Rassismus

Der sozioökonomische Hintergrund für das Wiederaufleben von Faschismus und Rassismus

Ernest Mandel

Über die Ursachen des Wiederauflebens von Faschismus und Rassismus in Deutschland in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg liegt eine sehr ausführliche Literatur vor (Deutschland wird als typischstes Beispiel für den Faschismus gewählt, typischer als der Faschismus in Italien oder Spanien). Wenngleich es zahlreiche Meinungsunterschiede zwischen Historikern und Politologen/Soziologen über die Gewichtung der einzelnen Faktoren gibt, die zur Erklärung der Entstehung des Dritten Reiches herangezogen werden, so herrscht doch breiter Konsens über die folgenden kausalen Zusammenhänge:


1.
Die Krise der parlamentarischen Demokratie war eng mit einer schweren Wirtschaftskrise verbunden, wie z. B. der in Deutschland im Oktober 1929 ausbrechenden Krise. In einer solchen Zeit sehen sich Millionen von Menschen damit konfrontiert, daß es keinen Ausweg in „normalen“ Verhältnissen für ihre materielle und moralische Not gibt. Sie sind in einer solchen Zeit eher als unter den Bedingungen eines größeren Wohlstandes bereit ihr Heil in „unnormalen“ Abenteuern zu suchen. Massenarbeitslosigkeit, Bankrott von mittelständischen Unternehmen, starker Rückgang des Lebensstandards der sog. freien Berufe begünstigen die politische Radikalisierung, im Allgemeinen die von rechts stärker als die von links. Die Entstehung von breiten Schichten von verzweifelten und sozial abgestiegenen Randgruppen in der Gesellschaft begünstigt Aufkommen und Stärkung von Desperado-Organisationen und Schlägertrupps wie die der klassischen Faschisten. Je länger die Krise andauert, je mehr das Bewußtsein wächst, daß sie mit einer „normalen“ Regierungsform nicht überwunden werden kann, umso stärkeren Widerhall findet der Ruf nach einem „starken Mann“, d. h. nach einer Diktatur oder zumindest nach einem autoritären Regime.

 

Marsch auf Rom, 1922

2.v.l.: Mussolini, Foto: unbekannt


2.
In einer Wirtschaftskrise und (oder) in einer schweren Gesellschaftskrise wird innerhalb der herrschenden Klasse der Wunsch stärker, den Umfang der Sozialausgaben zu verringern, die Löhne einzufrieren, soziale Konflikte auszuschalten, Streiks zu erschweren oder zu verbieten, die Rechte der Gewerkschaften einzuschränken usw. als in einer Zeit eines schnellen Wirtschaftswachstums, das beiden „Sozialpartnern“ die Möglichkeit bietet, ihre Einkommen zu steigern, da sich durch den „größer werdenden Kuchen“ keine Verteilungsprobleme ergeben. Das erklärt, daß in einer Wirtschaftskrise mehr Geld des Großkapitals radikal rechten und auch faschistischen Gruppen zufließt. Das bedeutet nicht, daß das Bürgertum ausschließlich die äußersten Rechten begünstigt oder von Anfang an der faschistischen Richtung zuneigt. Es bedeutet aber durchaus, daß das Bürgertum eine solche „Lösung“ seiner sozio-ökonomischen und politischen Probleme nicht mehr ausschließt und diese Möglichkeit als eine unter anderen betrachtet. Das Übrige hängt dann von den Machtverhältnissen und der konkreten politischen Entwicklung ab.


3.
Wenn es einer bestimmten rechtsextremen oder ganz offen faschistischen Gruppe gelingt, bedingt durch die Wirtschaftskrise und die am Anfang geringe Unterstützung durch das Großkapital, ein bestimmtes Niveau an Glaubwürdigkeit, Repräsentativität und politischem Einfluß (einschließlich Vertretung im Parlament) zu erreichen, so wird viel Geld aus den Kreisen des Großkapitals in diese Richtung zu fließen beginnen. Man kann das als eine Art von „Versicherungsprämie“ interpretieren. Man kann es mit der Hoffnung auf Verwirklichung bestimmter politischer Pläne in Verbindung setzen. Aber wie diese Verhaltensweise auch ausgelegt werden mag, sie ist beispielsweise in Deutschland in den Jahren 1931 und insbesondere 1932 unzweifelhaft festzustellen. Während ursprünglich nur einige Ausnahmeerscheinungen unter den Großkapitalisten (Thyssen, Kirdorf, Reemtsma) die Nazis öffentlich unterstützten (auch Ford aus den USA), wuchs sich diese Unterstützung zu einer breiten Finanzierung aus zahlreichen kapitalistischen Kreisen aus, nachdem Hitlers Partei sich als die wichtigste Kraft auf der Rechten erwiesen hatte.


4.
Eine faschistische Diktatur kann ohne grünes „Licht“ maßgeblicher Kreise des Großkapitals nicht aufgerichtet und schon gar nicht gefestigt werden. Das wichtigste Glied in der Kette der Ereignisse, die zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 führten, war das berüchtigte Treffen bei Bankier Baron von Schroeder, auf dem Hitler sein Programm (umgeformt, um den Anwesenden nach dem Mund zu reden – seinen Auffassungen blieb er aber treu!) in Anwesenheit der führenden Vertreter des deutschen Großkapitals erläuterte. Die Vermittlerrolle, die der Herrenclub (Vereinigung der Bankiers, Großindustriellen, Großgrundbesitzer, hohen Offiziere der Reichswehr) zwischen Reichspräsident von Hindenburg – der durch seinen Sohn beeinflußt wurde, der in den Osthilfeskandal, den Hitler totzuschweigen zusagte, verwickelt war – und den Nazis gespielt hat, ist ebenfalls allgemein bekannt. Nach Beseitigung der demokratischen Freiheiten in Deutschland wurde eine „gelenkte Wirtschaft“ eingerichtet, in der in jedem Unternehmen zugunsten des Unternehmers das Führerprinzip galt, in der die Unternehmen ausschließlich von Industriellen geführt wurden (Parteifunktionäre der Nazis spielten dabei keine Rolle), in der es zu „Zwangszusammenschlüssen“ zugunsten der Großunternehmen kam und in der die kapitalistischen Gewinne steil in die Höhe gingen. Im Jahr 1938 lagen die Gewinne bei gleicher Gesamtlohnsumme wie im Jahr 1928 um das Dreifache (Steigerung um 300%!) über den Gewinnen des Vorjahres. Es muß nicht weiter darauf eingegangen werden, daß auch andere Aspekte der Nazi-Politik (Wirtschaftsexpansion, dann internationale Aggression) den Wünschen zumindest eines Teils des Großbürgertums entgegenkamen und daß die Mehrzahl der Großunternehmen daran stark beteiligt war und in gewaltigem Maße davon profitiert hat.

 

Redaktionelle Vorbemerkung

Den nachfolgenden Expertenbeitrag hat der revolutionäre Sozialist, internationa­listische Widerstands­kämpfer und marxistische Wirtschafts­wissen­schaftler Ernest Mandel (1923-1995) für den 1985 vom Europäischen Parlament eingesetzten Untersuchungs­ausschuss „Zum Wiederaufleben von Faschismus und Rassismus in Europa“ verfasst. Die damalige Schreibweise haben wir beibehalten.


5.
Der ideologische Hintergrund der Prozesse, die zur Entstehung eines faschistischen Regimes führen, wird vor allem durch das Aufkommen eines extremen Nationalismus (bis an die Grenze der Hysterie), einen zunehmenden Rassismus und ei-nen größeren Anteil irrationaler, „magischer“ und mythischer Elemente in der Politik bestimmt. D. h. die geringere Sensibilität des Durchschnittsbürgers gegenüber Gewalt und Unrecht, seine abnehmende Bereitschaft, dagegen aktiv aufzutreten. In Deutschland wurde die Entstehung einer solchen ideologischen Atmosphäre durch den Krieg, den Vertrag von Versailles und die extremistischen Reaktionen auf den Vertrag gefördert. Diese Elemente wurden jedoch nur durch die Krise zu einem explosiven Gemisch. Sie führten dann zum Ausbruch einer wahren Hysterie und Gewalttätigkeit von Seiten der Nazis und ihrer Bundesgenossen, zu wachsender Panik, Angst und Passivität bei der Mehrheit der Mitbürger (mit der rühmlichen Ausnahme von Aktivisten aus der Arbeiterbewegung, von Katholiken und kleineren Kreisen humanistisch geprägter Intellektueller und Jugendlicher). Das Bürgertum hat das zunächst als „kleineres Übel“ toleriert (im Vergleich zum „marxistischen Klassenkampf“ während der Krise), später stärker daran mitgewirkt. Man darf nicht vergessen, daß die Ursachen für Nationalismus und Rassismus bereits in der Kaiserzeit entstanden und u. a. in Äußerungen von Wilhelm II. und seinen Wür-denträgern häufig anklingen. (Beispielsweise bei der Abreise des deutschen Expeditionskorps nach Peking: „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht, verhaltet Euch so, daß die Chinesen noch in tausend Jahren mit Schrecken von Euch sprechen, wie wir von den Hunnen.“)

Der zynische Bruch mit allen Regeln des Rechtsstaates, die extreme Verherrlichung von Macht und Realpolitik kam außerdem zum ersten Mal außerhalb Europas zum Tragen, nämlich gegenüber kolonialen und halbkolonialen Völkern. Das typisch Neue des Faschismus ist der Versuch, diesen extremen Bruch mit jeder humanistischen Moral aus den Ländern der „Dritten Welt“ (wo er auch von „liberalen“ europäischen Bürgern systematisch unternommen wurde) nach Europa selbst zu übertragen, um zunächst die deutsche Arbeiterklasse und in der Folge zahlreiche europäische Völker zu Untertanen ohne Rechte zu machen, die nur noch dafür gut waren, gehorsame oder sogar koloniale Sklaven zu sein.

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Helmut Dahmer: Was ist der Faschismus, und wie kann man ihn bekämpfen?, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Manuel Kellner: Den Faschismus besser verstehen, um ihn besser zu bekämpfen, Inprekorr Nr. 348/349 (Oktobber/November 2000)
Ernest Mandel: Materielle, soziale und ideologische Voraussetzungen des nazistischen Genozids, Inprekorr Nr. 302 (Dezember 1996)
Ernest Mandel: Zu Trotzkis Analyse des Faschismus, Inprekorr Nr. 230 (September/Oktober 1990)
 

Die heutige Krise ist (noch?) weniger stark als die von 1929-1933, und wir stehen somit am Anfang von Prozessen, wie sie in Deutschland in der damaligen Zeit abliefen. Die Parallele, die wir zwischen dem Wiederaufleben von Neofaschismus und Rassismus in der EG [Europäische Gemeinschaft, Vorläufer der EU] in den letzten Jahren und den Ereignissen in Deutschland in den zwanziger und am Anfang der dreißiger Jahre ziehen können, bezieht sich lediglich auf die in den Ziffern 1 und 2 (teilweise auch in Ziffer 5) dargestellten Aspekte. Das gilt insbesondere für Italien und Frankreich, in geringerem Maße für andere EG-Länder (obwohl Ansätze zu solchen Prozessen in allen EG-Ländern vorhanden sind). Die Verbindungen zwischen der Loge P2 und dem darin vertretenen Großkapital einerseits und extrem rechten Gruppen andererseits (einschließlich Teilen der konservativ ausgerichteten Parteien, die bereit waren, mit ihnen zusammenzuarbeiten) wurden in zahlreichen Analysen verdeutlicht. Man muß kein Anhänger einer Verschwörungstheorie sein, um festzustellen, daß extrem rechte Ideologien und Absichten in einer Zeit starker gesellschaftlicher und politischer Spannungen, die von einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise begleitet werden, wie sie in Italien während der 70er Jahre herrschte, zumindest bei Teilen des Großbürgertums und führenden Kreisen von Armee und Politik stärkeren Anklang fand als zuvor. Auch in Frankreich ist das seit der Wahl von Mitterand ohne Zweifel der Fall.

Die organisierte Arbeiterbewegung und überzeugte Antifaschisten – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung und der Wähler der EG – müssen sich der Gefahren bewußt werden und alles unternehmen, um das Wiederaufleben von Faschismus und Rassismus im Keim zu ersticken. Kommen wir in eine Phase, wie sie in Ziffer 3 meiner Analyse dargestellt ist, dann ist die Gefahr bereits riesengroß. Am Ende des Weges stehen nicht nur der Verlust der demokratischen Freiheiten, des politischen und ideologischen Pluralismus, [danach folgen] die Zensur, die Verbrennung von Büchern, die Abschaffung des Streikrechts, die Ausschaltung der Gewerkschaftsbewegung, am Ende dieses Weges stehen Dachau, Buchenwald und Auschwitz, die vollständige Negierung von Menschenrechten und Menschenleben, ungeachtet, welches die „bevorzugten“ Opfer oder Henker auch immer sein mögen. Das muß mit allen Mitteln verhindert werden, das darf in Europa nicht zum zweiten Mal geschehen.

Quelle: PE 97.547/endg./Anl.44 (Sitzungsdokumente des Europäischen Parlaments 1985-86).



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 254 (Dezember 1992). | Startseite | Impressum | Datenschutz