Europa

Europa und seine Institutionen

„Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa. Das Europa der Wirtschaft und der Währung muß durch ein politisches Europa vollendet werden.“ Dies hört man häufig auf EU-Gipfeln als Antwort auf den wachsenden Widerstand der Bevölkerungen. In gewisser Weise gehen sie auf die Kritik ein. Mit der Forderung nach der Entwicklung eines „politischen Europas“ rufen sie nach einer Stärkung der politischen Macht. Sie lassen alte Erinnerungen wiederaufleben und suggerieren, dies sei der Weg zu einem sozialen Europa.

François Vercammen

Die Realität ist völlig anders. Die EU kämpft nicht gegen die geheimen ökonomischen Mächte (Finanzmärkte, Multis), sie verteidigt sie. Und das Europa, das sich entwickelt, ist nicht von mehr, sondern von weniger Demokratie gekennzeichnet. Die EU stärkt das soziale Europa nicht, sie wickelt es ab.


Ein undurchsichtiger Prozess


Bei einer Frage, die das Schicksal der Völker und den Alltag von Millionen Männern und Frauen berührt, sollte man erwarten können, daß die Einsätze klar definiert sind, die Vorschläge öffentlich debattiert werden und die Gesetze demokratisch (insbesondere mit allgemeinem Wahlrecht) beschlossen werden. Das ist nicht der Fall.

„Der Aufbau Europas ist ein permanenter Prozeß“, sagt der deutsche Außenminister Klaus Kinkel. Tatsächlich befindet sich die EU in einem permanenten verfassunggebenden Prozeß. Pragmatisch beschließen die Institutionen Normen, entwickeln und entfalten sich die Strukturen. Die drei Ebenen der Entscheidungsmacht in der EU (Gemeinschaft, Regierungskonferenzen, national) kreuzen sich, stoßen sich, verletzen sich, gewinnen oder verlieren Terrain.

Die EU ist eine brüchige Konstruktion und von Widersprüchen durchzogen. Dies deshalb, weil es um einen Prozeß geht, in dem die Zauberworte Umsicht und Geduld heißen. Jeder wirkliche Schritt vorwärts, häufig durch Krisen hindurch, muß sich eng auf das Kräfteverhältnis einstellen, Rücksicht nehmen auf die Interessen der Nationalstaaten und, in zweiter Linie, die zwischen Kapital und Arbeit. Das verlangt weiter, daß der Prozeß sehr eng gesteuert wird von einem kleinen Kern weniger Minister in jeder Nationalregierung und von einem kleinen Kern von Ländern (nicht überraschend das Paar Frankreich/Deutschland mit festem Seitenblick auf Großbritannien). Auf diese Weise geht die Regierungskonferenz [1] an die Revision der Verfassung der EU (d. h. den Maastrichter Vertrag). Und weiter.


Eine autoritäre Struktur


Die institutionelle Struktur der EU ist alles andere als demokratisch. Glaubt man der offiziellen Darstellung, so bildeten die Institutionen der EU ein harmonisches und ausbalanciertes Dreieck: der Rat (die Minister der Mitgliedsländer) repräsentiere die Staaten, die Kommission verkörpere den „gemeinschaftlichen Geist“ (der EU als solcher) und das Europaparlament spreche für die Völker. Aber wer entscheidet was und wie?

In einer parlamentarischen Demokratie geht die Macht vom souveränen Volk aus: mit allgemeinem Wahlrecht, durch Abgeordnete (Parlamentarier) für eine Versammlung (Parlament), die eine Vormachtstellung gegenüber dem gesamten Staatsapparat hat. Es gibt eine Gewaltenteilung: Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Justizapparat). Verfassung und Parlament bestimmen die Regeln einer jeder dieser Institutionen (Modalitäten der Bildung und Zusammensetzung, von Zuständigkeiten und Rechten) sowie ihre jeweiligen Verbindungen. Um die Verfassung (das Grundgesetz eines jeden Landes) festzulegen und zu verändern, gibt es eine Konstituante (verfassunggebende Versammlung) – evtl. kann das Parlament diese Rolle spielen, nach festgelegten Regeln. Soweit das Wesentliche.

In der EU gibt es keine Gewaltenteilung. Darüber hinaus konzentriert die Exekutive (d. h. der Europäische Ministerrat) in seinen Händen die Legislative, die konstitutionelle und teilweise die judikative Macht. So ist es der Ministerrat, der ohne Einspruchsmöglichkeit Sanktionen über ein Land verhängt, das sich den Normen widersetzt. Das gilt namentlich für ECOFIN, den Rat der europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, in bezug auf die Konvergenzkriterien. Der Rat kann sogar über seine expliziten Rechte hinausgehen und die Koordination der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten an sich reißen (Art. 145).

Die Europäische Parlament wird zweifellos durch allgemeines Wahlrecht bestimmt. Aber es hat kein einziges der elementaren Grundrechte eines Parlaments: die Regierung (d. h. Rat und Kommission) ernennen und entlassen; den Haushalt verändern, billigen oder ablehnen; die allgemeinen Gesetze machen und jene, die das Funktionieren der anderen beiden Gewalten regeln, oder die Verfassung verändern. Es ist kein Souverän; es ist reduziert auf eine Rolle der Beratung und der Stellungnahme.

Das ist ein klarer Bruch mit der traditionellen parlamentarischen Demokratie und entspricht weitgehend der Situation vor den französischen und englischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Dieses autoritäre Funktionieren wird noch verschlimmert durch die bedenkliche Rolle, die der EuGH (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft mit Sitz in Luxemburg) spielt, die diskreteste der EU-Institutionen. Es handelt sich um eine geschmeidig einsetzbare Struktur mit außerordentlich weitreichenden Kompetenzen von häufig supranationaler Tragweite, die sich durch die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Versäumnisse der anderen Strukturen und Institutionen der EU spontan ausweiten. Der EuGH hat das Monopol auf die Interpretation der Verträge und des gesamten Rechts der Gemeinschaft. Er richtet Verstöße der EU und der Nationalstaaten gegen die Verträge, spricht Urteile und verhängt Strafen. Er ist Kassationsgericht der ersten Instanz. Die Gerichte der Mitgliedsländer sind verpflichtet, ihm alle Probleme vorzulegen, die das Gemeinschaftsrecht betreffen; die Auslegung ist dem EuGH vorbehalten, Der EuGH ist ausdrücklich mit verfassunggebender Macht ausgestattet: Der Vertrag (Art. 4) drängt ihn, sich der Aufgabe der europäischen Einigung anzunehmen. Wenn es eine Unklarheit in den Verträgen gibt und die anderen Institutionen regelrecht in der Sackgasse stecken, kann der EuGH sich an ihre Stelle setzen und entscheiden.


Die Tendenzen verschärfen sich


Nichts in der bisherigen Arbeit (für die Amsterdamer Konferenz 1997 oder danach) deutet auf einen Kurswechsel. Das Parlament bleibt allem Anschein nach weiter außen vor. Die größte Sorge der Regierungen der EU ist es, das Zusammenwachsen und die Effizienz voranzubringen. Was gleichbedeutend ist mit mehr Exekutivgewalt in den Händen von immer weniger Ländern.

Kommission und Rat sollen nach dem ökonomischen und demographischen Gewicht der Mitgliedsländer neu gestaltet werden (besonders mit Blick auf die Ausweitung der EU nach Osten). Die bisherige Struktur begünstigt die kleinen Länder und erschwert die Schaffung einer neuen zentralen Exekutive (faktisch ein Direktorat) und einer einheitlichen Wortführerschaft in auswärtigen Angelegenheiten. Die Regel der Einstimmigkeit soll ersetzt werden durch die einer qualifizierten Mehrheit.

Das, was als großer demokratischer Fortschritt angepriesen wird – die Bildung einer „Wirtschaftsregierung“ als Gegengewicht zur allmächtigen Europäischen Zentralbank zu verstehen –, unterstreicht einmal mehr die Verstärkung der exekutiven Macht.

Um das „Sozialdefizit“ auszugleichen, soll „das Sozialprotokoll“ (des Maastrichter Vertrages) in den neuen Vertrag aufgenommen werden, aber man bleibt weit zurück hinter den verbindlichen sozialen Rechten, die auf der Ebene der Nationalstaaten existieren, aber nicht auf das Niveau der „Gemeinschaft“ übertragen wurden. Dies gilt auch für die Systeme der Zusammenarbeit zwischen zwei (Gewerkschaften und Unternehmer) und drei Seiten (zusätzlich mit der Regierung), die trotz ihrer Tendenz zur Sozialpartnerschaft eine gewisse Transparenz ermöglichen und der Arbeiterbewegung Kontrolle und Intervention erlauben.

Tatsächlich will die EU die „europäischen Institutionen“ dem demokratischen und sozialen Druck der Bevölkerungen entziehen und verhindern (oder maximal bremsen), daß sich die erkämpften Rechte und der Einfluß der nationalen „Zivilgesellschaften“ auf die „Gemeinschaftsebene“ übertragen. Der beschleunigte Marsch in die Währungsunion verschärft das demokratische und soziale „Defizit“.

      
Mehr dazu
Erklärung von Socialist Resistance: Der Brexit-Sieg ist eine Katastrophe, aber der Kampf geht weiter, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Brexit: Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Erklärung der Europäischen Antikapitalistischen Linken: Ein anderes Europa ist möglich! Nein zu der Verfassung der multinationalen Konzerne!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Vercammen: Den Kampf gegen die kapitalistische Europäische Verfassung aufnehmen, Inprekorr Nr. 388/389 (März 2004)
Catherine Samary: EU-Osterweiterung – gibt es eine linke Alternative?, Inprekorr Nr. 352 (Februar 2001)
François Vercammen: Wege zu einem anderen Europa, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
François Vercammen: Die EU-Verträge im Lichte der Geschichte, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
Maxime Durand: Europaplan für Arbeit, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
Catherine Samary: Die Osterweiterung der EU, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
François Vercammen: Gegen EU und Euro – für ein anderes Europa, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
 

Den Vertrag reformieren oder auflösen?


Die EU gründet sich fundamental auf das Prinzip der Zusammenarbeit zwischen Regierungen (oder zwischen Staaten). Sie treffen alle großen Entscheidungen und bestimmen alle Institutionen (abgesehen vom Parlament). Das gilt auch für die Kommission, die nur eine begrenzte Autonomie hat und wöchentlich den (Entsandten der) Nationalregierungen berichten muß. Die Währungsunion (Konvergenzkriterien + Stabilitätspakt und die EZB) soll ein wichtiger Schritt (des Anfangs) einer antidemokratischen und antisozialen supranationalen Macht sein. Das nimmt den nationalen Regierungen ihre Währungspolitik und folglich das ganze Bündel der Haushalts-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.

Es gibt eine häufig konfuse Debatte, ob die EU supranational sei oder nicht. Es existiert kein anderes seriöses Projekt, das Unterstützung von Teilen des Großkapitals hätte. Ganz offensichtlich hat die EU nicht die Berufung, ein voll ausgebildeter supranationaler Staat zu werden (vergleichbar mit den existierenden Nationalstaaten). Man kann sie als (feste und institutionalisierte) zwischenstaatliche Koordination mit Ansätzen eines supranationalen Staatsapparats definieren, dessen relative Autonomie und laufende Aktivität aber von den (wichtigsten) Mitgliedsstaaten stark eingegrenzt wird.

Die EU ist eine instabile Konstruktion. Sie stützt sich nicht auf eine sich bildende europäische Nation. Es gibt keine europäische Großbourgeoisie von einer zur Führung ausreichenden Homogenität. Und ihre aktuelle Politik zögert nicht, die Lebensbedingungen der Volksmassen heftig anzugreifen. Die EU erscheint (wie die nationalen Regierungen, die sie bilden) nicht als Ansprechpartnerin für demokratische, politische und soziale Forderungen. Sie erweist sich als unfähig, die großen Probleme der heutigen Zeit zu lösen. Ihre nationale und soziale Legitimität wird dadurch noch weiter reduziert.

Es ist ausgeschlossen, daß ein solcher Staatsapparat für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft eines Tages von irgendeinem Nutzen wäre. Es ist auch nicht möglich, ihm größere soziale und demokratische Reformen aufzuzwingen, wie sie auf nationaler Ebene bestehen.

Um ein soziales Europa zu schaffen, muß ein neuer Kurs eingeschlagen werden. Große Mobilisierungen in mehreren Ländern sind erforderlich. Das realistische Ziel ist die Abwicklung der EU – ihrer Verfassung, ihrer Gesetze und ihrer Institutionen. Der Weg muß frei gemacht werden für eine andere Politik und andere Institutionen.

Übersetzung und Anmerkung: Björn Mertens.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Am 29.3.1996 wurde auf dem EU-Gipfel in Turin die Regierungskonferenz zur Reform der EU eröffnet. Die Konferenz tagt monatlich auf der Ebene der Außenminister. Auf dem Amsterdamer Gipfel im Juni 1997 soll das Reformprojekt („Maastricht II“) dann abgeschlossen werden.