Europa hat eine lange Geschichte von Kriegen, Invasionen, mörderischen Konflikten und sozialen Zerreißproben hinter sich. Daher die Kraft und die Dauerhaftigkeit der „Utopie der Einheit“. Das 20. Jahrhundert hat das nicht widerlegt: mit zwei Weltkriegen, dem Holocaust an den Juden, mit Faschismus und Nazismus, mit Widerstand und Bürgerkriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen.
François Vercammen
Europa zu „einen“, setzt also voraus, die massiven Widersprüche zwischen den Staaten, aber auch zwischen den sozialen Klassen, zu überwinden oder zu beherrschen. Denn häufig wird die Tatsache verschwiegen, daß jede Vereinigung von Staaten auf der Entscheidung für eine Gesellschaftsform basiert.
Es war der Sozialismus, der zwischen 1916 und 1923 als erster eine Einigung Europas versucht hat – in der viel größeren Perspektive einer internationalen Gesellschaft ohne Krieg, ohne Ausbeutung und ohne nationale Unterdrückung. Unglücklicherweise wurden die Erhebungen der arbeitenden Klassen gegen den mörderischen, autoritären und aussaugenden Kapitalismus – in Rußland, Deutschland, Ungarn, Italien, Rumänien, Polen – nacheinander gewaltsam unterdrückt. Die UdSSR blieb alleine und isoliert, die Vereinigung fand nicht statt. Bald fiel sie unter die stalinistische Diktatur. Die falsche Alternative „kapitalistisch-demokratische Ausbeutung“ oder „totalitärer Pseudo-Sozialismus“ machte die Runde in Europa.
Der zweite Weltkrieg, der Europa ein weiteres Mal verwüstete, erinnerte an die Notwendigkeit, die periodisch explosiven Rivalitäten zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland in den Griff zu bekommen. Doch diese haben tiefe historische und strukturelle Wurzeln:
Frankreich, vom umfassenden Schwung der Revolution von 1789 zum Zenit der Geschichte getragen, ist behindert durch eine weniger leistungsfähige Wirtschaft
England, erste (industrielle und koloniale) Macht der modernen Zeit und mit wichtigen finanziellen und diplomatischen Ressourcen, ist auf dem Abstieg
Deutschland, Wirtschaftsmacht erster Ordnung, behindert durch eine verspätete Einigung (erst im 19. Jahrhundert) und ohne Kolonialgebiete, ist politisch stigmatisiert durch die Wechselfälle seiner Geschichte.
Nach 1945 wurde dieses Europa, einen Moment verunsichert durch Angriffe der Arbeiterklassen, von zwei Seiten eingekeilt und minorisiert. Seine Ostflanke wandte sich im kalten Krieg gegen die UdSSR; im Westen trug es alle wirtschaftlichen, politischen und militärischen Lasten der Vereinigten Staaten, die von einer ehemaligen englischen Kolonie zur ersten Supermacht des Planeten aufgestiegen waren.
Die Treibkraft der europäischen Einigung, wie sie sich seit fünfzig Jahren entfaltet, besteht aus zwei Aspekten: einem ökonomischen und einem ebenso wichtigen staatspolitischen. Beide sind stets vorhanden und können gleichzeitig oder abwechselnd den Prozeß vorantreiben. Und einer „Abirrung“ auf sozialem Gebiet: der Verpflichtung zu wichtigen Konzessionen (Beschäftigung, Einkommen, soziale Sicherheit, gewerkschaftliche Freiheiten, Wirtschaftsdemokratie in den Unternehmen) an die häufig turbulenten und stark organisierten Arbeiterklassen. Mehr als je zuvor lebt Europa unter dem Druck interner und externer Widersprüche. Sie können sich schnell entzünden (vgl. die Spannungen beim Fall der Berliner Mauer). Ein gewisses Maß an supranationaler Einschränkung, d.h. die Verlagerung von Teilen der nationalen Souveränität an die (staatlichen) europäischen Institutionen, die für alle verbindliche Entscheidungen treffen können, scheint unerläßlich. Die politische Stabilität und ökonomische Expansion Europas haben ihren Preis. Aber jene wird nie erreicht, weder in Europa noch anderswo.
Die manchmal mysteriösen Schwierigkeiten, die sich wiederholenden Krisen wie auch die lästige Aufeinanderfolge von Verträgen (einer konfuser als der andere) erklären sich aus diesem historischen und politischen Hintergrund.
Im Jahre 1947 knüpften die Vereinigten Staaten ihre Hilfe (den Marshall-Plan) an die Bedingung der Bildung einer Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, der Vorläuferin der OECD). Es ging nicht um Menschenfreundlichkeit. Sondern um die Bildung eines einheitlichen Marktes ohne (äußere) quantitative Beschränkungen für die Waren, die in erster Linie aus einer amerikanischen Wirtschaft stammten, die expandierte und nach neuen Absatzmärkten suchte. Die ökonomische Umgestaltung fand nicht auf der Basis eines vereinigten Europas statt, sondern über den Umweg von Nationalstaaten, die immer noch von den Kriegsfolgen gezeichnet waren.
Im Juli 1952 (1950 vorbereitet, 1951 unterzeichnet), trat die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion) in Kraft, der Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland angehörten. Der Vertrag gibt mit einer seltenen Offenheit zu, daß es sich darum handele, „jahrhundertealte (!) Rivalitäten durch eine Fusion der wesentlichen Interessen zu ersetzen“, in der Perspektive „einer Gemeinschaft … zwischen Völkern, die lange Zeit durch blutige (!) Spaltungen getrennt waren“ (Präambel). Praktisch sollte „ein gemeinsamer Markt“ für die Produkte gegründet werden, deren Überproduktion als Ursache des Krieges angesehen wurde. Der Protektionismus (praktische Beschränkungen, Staatssubventionen, Diskriminierung von Produzenten der Mitgliedsländer, Zugangsrechte oder Steuern) wurde verbannt und die Produktion kontingentiert, wobei Unterstützungen in Aussicht gestellt wurden. Dies ist das erste Mal, daß ein europäisches Organ (die „Hohe Behörde“) die supranationale Entscheidungsmacht erhielt, genau beschriebene Aufgaben zu verwalten. Tatsächlich fügte sich der Vertrag in die ökonomische und politische Mobilisierung der Vereinigten Staaten ein, die sich darauf vorbereiteten, der UdSSR und China entgegenzutreten. Ihre Produktion an Stahl und Kohle war nicht ausreichend. Diese europäische Wiederbelebung war nicht möglich ohne den Beitrag der deutschen Wirtschaft. Und sie war undenkbar ohne den französischen Beitrag. Der Kern der EGKS wird auch im Herzen jedes künftigen Einigungsprozesses sein.
Der glänzende Erfolg der EGKS verleitete die europanistischen Kreise dazu, das Gebiet auszuweiten und die Supranationalität zu verstärken. Aber der Schritt war zu groß. Der Versuch (zwischen 1950 und 1954), eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, erlitt eine verblüffende Niederlage, deren politische Folgen noch lange anhielten. Sie war über ein historisches Problem gestolpert: die Wiederbewaffnung Deutschlands (unter den Ägiden Europas).
Der Vertrag von Rom (1957) zur Gründung der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) nahm die Gangart der EGKS wieder auf. Sie zielte darauf, allmählich einen allgemeinen gemeinsamen Markt durch Abschaffung der internen Schranken und Einführung eines gemeinsamen Außenzolls zu schaffen. Der einzige Interventionismus supranationaler Art war die Gemeinsame Agrarpolitik. Die Prinzipien des Vertrags sind die des Liberalismus. Bemerkenswert ist, daß soziale Ziele (Beschäftigung, Wohlstand, …), soweit sie in dem Vertrag erwähnt werden, schon nicht mehr das Gewicht erreichen wie in den 40er Jahren. Die Menschen werden durch den Vertrag weder begeistert noch beunruhigt! Er beruht vor allem auf einem Fortschritt des wirtschaftlichen Austauschs im Westen des europäischen Kontinents und einer politischen Konvergenz der sechs von der EGKS. Er unterstützte auf Umwegen die Bildung von Euratom, dem Versuch des europäischen Kapitalismus, seinen Rückstand gegenüber den USA aufzuholen.
Über drei Jahrzehnte (1957-86) machte die europäische Einigung wenig oder gar keine Fortschritte. Das wichtigste Ereignis ist die Unterzeichnung eines Währungsabkommens zwischen einigen europäischen Ländern (die „Europäische Währungsschlange“ von 1972, aus der 1978 das „Europäische Währungssystem“ wurde). So wurde versucht, den Zusammenhalt zwischen den EU-Währungen zu stabilisieren. Dies war die Antwort auf den Gewaltakt der amerikanischen Regierung, die die Verträge von Bretton-Woods (1944-1971) gekündigt und heftige Turbulenzen auf den Währungs- und Finanzmärkten ausgelöst hatte.
|
|||||||||||
Zwischen 1989 und 1992 kippte alles. Die Unterzeichnung des Einheitlichen Akte (1986) mit ihren 3000 praktischen Maßnahmen zielt darauf, daß allgemeine Programm des Vertrags von Rom zu realisieren. Ein Zieldatum wurde vorgegeben und J. Delors gelang es, einen politischen Willen bei den herrschenden Klassen in Europa hervorzurufen und ihn in praktische Politik umzusetzen. Der schnelle Fortschritt des gemeinsamen Markts (getragen von der neoliberalen Welle von Reagan-Thatcher) und die enorme Wende in der Weltsituation (Fall der Mauer, Niederlage der Arbeiterklasse im Osten und politischer Triumph des Kapitalismus) haben den Weg frei gemacht. Der Maastrichter Vertrag ging durch. Angenommen im Dezember 1991 und unterschrieben im März 1992 trat er im November 1993 in Kraft, gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des EWS. Dennoch gelang es ihm, Schwung und Zusammenhalt für die Offensive im Sinne der Unternehmer und Regierungen zu schaffen. Die in der Einheitlichen Akte enthaltene Deregulation, ohne einschränkendes Gegenstück auf sozialer Ebene, setzt die Arbeiterklassen in der EU einer verallgemeinerten Konkurrenz aus. Mit seinen monetaristischen Konvergenzkriterien untergräbt der Maastrichter Vertrag systematisch den Wohlfahrtsstaat. Der „Stabilitätspakt“ will jedes Infragestellen verhindern. Gleichzeitig postuliert die Währungsunion die Schaffung wirklicher supranationaler Mechanismen mit Übertragung nationaler Souveränität (unabhängige Europäische Zentralbank). Die Währungsunion soll 1998 beginnen. Auf der anderen Seite steht durch die Angliederung mehrerer Länder des Ostens die Erweiterung des gemeinsamen Marktes auf der Tagesordnung. Dies beides zusammen unterstreicht die entscheidende Frage: wie den politischen Zusammenhang einer EU bewahren, die mit Widersprüchen gleichzeitig im zentralen Kern (Währungsunion und ihre Konsequenzen) wie in dem weiten geoökonomischen Ensemble konfrontiert ist, das sich vom Atlantik bis zur russischen Grenze und vom Nordpol bis zum Mittelmeer erstreckt. Die Regierungskonferenz hat die Zweifel nicht beseitigt.
Übers.: Björn Mertens |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz