Faschismus

100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022

„Es ist möglich, sich auf Analogien zu berufen, ja, man kommt ohne sie gar nicht aus, will man aus der Vergangenheit lernen und die Geschichte nicht stets wieder von vorn anfangen.“ Trotzki, 1929 [Léon Trotsky, „Où va la république soviétique?“ (25. 2. 1929), in: Trotsky; Œuvres, 2. Série, tome III, Paris (Institut Léon Trotsky) 1989, S. 65 f.]

Helmut Dahmer


I


„Begriffe bilden sich historisch heraus“, schrieb Max Horkheimer 1941 in seinen „Bemerkungen zur Tätigkeit des Instituts“, nämlich des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“, dessen Mitglieder, soweit sie sich aus Hitlerdeutschland hatten retten können, in den USA ihre Arbeit fortsetzten. [1] Begriffe benennen zunächst eine bestimmte historische Erfahrung, überliefern sie der Erinnerung und legen damit den Grund zur möglichen Entwicklung eines Typus. Der neue Name gilt der Spezifik eines als „neuartig“ erfahrenen Phänomens, sei es die Geburt eines neuen Stils in Malerei, Musik oder Literatur, sei es das Aufkommen einer neuartigen politischen Herrschafts- oder Umsturzpraxis. Der allmählich sich entfaltende Begriff dient zunächst zur Unterscheidung des Novums von scheinbar ähnlichen, bereits bekannten Phänomenen; zudem ermöglicht er aufschlussreiche Vergleiche mit künftigen Praxen und Ereignissen, die dem Original-Ereignis mehr oder weniger ähneln, daran erinnern. Der Bezug des Kernbegriffs zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft macht ihn interessant und verleiht ihm innere Elastizität und Lebendigkeit. Er wird beständig erweitert und modifiziert, gewinnt an historischer Substanz und verändert seine Bedeutung: Seine Reichweite wird gedehnt, auch überdehnt, und dann wieder – um der Spezifik des Gemeinten willen – eingeengt. Schließlich ruft seine Nennung eine ganze Reihe von historischen Erfahrungen auf – er wird zu deren Kondensat.


II


 

Marsch auf Rom, 1922

2.v.l.: Mussolini, Foto: unbekannt

Die Entwicklung des politischen Begriffs „Faschismus“ währt nun schon ein Jahrhundert. Er bezeichnete zunächst die Kampfbünde Mussolinis und deren Aufgabe, die anarchokommunistisch, internationalistisch und pazifistisch orientierten italienischen Arbeiter- und Räteorganisationen der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam niederzuschlagen. Mussolini gewann mit seiner ultranationalistisch-kolonialistischen Ideologie und Politik die tatkräftige Unterstützung der besitzenden, also zahlungsfähigen Klasse (Landbesitzer, Industrielle, Bankiers) und diejenige der Exekutivorgane (Heer, Polizei, Monarchie). Hitler, Dollfuss und Salazar (1933), Metaxas (1935), dann Franco (1936) und im Weiteren eine ganze Reihe von osteuropäischen und lateinamerikanischen diktatorischen Regimen versuchten, unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten Mussolinis Beispiel zu folgen.

Die Funktion der faschistischen Bewegungen und Regime war (und ist) es, die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft nach den beiden verheerenden „Weltkriegen“ und in der Krise unserer Gegenwart gewaltsam zu sichern. Das heißt: Die Kontrolle über die nationalen Wirtschaften – und über deren Verkettung mit der Weltwirtschaft – bleibt einer schrumpfenden Gruppe von Finanzkapitalisten überlassen, die ausschließlich auf maximale Gewinne (Kapitalakkumulation) aus und in der Lage ist, Parteien, Massenmedien und paramilitärische Verbände zu finanzieren, sofern sie den für sie günstigen Status quo absichern. Dieser Status quo bedeutet: Permanente Kriege um Bodenschätze, Absatzmärkte und Einflusszonen; Verelendung ganzer Bevölkerungen in den „unterentwickelt“ gehaltenen und von Kriegen verheerten Ländern, Verwüstung unseres Habitats durch Erwärmung des globalen Klimas.

Die Praxis faschistischer Demagogen (ob Strache, Gauland, Höcke, Salvini oder Bolsonaro), ihrer Organisationen (braun oder blau) und Diktatoren besteht in der Agitation und Mobilisierung erstens derjenigen Teile der ständig wachsenden lohnabhängigen Bevölkerung, die keine Arbeit finden oder noch nie Arbeit hatten und darum zu Almosenempfängern geworden sind, zweitens der schrumpfenden, scheinselbständigen, „verunsicherten“ Zwischenschichten und drittens der hoffnungslosen und desorientierten, darum zu allem fähigen Paria-Schichten. Aus diesen Massen von unselbständigen, orientierungslosen, verängstigten Menschen schmieden die Agitatoren-Diktatoren Gefolgschaften, denen sie – als vermeintlich ebenfalls „kleine“, demnächst aber große und in jedem Fall starke Männer (oder auch Frauen) Besserung versprechen: vor allem eine Abrechnung mit den vermeintlich an ihrer Misere Schuldigen.

Die faschistischen Agitatoren sind Meister in der Lenkung der Ressentiments ihrer Klientel. Sie zeigen ihr die „wahren Schuldigen“ – wehrlose Minderheiten (Juden, Zigeuner, „Asoziale“; „Volksfeinde“, „Volksverräter“ und Fremde aller Art: Ausländer, Flüchtlinge, Migranten, Linke und Gewerkschafter, Andersgläubige und Atheisten, Homosexuelle und andere Abweichler – und stellen ihnen deren Pauperisierung und „Beseitigung“ in Aussicht. Je nach Kräfteverhältnis und Volksstimmung läuft das auf Reglementierung und Konzentration in „Lagern“ dieses oder jenes Typs, gezielte Verelendung, Enteignung, Ausweisung, Vertreibung oder „Liquidierung“ hinaus.

Als Ultra-Nationalisten versprechen die faschistischen Demagogen die gewaltsame Rettung (Wiederherstellung, Verteidigung und ruhmreiche Vergrößerung) der Nationalstaaten, die seit 100 Jahren ständig an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung verlieren. Das soll zum einen durch die „Sicherung“ der nationalen Grenzen gewährleistet werden – also durch Wälle und Mauern, Polizei- und Militärpatrouillen, Lager innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen –, zum andern durch gewaltsame Rücktransporte in als „sichere Zufluchtsstaaten“ ausgegebene außereuropäische bzw. mittelamerikanische Länder, deren politische Führungen zu diesem Zweck großzügig bestochen werden. Durch diese und ähnliche Maßnahmen sollen Millionen von Kriegs-, Hunger- und Klimaflüchtlingen abgeschreckt werden, die versuchen, dem Elend ihrer afrikanischen, lateinamerikanischen oder mittelöstlichen „Heimat“-Länder zu entkommen, und die an die Türen der wenigen Wohlstandsoasen hämmern, Einlass begehren und ihren Teil am Weltreichtum einfordern.

Zudem wird den Erniedrigten und Beleidigten der hochentwickelten Oasenländer eine Homogenisierung ihrer ethnisch inhomogenen Gesellschaften in Aussicht gestellt, also eine bevölkerungspolitische „Säuberung des jeweiligen Volkskörpers“ von allen Menschen, die nicht seit Generationen schon in dem jeweiligen Land ansässig waren und dessen – als „glorreich“ fingierte – Geschichte geteilt haben. Dies rassistische Homogenisierungsprogramm ist eine Kriegserklärung an alle für nicht zugehörig erklärten Menschen innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen. Abgesehen von der Hoffnung auf einen künftigen Anteil am Raubgut durch „Arisierungs“-Maßnahmen oder „gerechte“ Kriegszüge ist es vor allem die Prämie, die den „Nichtgehörten“ und „Abgehängten“ allein dadurch zufällt, dass ihre Demagogen sie zu den einzig Hierseins- und Daseinsberechtigten erklären, was sie dann dazu bewegt, dieser Sorte von „Volkstribunen“ ihre Stimmen und ihre Fäuste zu leihen.

Im Laufe der vergangenen 150 Jahre haben sich die modernen Gesellschaften Europas und Amerikas aus Gesellschaften kleiner und mittlerer Eigentümer in Gesellschaften abhängig Beschäftigter verwandelt. Diese Umbildung der Sozialstruktur hat das Aufkommen von neuartigen, „massenfeindlichen Massenbewegungen“ (Horkheimer-Adorno) ermöglicht, mit deren Hilfe demokratische Strukturen zertrümmert und durch jene „totalitären“ Regime ersetzt wurden, die Millionen von Menschen verschlangen. Das Leben in „Abhängigkeit“ und die Erfahrung, dass totalitäre Regime in der Lage sind, straflos jede „autonome“ Regung in der Bevölkerung zu ersticken, hat die Widerstandskräfte gerade in den höchst entwickelten Ländern nachhaltig geschwächt. Die oft beklagte politische Apathie weiter Teile der Bevölkerung hat darin ihren Grund. Überwiegen sogenannte autoritäre (oder faschistoide) Charaktere, die sich konformistisch, also autoritätshörig verhalten, alles Abweichende hassen, zu Projektionen, zum Aberglauben und zur Stereotypisierung neigen, dann steht es um die Verteidigung der wenigen parlamentarischen Republiken – geschweige denn um deren ausstehende wirtschaftsdemokratische Fundierung – schlecht. Darum wiederholt sich gegenwärtig in Europa und Amerika die aus den dreißiger Jahren bekannte Mutation schwächelnder parlamentarischer Regime zu autoritären (Polen, Ungarn, Italien usw.). Der Putsch-Versuch von vielen Hunderten von Trump-Anhängern – hinter denen 74 Millionen Trump-Wähler standen –, die am 6. Januar 2021 durch ihren „Marsch aufs Kapitol“ den abgewählten Präsidenten gewaltsam an der Macht halten wollten, war ein Alarmsignal.

Schon in den dreißiger Jahren waren die unter einander zerstrittenen Parteien, die für eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus eintraten und an das Selbsterhaltungs-Interesse der Bevölkerung appellierten („Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“), außerstande, durch die Bildung einer Arbeitereinheitsfront den Sieg der faschistisch begeisterten Massen und ihrer mächtigen Verbündeten zu verhindern. Die Erinnerung an das Desaster, zu dem die nationalen Aufbrüche der dreißiger Jahre führten, ist aber inzwischen verblasst, und das Interesse, die eigenen Privilegien auf Kosten möglichst vieler anderer zu verteidigen und auszubauen, treibt ein Fünftel oder gar ein Drittel der Bevölkerung der höchstentwickelten Staaten rechten Demagogen zu, die heute wie gestern versprechen, die gesellschaftliche Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren und all’ diejenigen zu beglücken, die „zu uns“ (also zum eigenen Volksstamm) gehören.

Nach ihrer militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Bekanntmachung des zuvor öffentlichen Geheimnisses des Genozids an den europäischen Juden durch die Nürnberger und die Auschwitz-Prozesse leugnete ein Teil der deutschen Faschisten hartnäckig ihre Untaten; deren Mehrheit zog es freilich vor, einfach ihren politischen Namen zu wechseln. In den Ländern „ohne Juden“ gab es darum plötzlich auch keine Faschisten mehr.

Die Faschisten oder Nazis von heute („Neonazis“) sind solche, die nicht mehr bei ihrem richtigen (Partei-)Namen genannt werden wollen; sie treten unter Pseudonymen auf und betonen gern ihre Sympathie für den israelischen Staat in Palästina. Das Programm dieser heutigen Faschisten, die gerade drauf und dran sind, sich wie in den dreißiger Jahren zu einer Internationale der Nationalisten zusammenzuschließen, gleicht dem ihrer Vorgänger aufs Haar. Gegen die Herrschaft der Finanzkapitalisten haben sie nichts einzuwenden – im Gegenteil. Sie hoffen, dass diese sie in der nächsten Krise zu Hilfe rufen und dann für ihre Dienste fürstlich belohnen. Sie kämpfen gegen die Gleichberechtigung von „Rassen“, Völkern und Klassen; sie versprechen, den jeweiligen Nationalstaat durch „Homogenisierung“ der „angestammten“ Bevölkerung, autarke Wirtschaftspolitik und Abschottung gegen Migranten zu verteidigen; sie geloben, die Stammbevölkerung gegen „Umvolkung“ zu schützen und deren „heimische“ Kultur (die sogenannten „überkommenen“ Werte) vor „Überfremdung“ zu bewahren. Erweist dies Programm sich als utopisch, so werden sie – wie ihre Vorgänger – nicht zögern, es gewaltsam in die Tat umzusetzen, gleichgültig, wie viele Opfer das fordert.


III


Trotzki hat seine Drei-Klassen-Theorie des (deutschen) Faschismus zuerst 1929 am Beispiel Österreichs entwickelt. [2] Seine Interpretation wurden durch eine Reihe von anderen, ebenfalls marxistisch orientierten und nicht stalinistisch gebundenen Autoren bestätigt und ergänzt. [3] Fassen wir das Ergebnis dieser historischen Analysen kurz zusammen:

  1. Das Reservoir, aus dem die faschistische Bewegung ihre Wähler und die Mannschaften ihrer paramilitärischen Verbände rekrutierte, bildeten in erster Linie die verarmten, orientierungslosen Zwischenschichten – der alte Mittelstand der Bauern, der Beamten, der mittleren und kleinen Selbständigen und Freiberufler, sowie der „Neue Mittelstand“, die seit 1880 sprunghaft angewachsenen Angestelltenheere. Anfällig für eine faschistische, gewaltsame „Lösung“ ihrer Probleme waren die dezimierte, traumatisierte, auf Revanche sinnende Frontgeneration, der von den sozialistisch-kommunistischen Parteien enttäuschte Teil der Arbeiterschaft, die millionenstarke Arbeitslosen-„Reservearmee“ und das Lumpenproletariat. [4] Einmal mit Rückendeckung von Reichswehr und Industrie und mit Zustimmung der bürgerlichen Parteien an die Macht gelangt, besetzten die Führungs-Kader der faschistischen Bewegung Schlüsselpositionen der Exekutive und kooperierten mit den traditionellen „Funktionseliten“. Die paramilitärischen Verbände verschmolzen mit den bestehenden Polizeiorganisationen zu einem terroristischen Staat im Staat. Neben den staatseigenen Betrieben entstand ein parteieigener Wirtschaftssektor, und die oligopolistisch strukturierte Privatwirtschaft wurde „befehlswirtschaftlich“ dirigiert. Der faschistische Staat ließ sich (mit Fraenkel) als ein „Doppelstaat“ [5] oder auch (mit Neumann) als ein polyzentrischer „Nichtstaat“ oder „Unstaat“ [6] charakterisieren. [7]

  2. Förderer und Nutznießer der faschistischen Bewegung und der faschistischen Diktatur waren in erster Linie die Industrie- und Finanzkapitalisten sowie die Großgrundbesitzer. Die Wirtschaftskrise von 1929 bewog sie, anstelle der zur Durchsetzung ihrer Interessen zunehmend untauglichen („ineffizienten“) parlamentarischen Demokratie – die allgemeine Menschen- und Bürgerrechte, die Gewaltenteilung, die Existenz von Arbeiterparteien und Gewerkschaften garantierte – ein autoritäres Regime zu favorisieren. [8] Sie ließen sich auf das riskante Bündnis mit der faschistischen Massenbewegung ein, die in der Lage schien, unter Rückendeckung durch Armee und Bürokratie die Organisationen der gespaltenen, sozialdemokratisch-kommunistischen Arbeiterbewegung zu zerstören und dadurch eine nachhaltige Senkung der Lohnkosten zu ermöglichen. Die planmäßige Umstellung auf Rüstungs- und Kriegswirtschaft, bei der die „Wirtschaftsführer“ der Konzern-Zentralen mit denen der neuen, faschistischen Ministerien Hand in Hand arbeiteten, ermöglichte die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und eine Beschleunigung der Konzentration des Kapitals auf Kosten kleiner und mittelständischer Unternehmen. Die Aussicht auf die Erweiterung der Firmen-Imperien in einem unter deutsch-faschistischer Hegemonie vereinten Europa, auf die Kontrolle über neue Rohstoffquellen, Arbeitskraft-Reservoire und Absatzmärkte, bewog die Herren der Wirtschaft zur dauerhaften Kooperation mit der Naziführung. Nach den ersten außenpolitischen „Erfolgen“ des Regimes wuchs die Kriegsbereitschaft bei Gefolgschaft und Generalität. [9]

  3. Das faschistische Programm aktualisierte die antimodern-konservative Ideologie und griff zugleich – im Hinblick auf die desorientierten Unter- und Mittelschichten, die für die faschistische „Lösung“ gewonnen werden sollten – auf den Fundus antikapitalistischer Ideen zurück. Gemeinschaft wurde gegen Gesellschaft ausgespielt, eine rustikale Lebensform gegen die intellektuell-urbane, kosmopolitische, die „Ideen von 1914“ gegen die von 1789, der Ethnozentrismus (die Nation) gegen den Universalismus (oder den Internationalismus); Militarismus und Heroismus wurden gegen den Pazifismus, der Sozialdarwinismus gegen den Egalitarismus ins Feld geführt … Die Widersprüche dieser buntscheckigen Programmatik wurden durch die Beschwörung einer ebenso grandiosen wie imaginären völkischen Vergangenheit und durch die Vision einer heldischen Zukunft als „Herrenvolk“ kaschiert und durch die Ausrichtung der Partei- und „Volksgenossen“ auf den „Überlebenskampf“ im Zwei-Fronten-Krieg gegen Kreml und Wallstreet (beziehungsweise die „Plutokratien“) als Zitadellen des „jüdischen Bolschewismus“ überblendet. Nach der „Machtergreifung“ wurde im Juli 1934 die SA-Führung um Ernst Röhm „ausgeschaltet“, um den „nationalbolschewistisch“ orientierten Teil der NS-Gefolgschaft niederzuhalten. Die destruktiven Energien der von einem Netz von Parteiorganisationen erfassten und permanent mobilisierten Anhänger, Sympathisanten und Mitläufer wurden genutzt, um mit Regimegegnern, missliebigen Minderheiten wie der jüdischen, mit „Asozialen“, „Schädlingen“ und Nicht-Volkszugehörigen aller Art „abzurechnen“ und deren Hab und Gut zu „arisieren“. So wurde in den dreißiger Jahren die terroristisch hergestellte „Volksgemeinschaft“ zuerst zu einer Schuld- und dann, im Krieg, zu einer verschwiegenen Mordgemeinschaft. Der NS-Raub- und „Versorgungsstaat“, der den „Volksgenossen“ bis zum Kriegsende ausreichende Rationen garantierte, um sich ihrer Loyalität zu versichern, wurde durch das umfassende Kontrollsystem von NSDAP, Gestapo und SS wirkungsvoll ergänzt. Die Existenz der über das ganze Land verstreuten Folter- und Hinrichtungsstätten, das öffentliche Geheimnis der „Euthanasie“-Morde, der Schrecken des dichten Netzes der Zwangsarbeits- und Vernichtungslager, von denen jeder wusste und keiner sprach, bewirkte – im Zusammenspiel mit „repressiver Entsublimierung“ [10] – ein hohes Maß von Konformität und verhinderte die Bildung einer Oppositionsbewegung, die in der Lage gewesen wäre, den alliierten Armeen zuvorzukommen und das faschistische Regime zu stürzen.


IV


      
Mehr dazu
Giorgos Mitralias: Auf dem Weg zu Brauner Internationale?, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Christophe Aguiton: Europas extreme Rechte erstarkt, intersoz.org (17. November 2022)
Ugo Palheta: Noch immer aktuell, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
Alain Bihr: Ist der Faschismus eine aktuelle Gefahr?, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
Interview mit Michael Löwy: Ist die Regierung Bolsonaro faschistisch?, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Miguel Urbán Crespo: Rechtsextremismus im Spanischen Staat, die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019)
Thies Gleiss: Wie wird der neue Nationalsozialismus geschlagen?, die internationale Nr. 2/2017 (März/April 2017)
Jean Batou: Der Faschismus des 21. Jahrhunderts, Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014)
Helmut Dahmer: Was ist der Faschismus, und wie kann man ihn bekämpfen?, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Manuel Kellner: Den Faschismus besser verstehen, um ihn besser zu bekämpfen, Inprekorr Nr. 348/349 (Oktobber/November 2000)
Manfred Behrend: L.D. Trotzki und der deutsche Faschismus, Inprekorr Nr. 238 (August 1991)
Ernest Mandel: Zu Trotzkis Analyse des Faschismus, Inprekorr Nr. 230 (September/Oktobber 1990)
 

Trotzki war der einzige Sozialwissenschaftler, der in dem Jahrzehnt zwischen 1929 und 1939/40 sowohl die Entwicklung des Hitler-Faschismus in Deutschland und Österreich als auch diejenige der stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion fortlaufend analysierte. [11] Das Spezifikum seiner zeitgenössischen Situationsdeutungen bestand darin, dass er nicht nur (der Losung Ferdinand Lassalles entsprechend, jederzeit furchtlos „auszusprechen, was ist“) die jeweiligen „Lage“ – die Kräfteverhältnisse der Klassen und ihrer politischen Organisationen – diagnostizierte, sondern aus dieser Diagnose eine Prognose der wahrscheinlichen weiteren Entwicklung und Handlungsanweisungen für die Gruppen und Parteien der politischen Avantgarde ableitete. Er war der bedeutendste Alternativen-Denker unter den marxistischen Theoretikern seiner Generation. [12]

Trotzki war kein „Prophet“, sondern ein Prognostiker. Seine Prognosen beruhten auf Gedankenexperimenten und historischen Analogien, auf dem Abwägen verschiedenartiger Entwicklungsmöglichkeiten, auf dem gedanklichen Operieren mit Tendenzen und Gegentendenzen unterschiedlicher Durchsetzungskraft. Lassen sich partielle Analogien zwischen einer bereits modellierten Vergangenheit und dem aktuellen Geschehen aufspüren, lassen sich auch mehr oder weniger wahrscheinliche Varianten der weiteren Entwicklung antizipieren. Solche Konjekturen bleiben stets ungewiss, und so finden sich bei Trotzki neben erstaunlich treffsicheren Vorhersagen auch nicht wenige Fehlprognosen. Ohne Gedankenexperimente (Rekonstruktionen und Antizipationen) ist aber eine Orientierung über Vergangenheit und Gegenwart nicht zu haben. Die Einbildungskraft, die Fähigkeit, auch das, was noch nicht ist, präzise sich vorzustellen und diese Vision auszugestalten, ist dem Künstler, dem guten Historiker und dem Revolutionär eigen. Aus dem vorliegenden „Material“, den Faktoren und Fakten von heute, schließen sie auf deren Wirkung, also auf die zu erwartenden „Tathandlungen“ und „Tatsachen“ von morgen und übermorgen. Jede Darstellung der Fakten bedarf des Vorgriffs auf ihren Zusammenhang, also einer Fiktion, die sich im Weiteren bewährt oder auch nicht. Ohne Hypothesen, die unsere Aufmerksamkeit lenken und dem, was wir suchen, erst Bedeutung verleihen, können wir Tatsachen“ weder entdecken, noch konstatieren. Erst auf dem Hintergrund von Fiktionen (oder Theorien) erscheinen die Fakten als Fakten.

Was Trotzkis Analysen der Agonie der Weimarer Republik (und der Komintern) anlangt, war sein Versuch von größter Bedeutung, die verfeindeten Arbeiterorganisationen der Kommunisten und der Sozialdemokraten zu einer Einheitsfront zu bewegen, die imstande gewesen wäre, den Kampf mit den „braunen Bataillonen“ aufzunehmen. Für den Fall, dass sie nicht rechtzeitig zustande käme, sah er die Vernichtung der deutschen Arbeiterorganisationen voraus und – als deren Folgen – einen neuen Weltkrieg, den Überfall auf die Sowjetunion und das, was wir heute den „Holocaust“ nennen.

„Arbeiter-Kommunisten, Ihr seid Hunderttausende, Millionen; Ihr könnt nirgendwohin wegfahren, für Euch gibt es nicht Reisepässe genug. Wenn der Faschismus an die Macht kommt, wird er wie ein furchtbarer Tank über Eure Schädel und Wirbelsäulen hinwegrollen. Rettung liegt nur in unbarmherzigem Kampf. Und Sieg kann nur das Kampfbündnis mit den sozialdemokratischen Arbeitern bringen. Eilt, Arbeiter-Kommunisten, Ihr habt nicht mehr viel Zeit!“ [13]

Wien, 4. Juli 2022



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Max Horkheimer, „Zur Tätigkeit des Instituts, Forschungsprojekt über den Antisemitismus“ (1941), in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 4, Frankfurt (Fischer) 1988, S. 372 ff.

[2] Leo Trotzki, „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus“ (13. 11. 1929), in: Trotzki, Schriften über Deutschland, Bd. 1 und 2, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1971, Bd. I, S. 53-66.

[3] Otto Bauer (1936), Ernst Fraenkel (1940), Erich Fromm (1941), Theodor Geiger (1932), Daniel Guérin (1933), Hermann Heller (1931), Siegfried Kracauer (1933), Richard Löwenthal (1935), Wilhelm Reich (1933), Arthur Rosenberg (1934), Ignazio Silone (1934), Fritz Sternberg (1935), Angelo Tasca (1938), August Thalheimer (1930) – vor allem aber: Franz L. Neumann (1942, 1944), Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt / Köln (Europäische Verlagsanstalt) 1977.

[4] Die NSDAP „war aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammengewürfelt und zögerte niemals, den Bodensatz aller Bevölkerungsteile aufzunehmen, [sie] wurde von der Armee, der Justiz und von Teilen der Beamtenschaft unterstützt, von der Industrie finanziert, machte sich die antikapitalistischen Gefühle der Massen zunutze und war doch vorsichtig genug, die einflussreichen Geldgeber nie zu verprellen.“ Neumann (1942, 1944), a. a. O. (Anm. 3), S. 59.

[5] Zurückdrängung des „Normen-Staats“ durch den „Maßnahmen-Staat“;„Willkür in der politischen und ratio in der ökonomischen Sphäre“. Ernst Fraenkel (1940), Der Doppelstaat, Frankfurt / Köln (Europäische Verlagsanstalt) 1974, S. 238.

[6] Neumann, a. a. O. (Anm. 3), S. 16.

[7] Herbert Marcuse resümierte das Ergebnis der Untersuchungen der Instituts-Arbeitsgruppe Neumann, Kirchheimer, Gurland wie folgt: Der nationalsozialistische Staat ist „durch die dreifältige Souveränität von Industrie, Partei und Wehrmacht mit dem Führer als konfliktregulierendem Zentrum noch nicht angemessen beschrieben. Die konkurrierenden Kräfte lassen ihre Entscheidungen von einer Bürokratie ausführen, die zu den leistungsstärksten und am stärksten durchrationalisierten der Moderne gehört.“ Herbert Marcuse, „Staat und Individuum im Nationalsozialismus“ (1942), in: Marcuse: Nachgelassene Schriften, Bd. 5. Hamburg („zu Klampen!“-Verlag) 2007, S. 140-164; Zitat auf S. 150.

[8] „Der Kapitalismus hatte keine Chance in einer demokratischen Auseinandersetzung mit dem proletarischen Sozialismus, in dessen Ausrottung er seine Rettung erblickte.“ Fraenkel, a. a. O. (Anm. 5), S. 236.

[9] „Das Deutsche Reich […] soll in konzentrischen Kreisen von Satellitenstaaten umgeben werden, die für die ,Herrenrasse‘ arbeiten und sie ernähren.“ Marcuse (1942), a. a. O. (Anm. 7).

[10] Marcuse (1942), a. a. O., S. 159-163. Den Begriff einer „repressiven“ oder „institutionalisierten Entsublimierung“ prägte Marcuse erst viele Jahre später. Vgl. dazu Marcuse (1964), Der eindimensionale Mensch, Neuwied (Luchterhand) 1967, S. 92-102.

[11] Diese beiden kritischen Chroniken der Ereignisse in Deutschland und in der UdSSR wurden durch seine Kommentare zum Übergang Spaniens von der Monarchie zur Republik und zum Bürgerkrieg ergänzt. Vgl. Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, 1931-1939. Köln (ISP-Verlag) 2016..

[12] Davon legen bereits seine ersten bedeutenden Veröffentlichungen Zeugnis ab, sowohl die Auseinandersetzung mit Lenin von 1904 als auch die Bilanz der Revolution von 1905. Vgl. dazu Trotzki (1904): Unsere politischen Aufgaben. In: Trotzki (1970): Schriften zur revolutionären Organisation. Reinbek (Rowohlt), S. 7-134. Und Trotzki (1906): Unsere Revolution (russ.) mit dem berühmten Schlusskapitel Ergebnisse und Perspektiven: Frankfurt (Neue Kritik) 1967.

[13] Leo Trotzki, „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?“ (8. 12. 1931), in: Schriften über Deutschland (Anm. 2), S. 175.