Europa

Gegen EU und Euro – für ein anderes Europa

Seit langer Zeit war „Europa“ eine Idee – eine gute vielleicht, sicher harmlos, weit entfernt in jeder Hinsicht. Die neoliberale Offensive der 80er Jahre und der Fall der Mauer haben die Situation und die Kräfteverhältnisse verändert. Diesmal haben die herrschenden Klassen sich die Perspektive angeeignet. Zwischen 1986 und 1990 wurden zwei wichtige Entscheidungen von äußerst politischem Charakter getroffen: einen gemeinsamen Markt einzuführen und auf eine gemeinsame Währung hinzuarbeiten. Der randständige und schrittweise Prozeß der Einigung rückt ins Zentrum der europäischen Politik. Er erfordert einen wirklichen „Kraftakt“: die Harmonisierung der europäischen Ökonomien und die Schaffung eines supranationalen (Mini-) Staats von oben. Und in der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Konjunktur wird dieser Staat von Anfang an antidemokratisch sein, mit antisozialer Politik.

François Vercammen

Der Aufbau der EU geschieht hinter dem Rücken der Völker und gegen die arbeitenden Klassen. Die „Charta der sozialen Rechte“, von den europäischen Gewerkschaften vorgeschlagen, aber nur halbherzig verfolgt, hat im Maastrichter Vertrag keinen Platz gefunden. Konsequenz: Die EU startet unter dem Motto „Markt über alles“, ohne europäische Sozialnormen. Das ist das Einfallstor für einen umfassenden Abbau von Errungenschaften. Die EU ist nicht sozial und wird nicht sozial sein! Nach hundert Jahren geistert eine neue, ganz und gar moderne „soziale Frage“ durch Europa.

Die uns regieren, sind nicht ohne Wissen über die Gefahren dabei: für den „zivilen Frieden“, die „soziale Ruhe“ und … die EU selbst. „Ohne Unterstützung der Bevölkerung wird sich Europa nicht aufbauen lassen“, lautet der Chorgesang, den Delors als erster angestimmt hat. Wie verträgt sich dies mit der Politik des Sozialabbaus? Man unterstellt, die Leute würden es „nur nicht verstehen“ und bezahlt Unsummen für Informationskampagnen.

Das „Koma“ der Geschichte zwischen 1989 und 1995 war kurz, aber tief und schmerzlich; die Verluste der Arbeiterbewegung und mehr noch die Gewinne der Bourgeoisie sind beträchtlich. Im November/Dezember 1995 wurde die Arbeiterbewegung, die niemals aufgehört hatte, von Land zu Land Widerstand zu leisten, von dem großartigen Kampf der französischen Arbeiterinnen, Arbeiter, Studentinnen und Studenten aufgerüttelt. Er war offensichtlich der erste europäische Streik gegen Maastricht – in einem einzelnen Land. Die brutale Schließung von Renault-Vilvoorde (Belgien) im Frühjahr 1997 wegen Verlagerung innerhalb der EU hat enthüllt, bis zu welchem Punkt dieses Europa nach dem Maß der Unternehmer geschnitzt ist. Der gemeinsame Gegenstoß der belgischen, französischen und spanischen Arbeiter hat gezeigt, daß die Lektion vom Winter 1995 genutzt hatte: Jeder wichtige soziale Kampf erfordert eine unmittelbare Solidarität auf europäischer Ebene. Die Gewerkschaftsbewegungen müssen europäisch sein, oder sie werden nicht sein!


Wir stehen vor einer Wende


Das Tempo in Richtung auf die Währungsunion beschleunigt sich, die antisozialen Lasten werden immer schwerer. Gleichzeitig „programmiert“ die EU ihren Kalender, steckt die Ziele fest und synchronisiert die Kämpfe der Arbeiterbewegung. Sie tritt ihren Feinden offen gegenüber, zwingt jeden, seine Seite zu wählen, und drängt jede Strömung oder Organisation, ihre Analysen, ihr Programm und ihre Strategie vorzulegen.

Über zehn Jahre waren die Fortschritte der EU gekennzeichnet von einem parallelen Fortschritt neoliberaler Politik bis zu dem Punkt, wie er jetzt in den Verträgen festgeschrieben ist.

Wir erinnern uns, daß „europäische Einigung“ zwei Dinge auf einmal bedeutet: die Verhältnisse zwischen den Nationalstaaten zu regeln, aber eben auch die Wahl einer bestimmten Politik:

      
Mehr dazu
Erklärung von Socialist Resistance: Der Brexit-Sieg ist eine Katastrophe, aber der Kampf geht weiter, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Brexit: Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Erklärung der Europäischen Antikapitalistischen Linken: Ein anderes Europa ist möglich! Nein zu der Verfassung der multinationalen Konzerne!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Vercammen: Wege zu einem anderen Europa, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
François Vercammen: Die EU-Verträge im Lichte der Geschichte, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
François Vercammen: Europa und seine Institutionen, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
Maxime Durand: Europaplan für Arbeit, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
Catherine Samary: Die Osterweiterung der EU, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
 

Zwei Analysen, zwei Optionen, zwei entgegengesetzte Wege!

Die europäische Einigung ist kein Ideal, sondern ein Kampf. Die herrschenden Klassen mobilisieren all ihre (mächtigen) Ressourcen, um zu siegen. Aber sie haben auch Probleme. Weltweit löst die Marktwirtschaft – im Augenblick ihres Triumphes – die Krise nicht, sie verschärft sie. Die neoliberale Ideologie ist auf dem Rückzug. Das Pendel kehrt, langsam, zur anderen Seite um.

Internationalistische Marxisten, lassen sich nicht in der Falle des falschen Dilemmas fangen: für oder gegen Europa, entweder EU oder nationaler Rückzug. Seit ihrer Geburt war die sozialistische Arbeiterbewegung internationalistisch. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat der Marxismus verstanden, daß der Nationalstaat für eine harmonische Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaft zu eng geworden ist. Unser Widerstand gegen die EU erfolgt im Namen eines anderen Europas, nicht im Namen des Nationalstaats. Die EU widersetzt sich nicht der Globalisierung, sie nimmt daran teil. Sie widersetzt sich nicht der „Amerikanisierung“ unserer Gesellschaft, sie begünstigt sie.

Nur ein anderes Europa, ein soziales, das mit dem Kapitalismus bricht, wird die Kraft und den Elan finden, die „alten Gespenster“ unseres Kontinentes zu vernichten und der Zukunft eine Hoffnung zu eröffnen.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz