Geschichte

L. D. Trotzki und der deutsche Faschismus

Folgender Beitrag sollte in Nr. 3/1991 der Monatsschrift antiFA erscheinen, die der ostberliner Interessenverband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstandskampf (IVVdN) herausgibt. Uraltdenker an der Verbandsspitze bekamen Wind davon und sandten einen der Ihren, den Liberalen Carl Heinz von Brück, in die Redaktion. Der kam, sah und unterdrückte den bereits im Satz befindlichen Artikel. Neben dem Vorgang selbst ist wichtig, in welcher Situation das geschah: ein Jahr nach der schwersten Niederlage der deutschen Linken seit 1933 sowie zu einer Zeit, da die Treuhand durch Beschlagnahme finanzieller Mittel die IVVdN zu strangulieren versucht. Just in dem Moment also wird wider einen kommunistischen Revolutionär und Faschismusgegner Zensur geübt, dessen Beispiel heute noch zu unermüdlichem Kampf gegen jede Reaktion anspornt. Mit der Auffassung konfrontiert, der Zensurvorgang sei beschämend und zeuge von extremer Intoleranz, suchte sich von Brück mit Trotzkis Kritik an der SPD-Führung und Gegnerschaft zum Volksfrontkon­zept der Kornintern herauszureden, die nicht in unse­re Zeit passe. Zudem gehörten keine Kontroversen mit Stalin in eine antifaschistische Zeitschrift. Der Mann enttarnte seine seltsamen Argumentationen vollends, als er zudem noch einen Monate vorher gedruckten antiFA-Artikel mißbilligte. Darin waren die mehrjährige Kampagne des SED-Parteiapparats ge­gen einen Genossen sowie das Faktum angepran­gert worden, daß derselbe Apparat indirekt die Deut­sche Bank in einem Prozeß unterstützte, den sie nach Enthüllung ihrer Vergangenheit ab 1933 durch den Genossen gegen ihn führte.
Der Artikel über Trotzkis Haltung zum Fa­schismus paßte den Herren wohl ebenfalls deshalb nicht, weil sie weiterhin der stalinistischen Politik und Praxis nachtrauern, diese gern am Leben erhal­ten hätten. Sie handeln entsprechend kontraproduktiv zu dem, was zur Stärkung der Linken wirklich not­wendig ist.

Manfred Behrend

Nicht nur seiner eigenen Taten wegen nimmt Lew Dawidowitsch Trotzki (1879-1940) unter den großen Revolutionären einen besonde­ren Platz ein. Er ist auch der meistverleumdete Politiker der Geschich­te. Die Bourgeoisie haßt ihn als neben Lenin wichtigsten Führer der Oktoberrevolution und Schöpfer der Roten Armee. Rechte Sozialde­mokraten befehden in ihm den unerbittlichsten Kritiker ihres Klassen­verrats. Weitaus am heftigsten aber haben Trotzki jene angegriffen, die sich selber aufrechte Marxisten-Leninisten und revolutionäre Kommunisten nannten, tatsächlich jedoch den Marxismus fälschten, den Sozialismus schwächten und diskreditierten.

Dem Verleumdeten waren sie nicht seiner Fehler wegen gram, obgleich sie diese – so sein früheres Schwanken zwischen Menschewiki und Bolschewiki und seine anfängliche Naivität dem von Stalin installierten Parteiapparat gegenüber – nach Kräften ausnutzten. Sie attackierten ihn vielmehr dafür, daß er oft das Richtige sagte oder tat, so im Kampf gegen das Krebsgeschwür des Bürokratismus in der UdSSR und für sowjetische sozialistische Demokratie. Das Problem, das Stalin zu gegebener Zeit hieraus erwachsen konnte, hat dieser auf seine Art „gelöst“. Er sandte den Mann aus, der Trotzki im August 1940 in Coyoacan (Mexiko City) mit dem Eispickel umbrachte.

Hochgradig verleumderisch waren Behauptungen, die KPdSU (B) und Komintern zu Trotzkis Lebzeiten und danach über dessen Ver­hältnis zur äußersten Reaktion aufstellten. So erklärten sie, es gebe zwischen ihm und dem konservativen, Nazis begünstigenden briti­schen Politiker Chamberlain eine antisowjetische Einheitsfront. Ein anderer Spruch der Stalinisten lautete: „Trotzki ist die Hure des Fa­schismus“! Das Politbüro des ZK der KPdSU (B) ordnete nach dem ersten großen Moskauer Schauprozeß gegen ehemals oppositionelle Bolschewiki 1936 an, daß die „trotzkistisch-sinowjetistischen Schur­ken“ fortan nicht allein „als politische und organisatorische Vorhut der Bourgeoisie“, sondern auch „als Spione, Diversanten und Saboteure der faschistischen Bourgeoisie in Europa“ angesehen werden sollten. Ein international bekannter Parteifunktionär, Karl Radek, nannte sie bereits im Monat davor eine faschistische Bande und Trotzki ihren Hetman. Ebensowenig wie seine Lobhudelei auf Stalin bewahrte ihn das davor, im zweiten Moskauer Prozeß 1937 ebenfalls angeklagt und verurteilt sowie 1939 im Kerker ermordet zu werden.

Trotzkis tatsächliche Haltung zum Faschismus unterscheidet sich von den Verleumdungen gegen ihn wie Tag und Nacht. Da seine Arbeiten bis 1989 nicht in die DDR eingeführt oder dort verbreitet werden durften, sind auch die Aussagen zu diesem Thema wenig bekannt. Ich gebe deshalb einige Zitate ausführlicher wieder, als es sonst der Fall wäre.

1932 äußerte sich Trotzki in Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats zur historischen Funktion des Faschismus: „Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über dem Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen hinabgestoßen zu werden, organisiert und militarisiert sie unter Deckung des offiziellen Staates mit den Mitteln des Finanzkapitals und treibt sie zur Zertrüm­merung der proletarischen Organisationen an … Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwun­gener Zersplitterung zu halten. Physische Ausrottung der revolutionä­ren Arbeiterschicht genügt hierzu nicht. Es kommt darauf an, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines Dreivierteljahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerk­schaften zu vernichten. Auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei.“

Die rechten deutschen Sozialdemokraten hat Trotzki stets deswe­gen angegriffen, weil sie in und nach der Novemberrevolution von 1918 das Kapital vor dem Sozialismus retteten. Auch in der eben zitierten Schrift übte er an ihnen Kritik, warnte aber gleichzeitig davor, die SPD mit Stalin als „Zwillingsbruder des Faschismus“ oder als „sozialfaschistisch“ zu verteufeln und so die Spaltungstendenzen in der Arbeiterbewegung zu vertiefen. „Es gibt ein (soziales) Niveau, unter das Deutschlands Arbeiterklasse sich nicht freiwillig und für lange hinabdrücken lassen kann“, konstatierte er. „Indes will das um seine Existenz ringende bürgerliche Regime dieses Niveau nicht hinnehmen. Brünings Notverordnungen sind bloß der Anfang … Die Sozialdemokratie hat alle Bedingungen für den Sieg des Faschismus vorbereitet. Doch damit hat sie auch die Bedingungen ihrer eigenen Liquidierung vorbereitet. Der Sozialdemokratie die Verantwortung für Brünings Notverordnungssystem und die drohende faschistische Barbarei aufzuerlegen, ist vollkommen richtig. Die Sozialdemokratie mit dem Faschismus zu identifizieren, ist vollkommen unsinnig.“

Das Zentralorgan der stalinhörigen KPD, Die Rote Fahne, sah ausgerechnet im ersten großen Wahlsieg der NSDAP am 14. Septem­ber 1930 den „Anfang vom Ende der Nazis“. Trotzki schätzte demge­genüber die Lage damals realistisch ein und drängte auf Arbeiterein­heit: „Der Faschismus ist in Deutschland zu einer wirklichen Gefahr geworden … Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; sie eröffnet der Kommunistischen Partei ungeheure Möglichkeiten.“ Gleich August Thalheimer – einem Führer der KPD-Opposition, der in seinen Analy­sen zu ähnlichen Schlußfolgerungen kam – ist Trotzki von KP und Komintern wegen seiner Haltung als „Abenteurer“, „Panikmacher“ und „Komplize der Sozialfaschisten“ diffamiert worden. Daß die KPD die von ihm erwähnten Möglichkeiten nicht nutzte, war damals zu bedauern und wirkt noch heute negativ nach.

Als Hitler die Macht ergriffen hatte, verfaßte Trotzki einen Artikel, in dem er u.a. auf die Bedeutung von Kleinbürgertum und Großkapital für den siegreichen Faschismus zurückkam. Er schrieb im Juni 1933 in der Zeitschrift Die neue Weltbühne, das Nachkriegschaos habe Handwerker, Krämer, Angestellte und Bauern nicht weniger heftig als die Arbeiter getroffen. Aber: „Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten … fraß (dafür) allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus … Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht her­auskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.“

Indem sie auf Hitlers nationale, soziale und rassische Demagogie hereinfielen, übersahen die Mittelklassen zugleich den wahren Feind, das Großkapital, und wurden zum Fußvolk der Faschisten. „Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpreßten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat Recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklas­se bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche Losungen wie die Verstaatli­chung der Trusts und die Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens' waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal über Bord geworfen … Jeder Erfolg der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik wird unvermeidlich Erdrückung des kleinen Kapitals durch das große bedeuten.“

Trotzki sagte den Zweiten Weltkrieg voraus: „Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus – die wahre geschichtliche Sendung der faschistischen Diktatur – bedeutet die Vorbereitung des Krieges. Diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mecha­nischen Zusammenballung der Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Ihn kann man nur stürzen. Der politische Weg der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder Revolution.“ In einem Postscriptum von Anfang Novem­ber 1933 fügte der Autor hinzu: „Die Zeit, die uns bis zur nächsten europäischen Katastrophe bleibt, ist befristet durch die deutsche Aufrüstung. Dies ist keine Frage von Monaten, aber auch keine von Jahrzehnten. Wird Hitler nicht rechtzeitig durch innerdeutsche Kräfte aufgehalten, so wird Europa in wenigen Jahren neuerlich in den Krieg gestürzt.“

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Helmut Dahmer: Was ist der Faschismus, und wie kann man ihn bekämpfen?, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Manfred Behrend: Trotzki zum Faschismus, Inprekorr Nr. 386/387 (Januar/Februar 2004)
Ernest Mandel: Zu Trotzkis Analyse des Faschismus, Inprekorr Nr. 230 (September/Oktobber 1990)
 

Als Hitlerdeutschland diesen 1939 begann, war die UdSSR durch einen zehnjährigen Vernichtungsfeldzug Stalins gegen die weitaus meisten alten Bolschewiki, gegen Bauernschaft, Intelligenz und Armeeführung auf äußerste geschwächt. Großbritannien und Frank­reich spekulierten auf den Zusammenstoß zwischen ihr und Deutsch­land und dachten nicht daran, sich mit ihr zu verbünden. Dafür wurden dann die beiden Pakte Moskau-Berlin mitsamt den geheimen Zusatz­abkommen geschlossen, deren territoriale Früchte heute der Sowjet­union verloren gehen. Stalin baute auf seinen Grenz- und Freund­schaftsvertrag mit Hitler. er schlug die Warnungen vor einem bevor­stehenden deutschen Überfall in den Wind. Auf dem Höhepunkt der vermeintlich guten Beziehungen zu Hitlerdeutschland ließ er Leo Trotzki ermorden.

In einem seiner letzten Aufrufe, dem Brief an die Arbeiter der UdSSR vom April 1940, hatte dieser festgestellt: „Gegen den imperialistischen Feind werden wir die Sowjetunion mit all unser Kraft verteidigen. Aber die Errungenschaften der Oktoberrevolution werden dem Volke nur nutzen, wenn es sich fähig zeigt, mit der stalinistischen Bürokratie fertig zu werden … Diese Bürokratie ist blutdürstig und erbarmungslos daheim und feige vor den imperialistischen Feinden; sie ist darum die Hauptquelle der Kriegsgefahr für die Sowjetunion.“

Das Zitat mutet wie eine unterdes erfüllte Prophetie an. Trotzkis Aussagen über Voraussetzungen und Folgen des Faschismus und seiner Herrschaft sowie über die Notwendigkeit linker Bündnisse sind heute erneut aktuell. Wir sollten sie beher­zigen.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 238 (August 1991). | Startseite | Impressum | Datenschutz