Vierte Internationale

Was ist der Faschismus, und wie kann man ihn bekämpfen?

Anlässlich der Feier zum 70. Jahrestag der Gründung der Vierten Internationale, die der RSB am 27. September 2008 in Mannheim durchführte, hielt Helmut Dahmer am zweiten Tag das folgende Referat.

Helmut Dahmer


Vorbemerkung


Mein Thema sind heute der historische Faschismus in Deutschland und seine parteiförmigen und wildwüchsigen Derivate in der Gegenwart. Dem in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etablierten italienischen Faschismus folgten in den Dreißigern die faschistischen Regime in Deutschland, in Osteuropa, in Spanien und Portugal. Trotzki schrieb, dass, wären 1917 nicht die Bolschewiki an die Macht gekommen, das erste faschistische Regime in Russland errichtet worden wäre – mit einem „Führer“ wie dem Admiral Koltschak oder dem Ataman Petljura an der Spitze. Heute, Jahrzehnte nach der militärischen Zerschlagung der vormaligen „Achsenmächte“, gibt es in vielen Ländern Organisationen, die de facto oder auch explizit faschistisch sind – auch in Russland –, gibt es Nachfolge-Parteien und eine europäische Rechte, gibt es in Frankreich Le Pen, in Italien Madame Mussolini, in Österreich Haider und Strache, in Kolumbien und in anderen lateinamerikanischen Ländern Todesschwadronen und paramilitärische Verbände, doch es gibt keinen faschistischen Staat. Eine besondere Hinterlassenschaft der historischen Faschismen ist die faschistische Mentalität: die Gesinnung ungezählter potentieller Faschisten, die auf ihre Stunde warten. Sie sind unsere gefährlichsten Gegner. Für unser Verständnis der Gegenwarts-Gesellschaft und für unsere Politik ist es wichtig, zwischen faschistischer Mentalität, faschistischen Bewegungen, Parteien und Staaten zu unterscheiden. Der historische Faschismus fungiert dabei als Modell oder Messlatte.

Dem Problem des Faschismus war noch der letzte, Fragment gebliebene Artikel gewidmet, den Trotzki 1940 geschrieben hat. Darin heißt es:

„Die Schärfe der sozialen Krise resultiert daraus, dass bei der heutigen Konzentration der Produktionsmittel, d. h. unter den Bedingungen der von den Trusts errichteten Monopole, das Wertgesetz – der Markt – schon nicht mehr imstande ist, die ökonomischen Verhältnisse zu regulieren. Staatsintervention wird zur absoluten Notwendigkeit. […] Im Faschismus steckt ein Element von Bonapartismus. Ohne […] dass infolge extremer Verschärfung des Klassenkampfes die Staatsgewalt sich über die Gesellschaft erhebt, wäre der Faschismus nicht möglich gewesen. […] Für den Imperialismus ist es unerlässlich, das Kleinbürgertum zu mobilisieren und das Proletariat unter seinem Gewicht zu erdrücken. Der Imperialismus kann dies Werk nur unter der Bedingung vollbringen, dass das Proletariat sich als unfähig erweist, die Macht zu erobern, während die soziale Krise das Kleinbürgertum zu wütender Verzweiflung treibt.“ [1]


Auf der Suche nach einem Ausweg


Wollen wir uns in der Gegenwart orientieren, benötigen wir Modelle von historischen Ereignissen und Strukturen. Diese Modelle sind so etwas wie destillierte geschichtliche Erfahrungen. Und wenn wir aktuelle Ereignisse mit diesen Modellen vergleichen, verstehen wir sowohl die im Modell gefasste Vergangenheit als auch unsere aktuellen Probleme besser. Bei der Rekonstruktion vergangener Entwicklungen – etwa der russischen Revolution von 1917 oder des Untergangs der Weimarer Republik – vergegenwärtigen wir uns zunächst die damalige Ausgangssituation in ihrer Gesamtheit und suchen dann nach den besonderen Faktoren, die unter jenen Umständen den Ausschlag für die (uns bekannte) Entwicklung gaben und andersartige Entwicklungen verhinderten. Auch bei der Gegenwartsanalyse geht es um das Auffinden jener Faktoren, die für die Weiterentwicklung der politischen Situation in der einen oder anderen (erwünschten oder gefürchteten) Richtung entscheidend sind. Vom richtigen Erfassen der situationsbestimmenden Faktoren hängen unsere Interventionschancen ab.

Trotzki, der der europäischen (und kolonialen) Arbeiterbewegung seiner Zeit die Überwindung der kapitalistischen Profitwirtschaft und deren Ersetzung durch eine weltumspannende Bedarfsdeckungswirtschaft zutraute, arbeitete theoretisch mit historischen Modellen und Analogien. Seine oft gerühmten realistischen Prognosen verdankten sich vor allem seiner Fähigkeit, alternative Szenarien zu entwickeln und die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit ihrer Realisierung abzuwägen. Seine Situationsanalysen galten allemal der Suche nach einem Ausweg, und sie mündeten in der Regel in Handlungsempfehlungen für bestimmte politische Organisationen.

Verbannt aus Sowjetrussland, galt seine Aufmerksamkeit in den frühen dreißiger Jahren vor allem der Nazibewegung in Deutschland, die infolge der „ultralinken“ Isolationspolitik der KPD (und der Komintern) kampflos die politisch gespaltenen Arbeiterorganisationen ausschalten konnte und ein „totalitäres“ Regime errichtete. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde ihm die „Entartung“ des nachrevolutionären russischen Regimes, also die terroristische Despotie Stalins zum zentralen Problem.

Der Marxschen Gesellschaftstheorie zufolge war der Staat zumeist ein Ausschuss der herrschenden Klasse, der sich zur gewaltsamen Durchsetzung von deren wirtschaftlichem Interesse „eines Haufens bewaffneter Menschen“ (Engels) bediente. Ausnahmen von dieser Regel bildeten zum einen die orientalischen Despotien (vom Typus des alten China), in denen erst landesweite staatliche Wasserregulierung die Voraussetzung für die Existenz der verstreuten Dorfgemeinden schuf – der Staat also nicht nur Parasit und Garant eines bestimmten Wirtschaftssystems war, sondern dessen Voraussetzung –, zum anderen der sogenannte „Bonapartismus“. [2] „Bonapartismus“ war ein aus der französischen Revolutionsgeschichte des 19. Jahrhunderts bekanntes Herrschaftssystem. Vor allem das sogenannte II. Kaiserreich war dessen Prototyp. [3] Die „Scheinselbständigkeit“ des Staates gegenüber den besonderen Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen erreichte im Regime des I. und mehr noch des III. Napoleon einen ersten Höhepunkt. Im einen Fall war es einem militärisch erfolgreichen Revolutionsgeneral, im anderen dessen Neffen, einem Abenteurer, in einer nachrevolutionären Patt-Situation gelungen, gestützt auf paramilitärische Banden, Armee und Bürokratie eine „Herrschaft des Säbels“ zu errichten, die Opposition auszuschalten, allen sozialen Schichten alles zu versprechen und plebiszitäre Mehrheiten zu organisieren.


Totalitäre Regime


Die „totalitären“ Regime der dreißiger Jahre im Hitlerschen Deutschland und im Stalinschen Russland, die die traditionellen sozialen Gruppen und Organisationen auflösten und die „atomisierte“ Bevölkerung dann im Rahmen von politischen Zwangsverbänden für die wirtschaftlichen und militärischen Ziele der jeweiligen Führung zu mobilisieren suchten, waren dadurch gekennzeichnet, dass Führung und Gefolgschaft davon überzeugt waren, der von ihnen angestrebte Fortschritt lasse sich nur gewaltsam, nämlich durch den Ausschluss oder die Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen (Klassen oder „Rassen“) verwirklichen. Hitler-Diktatur und Stalin-Despotie konnten sich der organisatorisch-technischen Mittel moderner Industriestaaten bedienen. So unterschiedlich die gesellschaftliche Funktion der beiden menschenverschlingenden Regime war – im einen Fall eine bürokratisch-planwirtschaftlich organisierte „nachholende Industrialisierung“ unter „sozialistischem“ Vorzeichen, im anderen Fall die kriegswirtschaftliche Modernisierung einer hochentwickelten kapitalistischen Wirtschaft zwecks imperialistischer Beherrschung Europas – so ähnlich waren ihre Herrschaftsformen: die Wiedereinführung von Folter, Lager und Zwangsarbeit in großem Stil, die Allmacht der politischen Polizei (Stalins GPU, Hitlers Gestapo und SS) und der Massenmord. Sahen die Stalinisten in der bäuerlichen Mehrheit des Landes, in „illoyalen“ Ethnien und politischen „Volksfeinden“ (nämlich den Revolutionären von 1917 und ihrem Anhang) ihren Gegner, so die Nazis in den Juden, besonders im „jüdischen Bolschewismus“, in den aktiven Mitgliedern der sozialistischen Arbeiterbewegung und in für „minderwertig“ erklärten Völkern. Beide Regime hatten sich einer „nationalen“ Utopie verschrieben, beide privilegierten eine bestimmte Nation (feierten das Deutschtum oder huldigten dem „großrussischen Chauvinismus“, wie Lenin das nannte), beide konnten sich auf eine Mehrheit von willigen Mitmachern und Handlangern stützen. Waren die Bolschewiki in Theorie und Praxis ursprünglich internationalistisch orientiert, so traten in Ideologie und Praxis des stalinistischen Systems die xenophoben Züge stets deutlicher hervor. Stalin versuchte in den 24 Jahren seiner Herrschaft, den „Sozialismus“ in einem Lande, nämlich der unterentwickelten Sowjetunion, herbeizuzwingen; Hitler versuchte in den 12 Jahren seiner Herrschaft, die Vorherrschaft des deutschen „Herrenvolks“ im „Reich“ und in Europa durch Vernichtungskriege und Ausrottungskampagnen sicherzustellen. Beiden Projekten wurden viele Millionen Menschen geopfert. Die Sowjetunion überlebte Hitlerdeutschland um viereinhalb Jahrzehnte. Der blutige Terror, mit dem beide Regime jahrelang gegen jederlei Opposition wüteten, hat eine nachhaltige Lähmung des revolutionären Potentials der europäischen Gesellschaften herbeigeführt.


Faschismus


Trotzki griff bei seinem Versuch, das Wesen der Hitlerbewegung und des Hitlerstaats auf der einen, des Stalinregimes auf der anderen Seite zu bestimmen, zunächst auf das von Marx entwickelte Modell bonapartistischer Herrschaft zurück und versuchte dann, das historisch Neue des totalitären „Zwillingsgestirns“ Hitler-Stalin [4] zu erfassen. 1935 schrieb er über den „Sowjet-Bonapartismus“:

„Den Traditionen nach >bolschewistisch<, im Grunde aber längst von ihren Traditionen losgelöst, der Zusammensetzung und Denkart nach kleinbürgerlich, ist die Sowjet-Bürokratie dazu berufen, den Widerspruch zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Arbeiterstaat und Weltimperialismus zu regulieren; das ist die soziale Basis des bürokratischen Zentrismus, seiner Zickzackwendungen, seiner Macht, seiner Schwäche und seines verderblichen Einflusses auf die Welt-Arbeiterbewegung. Je unabhängiger die Bürokratie wird, je mehr die Macht sich in den Händen einer einzigen Person konzentriert, desto mehr verwandelt sich der bürokratische Zentrismus in Bonapartismus.“ [5]

Seine Faschismus-Theorie hat Trotzki zuerst im Jahre 1929 am Beispiel Österreichs entwickelt:

„Die Sozialdemokratie kann und will die Macht nicht übernehmen. Aber die Bourgeoisie meint, dass die Disziplinierung der Arbeiter durch die Sozialdemokratie für sie zu kostspielig wird. Die Bourgeoisie insgesamt braucht den Faschismus, um die Sozialdemokratie in Zaum zu halten und sie bei günstiger Gelegenheit beiseite zu schleudern. Der Faschismus will die Macht und ist imstande, sie sich zu holen. Hat er sie, wird er sie voll und ganz dem Finanzkapital zur Verfügung stellen. Aber das ist ein Weg sozialer Erschütterungen, die ebenfalls große Unkosten mit sich bringen. Dies erklärt das Zögern der Bourgeoisie, den inneren Kampf ihrer sozialen Schichten, und bestimmt die Politik, die sie in der nächsten Zeit einschlagen wird: die Sozialdemokratie mittels des Faschismus dazu zu zwingen, der Bourgeoisie behilflich zu sein, die Verfassung so zu ändern, dass alle Vorteile der Demokratie und des Faschismus vereint werden…“ [6]

Die Wirtschaftskrise bedroht Existenz, Sicherheit und Wohlstand der alten und neuen Zwischenschichten. Eröffnet ihnen die sozialistische Arbeiterbewegung keinen realistischen Ausweg aus der Krise, ist sie durch Niederlagen geschwächt und erweist sie sich als außerstande, die Staatsmacht zu erobern, wendet sich das „Kleinbürgertum“, wie Trotzki die Zwischenschichten nennt, in seiner Verzweiflung den Faschisten zu, die ihm eine einfache, radikale Lösung bieten und darum den politisch aktivierbaren Teil der alten und neuen Mittelschicht für sich gewinnen können. Die faschistischen Agitatoren wenden sich nicht gegen das Finanzkapital, sondern richten die Affekte der „Modernisierungsverlierer“ gegen die sozialistische Arbeiterbewegung, die, in Verteidigung ihres Lebensstandards, der profitablen Kapitalverwertung Steine in den Weg legt und an der Ausdehnung demokratischer Kontrolle auf die Privatwirtschaft, also an Wirtschaftsdemokratie interessiert ist. Das Programm der Faschisten und ihrer Anhängerschaft ist allemal ein strikt nationalistisches (oder „ethnozentristisches“); sie wollen eine Versorgungsdiktatur, die ausschließlich ihresgleichen, den „Volksgenossen“ zugute kommt. Alle „Fremden“ – im historischen Fall des deutschen Faschismus: Juden, Ausländer, Zuwanderer, für minderwertig erklärte andere Völker, „Marxisten“, politische und religiöse Gegner, aber auch Pflegebedürftige (sogenanntes „lebensunwertes Leben“), Homosexuelle, „Asoziale“, fremdartige, „zersetzende Intellektuelle“ und „Bohemiens“ – sollen ausgeschlossen, des Landes verwiesen oder totgeschlagen werden. Sind die mörderischen Volksgenossen, die Nutznießer der „Reinigung des Volkskörpers“, erst einmal unter sich, tritt an die Stelle des „Chaos“ der Parteiendemokratie ein hierarchisch-militärisches Führer-Gefolgschafts-System, das jedem seinen festen Platz zuweist. Fortan soll der „Gemeinnutz“ Vorrang vor individuellen und Klassen-Interessen haben. Die Homogenisierung des privilegierten „Volkes“ soll es kriegstauglich und kriegswillig machen. Kriegerische Expansion, die Unterjochung von Nachbarländern und Kolonien ist das erklärte außenpolitische Ziel des faschistischen Staats. Er braucht den Krieg, um der ökonomischen Krise zu entgehen und seinen Parteigängern stets neue Opfer und neue Beute zu verschaffen.


Arbeiter-Einheitsfront


Trotzki sah die Gefahr, dass die Großbourgeoisie, gestützt auf die bürgerlichen Parteien und die Reichswehr, die ökonomisch-politische Krise dazu nutzen könne, mit Hilfe des von Hitler mobilisierten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats die Arbeiterorganisationen zu zerschlagen. In einer ganzen Serie von Artikeln und Broschüren rief er darum in den letzten Jahren der Weimarer Republik vom türkischen Prinkipo aus die deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten auf, sich (unbeschadet ihrer Meinungsverschiedenheiten) durch die Bildung einer bewaffneten Einheitsfront ihrem gefährlichsten Gegner – der faschistischen Massenbewegung – rechtzeitig in den Weg zu stellen. Sei die faschistische Attacke auf Republik und Arbeiterbewegung abgewehrt, ließe sich möglicherweise die 1923 steckengebliebene Arbeiterrevolution komplettieren, also die parlamentarische Demokratie durch eine Demokratisierung der Wirtschaft erweitern und stabilisieren. [7]

Trotzki hoffte, die kleine Gruppe der Linksoppositionellen, die, obwohl ausgeschlossen, noch immer ihre Zugehörigkeit zur KPD betonte, werde den verhängnisvollen „ultralinken“, isolationistischen Kurs der Thälmann-Führung korrigieren können; die KPD-Mitglieder würden also noch rechtzeitig antifaschistische Einheitsfronten mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern organisieren, ehe Hitler die staatliche Exekutive und seine bewaffneten Banden zur Zerschlagung der Arbeiterorganisationen einsetzen könne. (Erst im März – beziehungsweise im Juli – 1933 gaben Trotzki und die Linksoppositionellen diese Hoffnung auf eine Reform der stalinistischen Organisationen auf und nahmen Kurs auf die Bildung einer neuen KPD und einer neuen Internationale.)


Faschismus nach 1945


Die faschistische Ideologie gleicht einem bunten Flickenteppich. Gegner sind zu bekämpfen und zu vernichten, ansonsten will der Faschismus jedem etwas bieten. Abgesehen vom Kernprogramm – der Privilegierung und „Säuberung“ der eigenen Nation und der damit verbundenen militanten Fremdenfeindlichkeit [8] – ist die rechtsextreme Agitation flexibel: Was gut ankommt, wird betont, was nicht verfängt oder Anstoß erregt, wird fallengelassen. Welche Farben das faschistische Chamäleon zeigt, hängt vom Untergrund, vom Milieu, also von der politischen Situation ab. Seit der militärischen Niederlage des italienischen und des deutschen Faschismus im zweiten Weltkrieg und dem Verbot der faschistischen Parteien sind die mehr oder weniger getarnten Nachfolgeorganisationen an den Rand des Parteiensystems verbannt worden. Aber sie sind nicht verschwunden, und ihre Forderungen finden noch immer Anhänger, auch bei Teilen der jüngeren Generation, die nach Alternativen sucht und für die das Verbotene und der Mythos von einem möglichen „sauberen“ Faschismus – ohne Holocaust – attraktiv sind. Der NPD, die sich als stabilste der verschiedenen parteiförmigen rechtsextremen Gruppierungen („Republikaner“, DVU) erwiesen hat und die bisher einem Verbot entgangen ist, gelang es wiederholt, in Länderparlamente vorzudringen und staatliche Zuschüsse (Wahlkampfkosten-Erstattungen) zu erlangen. Sie steht im Bunde mit den Schlägern und Brandstiftern der sogenannten „Freien Kameradschaften“ und „autonomen“ Faschisten, die in den neunziger Jahren vor allem in ostdeutschen Städten „Fremde“ und Andersdenkende terrorisierten und sich später nur zeitweilig – aus taktischen Gründen – solcher Menschenjagden enthielten.

Sobald die Teilung des Landes in zwei Staaten mit verschiedener ökonomischer Struktur und Blockzugehörigkeit hinfällig geworden war, fühlten sich rechte Schlägertrupps und Brandstifter motiviert, neue „innere“ Grenzen zu ziehen, nämlich „Fremde“ und „Schwache“ zu attackieren. [9] Nachdem diese xenophobe Reaktion auf die Eingemeindung der DDR an die 100 Todesopfer gefordert hatte und die rechten Gewalttäter schon glaubten, sie handelten im Sinne der schweigenden Mehrheit, machten die Schröder-Regierung und der aktiv-demokratische Teil der „Öffentlichkeit“ in Ost und West im Jahr 2000 spät, aber doch, Front gegen die Rechtsextremen. Die deutliche „Ausgrenzung“ der rechtsradikalen Minderheit führte in der Folge zu einer Änderung von deren Taktik; sie begannen nun, Aktionsformen der Bürgerinitiativen oder der „Neuen sozialen Bewegungen“ der 1970er und 1980er Jahre nachzuahmen, stellten sich selbst als zu Unrecht ausgegrenzt dar und forderten Gleichbehandlung.

Neuere soziologische Studien, in denen das politische „Weltbild“ nicht straffällig gewordener Mitläufer und Aktivisten der „Freien Kameradschaften“ auf der Grundlage von ausführlichen Interviews rekonstruiert wird, zeigen, warum sich junge Leute von heute für das faschistische Programm von vorgestern, das ihnen in einer aktualisierten, nämlich getarnten und abgemilderten Version von Ideologen wie Mahler und Worch vorgestellt wird, engagieren. [10] Mit Hilfe der kruden Ideologie der NPD-Demagogen lässt sich das unter Jugendlichen verbreitete Ohnmachtsgefühl artikulieren und „rationalisieren“. Ihre begründete Angst vor Statusverlust und Deklassierung verbindet sich mit dumpfer Wut über die vermeintliche Begünstigung von „Ausländern“, Zuwanderern, Asylanten etc. Die rechtsextreme Minderheit erwartet eine „Katastrophe“ der kapitalistischen Wirtschaft und des parlamentarischen Systems. Sie idealisiert die beiden deutschen Versorgungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts: Hitlerdeutschland und die DDR. Die Gewaltträchtigkeit des Programms, das auf völkische Homogenisierung und Wirtschaftsautarkie hinausläuft, wird verleugnet und kaschiert, eine pseudo-demokratische Tarnsprache eingeübt. Die Angehörigen der faschistischen Gruppen bilden eine informelle Gemeinschaft, die über ein „esoterisches“ Geheimrezept zur Lösung der Probleme ihrer „Volksgenossen“ zu verfügen glaubt, für das diese – verführt durch die Medien – allerdings noch nicht (wieder) „reif“ sind. Das nötigt die faschistische „Avantgarde“ zu taktischen Kompromissen. Geht sie dabei zu weit, verliert sie die Kontrolle über ihre Anhänger, was dazu führen kann, dass diese sich (der NPD gegenüber) wieder verselbständigen oder gänzlich resignieren.


Was können wir tun?


      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Christophe Aguiton: Europas extreme Rechte erstarkt, intersoz.org (17. November 2022)
Ugo Palheta: Noch immer aktuell, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
Jean Batou: Der Faschismus des 21. Jahrhunderts, Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014)
Manuel Kellner: Den Faschismus besser verstehen, um ihn besser zu bekämpfen, Inprekorr Nr. 348/349 (Oktobber/November 2000)
Manfred Behrend: L. D. Trotzki und der deutsche Faschismus, Inprekorr Nr. 238 (August 1991)
Ernest Mandel: Zu Trotzkis Analyse des Faschismus, Inprekorr Nr. 230 (September/Oktobber 1990)
 

Nach fast 80 Jahren entfaltet sich vor unseren Augen eine Krise des internationalen Finanzsystems, die an die große Wirtschaftskrise von 1929 erinnert, die damals den Aufstieg des Faschismus und den Untergang der Weimarer Republik nach sich zog. Heute gibt es weder eine marxistisch orientierte Arbeiterbewegung, noch eine kleinbürgerliche Massenbewegung, die ihr den Kampf ansagt. Was es gibt, sind faschistische Gruppen, die Jagd auf „Fremde“ machen, und quasi-faschistische Parteien, die mit nationalistisch-fremdenfeindlichen Parolen auf Stimmenfang gehen. Diese Organisationen werden in dem Maße, wie die Krise auch auf Deutschland übergreift, an Zulauf gewinnen.

Wie kann man die faschistischen Gruppen bekämpfen und ihnen ihre (potentiellen) Anhänger abspenstig machen? Die im folgenden skizzierten vier Punkte bilden eine Art „Minimalprogramm“:

  1. Seit fünfzehn Jahren (und seitdem tätliche Angriffe auf „Ausländer“ und Juden überhaupt als solche statistisch erfasst werden) werden in Deutschland jeden einzelnen Tag mehrere Male missliebige „Fremde“ attackiert. Darum halte ich den Schutz, die Verteidigung der bedrohten Menschen (seien es Juden oder Muslime, Nichtweiße oder Obdachlose) für die wichtigste Aufgabe. Die Minderheit, der es unerträglich ist, in einem Land zu leben, in dem zu „Fremden“ deklarierte Menschen diskriminiert, verfolgt und umgebracht werden, muss alles daransetzen, die Mehrheit, die bisher im wesentlichen passiv bleibt, gegen die andere Minderheit der Totschläger und Brandstifter zu mobilisieren. Und nur wenn eine erstarkte Minderheit den Schutz aller „Fremden“ selbst in die Hand nimmt, werden auch Polizei und Justiz das tun, wozu sie „eigentlich“ verpflichtet sind, und Personen- und Objektschutz nicht nur „Prominenten“, sondern auch den Opfern der rechten Banden gewähren.

  2. Die Gewalttaten gegen „Fremde“ müssen statistisch zuverlässig erfasst werden, und den rechten Fremdenjägern muss, ebenso resolut wie anderen „Terroristen“, das Handwerk gelegt werden. Die netten jungen Leute von nebenan, „die, wenn sie besoffen sind, schon mal ausrasten“, dürfen weder in der Öffentlichkeit noch vor Gericht auf Nachsicht rechnen können.

  3. Für die vielen desorientierten und tatendurstigen Jugendlichen, die weder Arbeit, noch eine Perspektive haben, muss ein gesellschaftlich anerkanntes ziviles Aktionsfeld – zum Beispiel ein freiwilliger Sozialer Dienst nach dem Modell des „Wehr-Ersatzdienstes“ – geschaffen werden.

  4. Die Herstellung von Lebensverhältnissen, unter denen Mehrheiten und Minderheiten den Fortschritt und die Fremden nicht mehr zu fürchten brauchen, also aufhören können, ihre Identität durch Exklusion, Mord und Totschlag zu verteidigen, ist ein Projekt für viele Generationen. Soll es jemals dazu kommen, dann müssen wir jetzt mit einer zweiten Re-Education beginnen, die darin besteht, das Problem von Ethnozentrismus und Xenophobie, also das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in das Unterrichtsprogramm aller Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen aufzunehmen.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] „Trotzkis letzter Artikel“ (20. 8. 1940). In: Trotzki, L. (1971): Schriften über Deutschland. Frankfurt, Bd. II, S. 733 und 732.

[2] Vgl. Miliband, Ralph (1965): Marx und der Staat. (Internationale marxistische Diskussion, Heft 15.) Berlin 1971.

[3] Marx, Karl (1852): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 111-207.

[4] Trotzki (1938): „Das Zwillingsgestirn Hitler-Stalin.“ (4. 12. 1939) In: Trotzki (1988): Schriften, Bd. 1.2, Hamburg, S. 1309-1326.

[5] Trotzki, L. (1935): „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus. Eine historisch-theoretische Untersuchung.“ (1. 2. 1935) In: Trotzki (1988), a. a. O. (Anm. 4), Bd. 1.1, S. 603.

[6] Trotzki (1929): „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus.“ (13. 11. 1929) In: Ders. (1971), a. a. O. (Anm. 1), Bd. I, S. 59.

[7] Trotzki (1971): Schriften über Deutschland. A. a. O. (Anm. 1), Bd. I und II.

[8] − der verallgemeinerten Form des Antisemitismus.

[9] „Die Fremden repräsentieren uns – als seine Opfer oder Pioniere – den ruinösen Fortschritt. Die Furcht der Einheimischen vor neuerlicher >Entfremdung< schlägt auf die Fremden zurück. Sie, die die Gefahr personifizieren, werden mit ihr verwechselt. Aus Furcht vor Entfremdung verfremdet, werden sie totgeschlagen, in der vergeblichen Hoffnung, so den verhängnisvollen Fortschritt, als dessen Unheilsboten sie gelten, aufzuhalten und abzuwenden.“ Dahmer (1994): „Brandstifter und Biedermänner.“ In: Wiesse, J. (Hg.) (1994): Aggression am Ende des Jahrhunderts. (Psychoanalytische Blätter, Bd. 1.) Göttingen, Zürich, S. 120.

[10] Vgl. dazu Klärner, Andreas (2008): Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Eine Lokalstudie über Praxis und Selbstverständnis der extremen Rechten. Hamburg (Hamburger Edition).