gegebenen Bedingun­gen schwerster Gefährdung der Kapitalverwertung zu einem solchen einseitigen Bürgerkrieg führt. Zweitens wird Trotzki vorgeworfen, er habe die Art und Weise, wie sich das im Niedergang begriffene Bürgertum auf den Faschismus stützt, während ein gefestigtes Bürgertum eher die Sozialdemokratie unterstützt, in „mechanistischer Weise“ einander gegenübergestellt. Aber in Wirklichkeit hat Trotzki solche für eine ganze geschichtliche Epoche geltenden Erklärungen niemals abgegeben. Er hat in zahlreichen Wiederholungen mit Nachdruck dar­auf hingewiesen, daß es sich um spezielle, konjunkturelle Umstände handelt, unter denen sich das Großkapital dem Faschismus zuwendet.

[7] Siehe z. B. I. Deutscher, Trotzki, Bd. III, Stuttgart 1963, S. 262/263; M. Johnstone, „Trotzki and World Revolution“, Cogito, 1976, S. 10-14; I. Howe, Trotsky, London 1978, S. 130; L. Rapone, Trockij e il fascismo, Bari 1978, S. 350-356. Indessen ist anzumerken, daß Deutscher trotz seiner Kritik an Trotzkis Analyse der französischen und spanischen Situation die Volksfrontpoli­tik der lokalen Kommunistischen Parteien nicht unterstützte.