Russland/Geschichte

Wirtschaftliche und soziale Probleme

Von der Oktoberrevolution zur Wirtschaftsdebatte der zwanziger Jahre: Welches waren die Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus?

Catherine Samary

Das Scheitern und der Zusammenbruch der sogenannten sozialistischen Länder beinhaltet am 80sten Jahrestag der Oktoberrevolution eine notwendige Bestandsaufnahme und eine Suche nach den Gründen des Mißerfolgs. Ich möchte von einer häufig in dieser Debatte genannten Erklärung, dem „Voluntarismus [1] der Bolschewiki”, ausgehen und auf den meines Erachtens fruchtbarsten Gesichtspunkt zu sprechen kommen: auf die wirtschaftlichen Debatten und Entscheidungen (in Wirklichkeit waren es natürlich politische und sozio-ökonomische Entscheidungen), wie sie noch zu Lebzeiten Lenins und in den zwanziger Jahren gefällt wurden. Dadurch gelingt es besser, hinter der Politik der Bolschewiki die Faktoren herauszuarbeiten, die dem Aufstieg des Stalinismus in die Hände gearbeitet haben, aber auch die Elemente des Bruchs zwischen Leninismus und Stalinismus und die möglichen Alternativen zu sehen.

Die grundlegenden Debatten unter den Marxisten zu Beginn der zwanziger Jahre hatten nichts von „Voluntarismus” an sich in dem Sinn, daß sie von den realen historischen und sozioökonomischen Bedingungen abgekoppelt gewesen wären; vielmehr handelte es sich um die ersten großen Diskussionen hinsichtlich der realen Probleme beim Übergang zum Sozialismus. Diese Fragen stellen sich immer noch für jedes Land, das für seine Bevölkerung eine Entwicklung sicherstellen möchte, die mit der Diktatur des kapitalistischen Marktes bricht, das sich aber hinsichtlich der Produktivität hinter den entwickelten kapitalistischen Ländern im Rückstand befindet. Der Begriff „Voluntarismus” ist eine Mystifikation (die zumeist auf den „Realismus” des laissez-faire hinausläuft), sofern sie den notwendig politischen Charakter der großen wirtschaftlichen Entscheidungen versteckt. Die Diskussionen in den zwanziger Jahren sind von großem Reichtum, weil sie Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen, die durch den Oktober erst in die Welt gesetzt wurden.


Einschätzung der Menschewiken


In verschiedenen Varianten stellt die Einschätzung der Menschewiken eine erste Interpretation für den angeblichen Mißerfolg dar: Die Februarrevolution (eine bürgerliche Revolution gegen das alte Regime) sei historisch begründet gewesen, nicht jedoch die Oktoberrevolution. Der „Voluntarismus” der Bolschewiki (die die Grenzen der bürgerlichen Revolution überschritten und die „Gesetze” der Geschichte verletzt hätten) sei somit die eigentliche Ursache für die stalinistische Degeneration, die historisch unvermeidlich gewesen sei. Nur eine kapitalistische Entwicklung (eine „normale”? aber wäre diese nicht voluntaristisch und vor allem wäre sie demokratisch gewesen?) hätte die Vorbedingungen (ein entsprechendes Niveau der Produktivkräfte) schaffen können für eine sozialistische Transformation.

Die lange historische Erfahrung hat für den reformkapitalistischen Weg aus der Unterentwicklung der Länder an der kapitalistischen Peripherie kaum ein überzeugendes Beispiel hervorgebracht. Sie hat vielmehr die Zerbrechlichkeit der erreichten Errungenschaften selbst in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern gezeigt. Im übrigen muß man betonen, wie sehr gewisse Entwicklungsmöglichkeiten in einigen Ländern der Dritten Welt und wie sehr die sozialen Errungenschaften des Nachkriegsbooms zumindest teilweise Konsequenzen des Oktober gewesen sind. Oder anders ausgedrückt: Die Breite des Widerstands gegen die marktwirtschaftliche Profitlogik drückte sich sowohl im Kapitalismus wie außerhalb aus. Der Wiederaufbau Europas mit Hilfe des Marshall-Plans, die riesige Hilfe durch den Imperialismus, die z. B. Südkorea erhalten hat, aber auch der Keynesianismus, der die Notwendigkeit des Kapitalismus theoretisch gefaßt hat, sich zu sozialisieren oder zu verschwinden, alles das gehörte zur staatlichen „Regulation”, die ziemlich „voluntaristisch” war und die der Kapitalismus einige Jahrzehnte lang in sein Repertoire aufgenommen hatte – auch aus Angst vor dem Kommunismus. Nur neue große Angstzustände solcher Art (also die Wiederherstellung eines auf internationaler Ebene für die Arbeitenden günstigeren Kräfteverhältnisses) werden den gegenwärtigen Lauf des Kapitalismus ändern können, der momentan zur seiner „natürlichen” Barbarei zurückkehrt. Aber zurück zu den Bolschewiki.


Putsch entschlossener Revolutionäre?


 

Jewgeni A. Preobraschenski

Hat es einen „Putsch” der Bolschewiki gegeben, ein Projekt einer Avantgarde, die den Lauf der Geschichte zurechtrücken wollte, oder gab es eine wirkliche Revolution, deren gesellschaftliche Dynamik man zunächst analysieren muß? Eine (erneute) Lektüre von historischen Schriften, die über „jeden Verdacht erhaben” sind, bolschewistisch zu sein, etwa die Arbeiten von Marc Ferro, ist hier erhellend, sofern man mit jener Frage beginnen möchte.

»Die Oktoberrevolution legitimierte einen Machtwechsel, der sich nicht wirklich realisierte. Die „Eroberung” der Macht „durch die Bolschewiki” ersetzte den alten Staatsapparat, der unter Kerenski weiterbestand, durch eine Konstellation von Komitees und Sowjets, die die Staatsmacht teilweise ausübten, die sie aber nicht ganz zu übernehmen vermochten oder wagten. Der Oktoberaufstand legitimierte sie. Er befreite die wunderbare Energie von Tausenden Komitees und anderen Organisationen des Volkes. (…) Es waren die Sowjets, die die Macht über die Gesellschaft ausübten. Nicht so sehr der Kongreß der Sowjets, die höchste Instanz, die kaum einige Tage zusammengetreten war und schon große Entscheidungen traf (die Auflösung der Konstituante, den Frieden von Brest-Litowsk usw.), sondern die Masse der lokalen Sowjets und der vielgestaltigen Komitees.« [2]

Woher kamen diese riesigen Energien des Volkes? Doch wohl aus dem unterdrückerischen Charakter des alten Regimes, der Feindschaft und dem sabotierenden Verhalten der herrschenden Klassen angesichts einer Bevölkerung, die einfach nur würdig und besser leben wollte, aus der gelebten Erfahrung der unterdrückerischen Gewalt nicht nur des Zarismus und seiner Anhänger, sondern auch der neuen „bürgerlichen Demokratie” – eine Gewalt, die genauso groß war wie ihre gesellschaftliche Bewegungsunfähigkeit! So sagt uns Ferro, daß diese Gesichtspunkte zu einem zunehmenden Radikalismus und einem wachsenden Absolutismus des Volkes führten, und eben auch zur politischen Intransigenz und einem Absolutheitsanspruch der Bolschewiki (wir kommen darauf zurück).

»Die Radikalisierung der Massen kann ausreichend durch die Unfähigkeit der Regierungspolitik (in der seit Mai Sozialisten mitwirkten) erklärt werden, die unter dem Deckmantel der Notwendigkeit zwischen den herrschenden und den Klassen des Volkes Maßnahmen der Versöhnung durchzusetzen suchte. Die Verhandlungen veränderten aber die herrschende Ordnung überhaupt nicht, sondern setzten sie fort und konsolidierten sie sogar.« (S. 139) »In Stadt und Land drückte (der Absolutismus des Volkes) eine Gewißheit aus: seinen Glauben an ein gesellschaftliches Regime, das auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegründet sein sollte. Auf dem Land zum Beispiel wollten die Muschiks [Bauern] nur jenes Land aufteilen, das die Großgrundbesitzer als Brache gelassen hatten, sowie die Wälder. Deren Weigerung brachte sie dazu, die Ländereien gleich aufzuteilen (…), proportional zur Zahl der zu ernährenden Münder (…). Angesichts neuer Verweigerungen bekamen der Zorn und die Gewalt die Oberhand über die Gutmütigkeit (…). In der Stadt lief derselbe Prozeß ab. Die Arbeitenden verlangten, daß ihnen weniger unmenschliche Lebensbedingungen gewährt würden. Es war die brutale oder verschlagene Weigerung der Besitzenden, die zu Fabrikbesetzungen, zur Festsetzung der Bosse und schließlich zum Oktober führte, zur Rache an den Bourgeois.

Im Bereich der Politik zeichnete sich die Wende mit den Juli-Tagen ab, als sich die „Demokratie” mit der bestehenden Macht identifizierte und die Armee gegen die Volksklassen einsetzte. Diese Wende wurde endgültig während des Kornilow-Putsches beschritten: Obwohl er ihn bekämpfte, erschien Kerenski mehr als ein Rivale denn ein Gegner, da danach keine Maßnahmen gegen die Komplizen, die mit den Gegnern einer wirklichen sozialen Revolution verbunden waren, getroffen wurden. Von nun an werden alle diejenigen, die sich der „Macht der Sowjets” in den Weg stellen, als Feinde angesehen, auch wenn es sich um Mitglieder der Menschewiken oder der Sozialrevolutionäre handelte.« (S. 163 f.)

Natürlich kann man immer behaupten, es hätte eine bürgerlich-demokratische Alternative zur Politik der Bolschewiki gegeben, doch der Beweis fällt schwer. (Eine andere Sache ist es, die Politik der Bolschewiki selbst zu diskutieren.) Der um den Preis schrecklicher Verluste errungene Sieg im Bürgerkrieg gegen die Armeen der Weißen zeigt auch die Tiefe des Widerstands des Volkes an, selbst wenn daraus ein fürchterliches Erbe und die Methoden des Kriegskommunismus resultierten. Man kann nicht von diesen Tatsachen abstrahieren, sofern man die Folgen wirklich in ihrem Kontext verstehen will. Aber die Wende zur „Neuen Wirtschaftspolitik” NEP und die Diskussionen dieser Zeit zeigen einmal mehr, wie sehr die These vom „Voluntarismus der Bolschewiki” unsinnig ist, wiewohl sich daraus durchaus die Probleme und begangenen Irrtümer erklären lassen.


Diskussion über Marktbeziehungen


Die Rückkehr zu Marktbeziehungen, die seit 1921 wiedereingeführt wurden, wurde zunächst als ein „Rückzug” (im Hinblick auf die Vision einer Gesellschaft und einer Planung ohne Geld und Markt, die die etatistischen Methoden des Kriegskommunismus weiterführen sollte) begriffen und hingestellt. Aber die Notwendigkeit des Marktes wurde schnell in die theoretischen und programmatischen Debatten der zwanziger Jahre über die Themenstellungen, die immer mehr als allgemeine Fragestellungen (nicht nur für Rußland und nicht nur konjunkturell) des „Übergangs zum Sozialismus” begriffen wurden, integriert. In der Verratenen Revolution spricht Trotzki von den „utopischen Hoffnungen”, die „in der Folgezeit einer scharfen und in vielem begründeten Kritik unterzogen (wurden)”. Er betont sodann, daß diese utopischen Visionen von der Hoffnung auf einen baldigen Sieg der Revolution im Westen genährt wurden und fügt hinzu:

»Man kann dennoch in aller Bestimmtheit sagen, daß man auch in diesem glücklichen Fall auf die unmittelbare staatliche Verteilung der Produkte hätte verzichten und auf die Methoden des Handelsverkehrs hätte zurückgreifen müssen. (…) In der Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zum Dorf lag zweifellos die dringendste und heikelste Aufgabe der NEP. Binnen kurzem zeigte die Erfahrung aber, daß auch die Industrie selbst trotz ihrer Vergesellschaftung der vom Kapitalismus ausgearbeiteten Methoden der Geldrechnung bedurfte.« [3]

Man kann alle diese Formulierungen und Kontroversen diskutieren, denn in ihnen stecken reale Schwierigkeiten. Hier möchten wir nur betonen, wie sich das Denken der sowjetischen Marxisten angesichts der Erfahrungen mit der NEP entwickelte. Die wichtigsten Diskussionen unter den Bolschewiki gestalteten sich unter dem Blickwinkel eines „Übergangs zum Sozialismus”, der sehr verschieden war von der Vorstellung eines Sozialismus ohne Markt, wie sie noch in der Zeit des Kriegskommunismus bestand. Die Entscheidungsmöglichkeiten (und das Verständnis und die Charakteristika des Übergangs) blieben jedoch vielfältig: Welche Landwirtschafts- und welche Industrialisierungspolitik sollte man betreiben (in welchen Zeiträumen, mit welchen Klassenbündnissen und welcher Platz sollten darin die Kooperativen und das Privateigentum einnehmen?) Welchen Umgang mit dem Plan und dem Markt wollte man pflegen und welche Konflikte würden daraus entstehen, und welches sollte die Preis- und die Kreditpolitik sein, um die gesetzten Entwicklungsziele zu erreichen? Welches Verhältnis zum internationalen Kapitalismus wollte man anstreben, um seine Kenntnisse und sein Kapital in eine Strategie sozialistischer Entwicklung integrieren zu können?

»Die historische Erfahrung hat für den reform­kapitalistischen Weg aus der Unter­entwicklung kaum ein überzeugendes Beispiel hervorgebracht.«

 

Dieses waren die unterschwelligen Fragen in den Debatten, wie sie von der Linksopposition geführt wurden, in der großen (öffentlichen) Kontroverse zwischen Bucharin und Preobraschenski in den zwanziger Jahren. Ohne ins Detail zu gehen und eine systematische Bilanz dieser komplexen Diskussion aufmachen zu wollen, können wir sagen, daß Preobraschenski den Akzent auf die wesentlichen und allgemeinen Bedingungen des Aufbaus des Sozialismus gelegt hat: den tödlichen Kampf zwischen antagonistischen Kriterien wirtschaftlicher Effizienz, dem des „Wertgesetzes”, das vor allem durch den kapitalistischen Weltmarkt wirkt, und mit den sozialistischen Zielsetzungen in Konflikt gerät. Im Hinblick auf diesen Konflikt empfahl er weder die Unterdrückung der Marktmechanismen noch eine Politik der Autarkie gegenüber dem Weltmarkt (er war im Gegenteil dafür, die Beziehungen zum internationalen Kapitalismus „möglichst weit auszubauen”, oder besser zu „optimieren”) Er bekämpfte jedoch dadurch die naive Ansicht (die von Bucharin vertreten wurde) von konfliktfreien Marktbeziehungen im damaligen Kontext. Er bestand vor allem auf der Notwendigkeit der Kontrolle des Außenhandels durch den Staat, um die Entscheidungen hinsichtlich der Entwicklungsschwerpunkte gegen die Kriterien des Weltmarktes zu stützen, die in den Preisen beinhaltet sind, um zu verhindern, eine „landwirtschaftliche Halbkolonie des Weltkapitalismus” zu werden.

„Wollte man die internationalen Preise auf die UdSSR anwenden”, so sagte er in einer Weise, die man leider auch heute noch als prophetisch bezeichnen muß, denn werden „zwei Drittel unserer Industrie aufgrund ihrer fehlenden Notwendigkeit unter dem Gesichtspunkt der weltweiten Arbeitsteilung auf der Basis des Kapitalismus eliminiert werden”.


Industrialisierung


Im Bereich der Innenpolitik beharrte er auf den Anstrengungen einer geplanten Industrialisierung, die nötig seien, um zu einer höheren Produktivität in der Landwirtschaft zu kommen, damit die Bauern für ihre Ernten in den städtischen Produkten einen Gegenwert bekämen. Auf weniger überzeugende Art trug Preobraschenski auch Formulierungen und Vorschläge für Vorgehensweisen vor, die von Bucharin zurecht bekämpft wurden (und die im übrigen auch von der Linken Opposition zurückgewiesen wurden): Dem „Wertgesetz” versuchte er ein „Gesetz der primitiven sozialistischen Akkumulation gegenüberzustellen, wobei er sich der Analogie zu den Entstehungsbedingungen des Kapitalismus bediente (der „primitiven kapitalistischen Akkumulation”). Daraus leitete er die Notwendigkeit (das „Gesetz”) ab, die Industrialisierung durch einen massiven Mehrwert-Transfer zu bewerkstelligen, der aus der kleinbürgerlichen Landwirtschaft kommen sollte. Dadurch legte er natürlich seinen Finger auf den großen Abstand zwischen dem sozialistischen Projekt des Oktober und seinen anfänglichen materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Er versuchte ihn durch eine produktivistische Logik abzubauen, die in diesem Land der kapitalistischen Peripherie für das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern sehr schädlich gewesen wäre. Auch verfiel er einer „szientistischen” [wissenschaftsgläubigen] Vision von Planung, wobei er dem Arbeiterstaat (oder der Partei?) eine Fähigkeit zur Allgegenwart unterstellte, die er/sie natürlich nicht haben konnte. Hier handelt es sich wohl um die Gründe, warum sich Preobraschenski im Gegensatz zur Linken Opposition im Verlauf der Zwangsindustrialisierung auf dem Rücken einer kollektivierten Landwirtschaft, so wie sie Stalin seit Ende der zwanziger Jahre ins Werk zu setzen begann, wiedererkannte.

In Wirklichkeit gab es bei dieser Frage der Politik genauso wenig ein „Gesetz” wie bei der Industrialisierung, sobald man mit der Diktatur des „ehernen Gesetzes des Profits” brach. Aber natürlich stieß man auf Zwänge. Und unter ihnen befand sich der gesellschaftspolitische Zwang, die soziale Basis des Regimes in einem überwiegend agrarischen Land zu konsolidieren. Die Linke Opposition widersetzte sich dem von Bucharin verkündeten Kurs eines „Sozialismus im Tempo der Schildkröte”, der sich vor allem auf die Privatbauern stützen sollte („Bereichert Euch!”); sie verlangte vielmehr einen Industrialisierungsplan, um die materielle und technische Basis für eine Landwirtschaft zu sichern, in der sie sich vor allem auf die armen und mittleren Bauern stützen wollte. In seinem Buch Die Herausbildung des Sowjetsystems unterstreicht Moshe Lewin, wie weit die Planziele der Traktorproduktion verfehlt wurden und wie dadurch jede wirksame Entwicklung von Kooperativen gestört wurde. Aber er betont auch, wie sehr die begüterten Bauern (oft als „Kulaken” bezeichnet) davon entfernt waren, „Kapitalisten” zu werden, und wie wichtig sie für die Versorgung der Märkte waren, während die große Masse der ländlichen Gemeinden nur sich selbst versorgte, ohne einen Überschuß für die Städte zu produzieren. Moshe Lewin zeigt, daß die aufeinanderfolgenden Irrtümer in der Landwirtschaftspolitik (wenig stimulierende Preispolitik für den Weizen, fehlende Industrieprodukte für die Landwirtschaft, insbesondere bei der Produktion von Traktoren) zur „Landwirtschaftskrise” geführt haben. Anders gesagt, in der stalinistischen Wendung zur Zwangskollektivierung lag nichts Fatales, nichts durch das Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte „Vorherbestimmtes”, das schließlich zur wirtschaftlichen Katastrophe geführt hätte. Angesichts des Rückstandes in der Entwicklung der Industrie, so betont Trotzki in der Verratenen Revolution, wurden „die Kolchosen mit einem Inventar gebildet, das meist nur für die Parzellenwirtschaft geeignet war”. Unter solchen Bedingungen, fährt er fort, wurde aus der beschleunigten Kollektivierung „ein ökonomisches Abenteuer”. Sie „liquidierte” nicht nur die „Kulaken”, sondern die große Masse der begüterten und mittleren Bauern und mit ihnen die sowjetische Landwirtschaft.


Wirtschaftliche oder politische Diktatur des Proletariats?


Man kann die Geschichte nicht dadurch neu gestalten, daß man Lehren verkündet, noch sie unabhängig von der intensiven Wucht der damaligen Entscheidungssituation verstehen. Aber wir können für heute und morgen nachdenken, die aufgetauchten Probleme behandeln und über die Mittel reden, die sich als untauglich erwiesen haben: Es geht somit neben den Fragen der Entwicklung der Landwirtschaft um solche der Demokratie und der Leitung der Unternehmen und des Plans.

 

»Es gab keine Erfahrung und auch keine Debatte über die Fragen der sozialistischen Demokratie nach der Machtergreifung.«

Im Rahmen einer feindlichen Umwelt, des Bürgerkriegs, war die Frage der Demokratie zugleich entscheidend und schwierig. Man sollte die Ausnahmemaßnahmen, die von den Bolschewiki unter solchen Verhältnissen getroffen wurden, nicht mit denen verwechseln, die sich beim „Aufbau des Sozialismus” unter Stalin herausbildeten. Aber man kann auch verstehen, wie sehr das Verbot von Fraktionen und Parteien oder die Auflösung der Konstituante die stalinistische Degeneration begünstigt haben. Und bei den getroffenen Maßnahmen handelte es sich nicht immer um Notfälle. Es gab keine Erfahrung und auch keine Debatte über die Fragen der sozialistischen Demokratie und über den Rechtsstaat nach der Machtergreifung. Heute kann man sehen, bis zu welchem Punkt der Begriff der „Arbeiterdemokratie” (die als die „gute Version” der Diktatur des Proletariats interpretiert wurde) pervertiert und limitiert wurde: Es muß eine wirtschaftliche „Diktatur” gegen die Herrschaft des Profits, gegen die Herrschaft des Kapitals und gegen die vom Geld bestimmten Freiheiten geben. Doch die Infragestellung des Privateigentums bei den großen Finanzmitteln und in der Güter- und Dienstleistungsproduktion, das Recht der Arbeitenden auf Leitung und die Sicherung der Bedürfnisse durch den Plan sind die Substanz jener „Diktatur” (die sich mit der Zeit ändert). Hingegen muß es ein Recht auf Organisierung und Öffentlichkeit geben, welches nicht auf die „Arbeitenden” beschränkt ist (wer soll auch darüber entscheiden, ob es sich nun wirklich um ArbeiterInnen handelt?). Es muß eine Auseinandersetzung der Ideen stattfinden (auch mit denen, die gegen den Sozialismus feindselig eingestellt sind). Eine andere Sache ist die politische Repression von Leuten, die bewaffnet gegen sozialistische Projekte kämpfen. Wiederum eine andere Sache ist die in der Verfassung verankerte Verurteilung von sexistischen und rassistischen Ideen, für deren Bekämpfung geeignete Mittel zur Verfügung stehen müssen (auch hier muß es eine öffentliche Diskussion über die Mittel im Hinblick auf ihre Effizienz geben). Ohne universelle persönliche Freiheiten werden die sogenannten „kollektiven” Rechte schnell pervertiert. Aber die Bürgerrechte sind abstrakt (und somit ungleich) ohne kollektive Rechte, die ggf. mit Vetorechten und spezifischen Fragen versehen werden können, die zu einer neuen Prozedur oder Institutionen führen können, die auf solche Konflikte eingehen (Frauenunterdrückung, nationale Fragen, Kämpfe für die Emanzipation der Arbeitenden). Daß dies auch heute noch nicht bewältigte Probleme aufwirft und nach viel komplexeren Antworten verlangt, als sich viele Marxisten vorstellten, ist offensichtlich. Doch wir müssen Mechanismen finden, die ermöglichen, diese Konflikte nicht zu unterdrücken, sondern die Horizonte auszuweiten und nicht erfaßte Unterdrückungstatbestände und Ungerechtigkeiten, oder nicht befriedigte Bedürfnisse, die in Konflikten ausbrechen, aufzugreifen. Außerdem muß man den Plan und den Markt „vergesellschaften”, also alle Formen von Assoziationen anregen, die eine Entwicklung der Dienstleistungen (Gesundheit, Erziehung, Kultur, Transporte, …) und der Qualität der Produkte (Konsumentenvereine) ermöglichen. Nur die Demokratie in noch zu erfindenden Formen wird die perversen, unvorhergesehenen Auswirkungen korrigieren können, die von den zur Bedürfnisbefriedigung gewählten Mitteln erzeugt werden. Sie ist der „Regulator”, die „korrigierende Kraft”, die die Spannungen zwischen den Zielen und Ergebnissen ohne Dogmatismus in den Mitteln verringern kann. Die Demokratie muß also in alle Sphären des täglichen Lebens, wo kollektive Urteile sich für die Befriedigung von Bedürfnissen als günstig erweisen, eindringen.


Selbstverwaltung


Welche „Selbstverwaltung”? Als die Fabrikkomitees in Rußland mit dem Ziel der Arbeiterkontrolle gegen die noch existierenden Kapitalisten kämpften, war die Revolution in der Entwicklung. Daher haben sich die Bolschewiki auf die Fabrikkomitees gestützt. Aber die Leitung der Fabriken ohne Kapitalisten war viel schwieriger umzusetzen (deswegen die ersten Formulierungen von Lenin über den „Staatskapitalismus” unter der Kontrolle des Arbeiterstaats und seine großen Befürchtungen hinsichtlich fehlender Qualifikation und des Desasters bei den dezentralisierten Entscheidungen der Selbstverwaltung auf Fabriksebene). Oft werden die Schwierigkeiten betont, die Mobilisierung und Selbsttätigkeit der Arbeitenden nach der revolutionären Periode aufrecht zu erhalten. Aber Marc Ferro legt den Finger in eine Wunde, die weh tut: Gegen die Arbeiteropposition und die Konzepte der Selbstverwaltungsanarchisten arbeiteten die Bolschewiki selbst daran, die Initiative der Arbeitenden zu „domestizieren” und somit teilweise zu brechen, und dies zugunsten eines Modells, bei dem die Partei sich an die Stelle der Klasse setzte. Das Problem ist real, muß aber in Beziehung gesetzt werden zu den zu lösenden Wirtschaftsproblemen, die der Plan auf der makroökonomischen Ebene verlangt. Mit welcher Demokratie? Und welchen Mechanismen? In seiner Kritik an den administrativen Methoden schrieb Trotzki in der Verratenen Revolution im Jahre 1936:

»Zwei Hebel müssen der Regulierung und Anpassung der Pläne dienen: ein politischer – die reale Beteiligung der interessierten Massen selbst an der Leitung, die ohne Sowjetdemokratie undenkbar ist – und ein finanzieller – die reale Prüfung der apriorischen Berechnungen mit Hilfe eines allgemeinen Äquivalents, was ohne stabiles Geldsystem undenkbar ist. (…) Die Übergangsepoche zwischen Kapitalismus und Sozialismus bedeutet, als Ganzes genommen, keine Verminderung, sondern umgekehrt eine außerordentliche Ausdehnung des Warenumlaufs.« (S. 761)

      
Mehr dazu
Michel Husson: Von der sozialistischen Ökonomie hin zur ökologischen Planung, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Michel Lequenne: Die Kulturrevolution der russischen Revolution, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998)
François Vercammen: Lenin und die Parteifrage, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998)
D.B.: Zur politischen Ökonomie des realen Sozialismus, Inprekorr Nr. 243 (Januar 1992)
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
 

Dies sind Fragen, die die Oktoberrevolution und die Bolschewiki ohne Vorbereitung trafen, ohne jede Erfahrung und Reflexion. Und auch heute haben wir darauf keine fertigen Antworten. Doch heute verfügen wir über erheblich mehr Problembewußtsein und Erfahrungen (darunter die der jugoslawischen Selbstverwaltung und ihrer Krise). Wir wissen nun um die Schäden der Kommandowirtschaft. Aber die Idee, daß die Freiheit der Selbstverwaltung der Arbeitenden (durch die Ablehnung des bürokratischen Plans) notwendigerweise individuell und lokal sei, führt in Sackgassen. Warum sollten die Arbeitenden ein Leben lang an ihr Unternehmen „gebunden” sein – nur an dieses Unternehmen? Zu sagen, daß sie ein Recht haben, sich zunächst um jenes Unternehmen zu kümmern und es mit zu leiten, in dem sie beschäftigt sind, ist eine Sache. Doch wie kann man Vollbeschäftigung sichern und gleichzeitig die gesellschaftlich fortschrittlichen Umsetzungen (im Hinblick auf die zu befriedigenden Bedürfnisse und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen) vornehmen, wenn dies nur in einem Betrieb oder einer Branche geschehen soll? Offensichtlich geht das nicht. Man muß entsprechend den zu befriedigenden Bedürfnissen die Mittel für eine kontrollierte Regulierung durch die interessierten ArbeiterInnen und VerbraucherInnen auf einer Ebene finden, wo die Entscheidungen wirkungsvoller sind (auf der kommunalen oder regionalen Ebene, die wahrscheinlich die wichtigsten sein werden, unter der Bedingung, daß es übergeordnete Mechanismen gibt, die die Ungleichheiten zwischen armen und reichen Ländern und Regionen abbauen). Die EDV macht heute die makro-ökonomische Koordination der Ressourcen und Entscheidungen mit einer Dezentralisierung von Entscheidungsmodalitäten kompatibel. Sie kann auch außerhalb des Marktes erfolgende Initiativen erleichtern, die es ermöglichen, daß sich reale Bedürfnisse Ausdruck verschaffen, die dann nach Befriedigung heischen. Anders gesagt, kann sie der Früherkennung von zu befriedigenden Bedürfnissen dienen und die ProduzentInnen darauf aufmerksam machen. Sie kann auch die Entwicklung von Debatten über die großen Alternativen anstoßen, also die demokratischen Formen der Planung.


Internationaler Widerstand


Indem wir diese Diskussionen wieder aufgreifen, müssen wir uns auch über die strategischen Probleme verständigen, die die Oktoberrevolution heftigst aufzeigte und die durch ihr Scheitern verändert worden sind, ohne daß einige wichtige Bemerkungen ungültig geworden wären:

Der Oktober ist undenkbar ohne eine internationale Widerstandsbewegung gegen den Kapitalismus. Die These vom schwächsten Glied hat sich in allen Revolutionen seit dem Oktober bestätigt. Doch das starke Glied (das „Zentrum”) ist nicht gefolgt. Die Niederlagen und die Sackgassen des Reformismus müssen diskutiert werden. Doch es bleibt unbestreitbar, daß das Fehlen einer siegreichen Revolution „im Zentrum” beim Niedergang der UdSSR, einer belagerten Festung, schwer gewogen hat. Heute könnte ein antikapitalistischer Bruch in der Peripherie weniger denn je der sichtbaren Hand des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, dem GATT oder den Multis widerstehen, ohne daß in den entwickelten kapitalistischen Ländern Widerstand geleistet und Boden gut gemacht würde gegen die neoliberale Politik.


Vom Umsturz zum Aufbau


Der „Oktober” stellt kein Modell dar. Trotzdem dürfen wir weder das Konzept der revolutionären Krise noch die Vorstellung von Doppelmacht, die sich aus ihr ergibt, zu schnell beerdigen. Doch um welche Doppelmacht handelte es sich? Es war viel leichter, sich „gegen” (oder mit dem Ziel der Kontrolle von) etwas zu organisieren, als Institutionen „für” etwas aufzubauen. Aber unbestreitbar stellt das Konzept der Kontrolle eine Brücke zwischen den beiden Phasen (vom gegen zum für) dar: Sie ist ein nicht-dogmatisches Mittel, die Bündnisse und die gesellschaftlichen Kompromisse (welchen Privatsektor?) zu testen, inwieweit sie kompatibel sind mit der Befriedigung der Bedürfnisse, für die die demokratische Massenbewegung sich mobilisiert hat. Der Kontext des zaristischen Rußland erlaubte kaum eine „Dialektik der partiellen Errungenschaften” mit ihren Risiken, aber auch ihren Vorteilen: Die Falle der reformistischen (Mit-) Verwaltung stellte sich in Rußland nicht, wo die Klassenantagonismen zu radikal waren. Dies begünstigte die revolutionäre Dynamik, jedoch nicht die Verwaltung der neuen Gesellschaft. Das Entstehen einer sozialistischen Alternative beinhaltet auch, dem Kapitalismus von innen Widerstand entgegenzusetzen, und in diesem Widerstand eine andere Logik zum Tragen kommen zu lassen (jene der Befriedigung der Bedürfnisse einer sozialistischen Demokratie), ohne im Kapitalismus zu versinken. Sie bedeutet Suche nach (nicht-staatlichen) Institutionen, die einer Demokratie der Kontrolle adäquat sind (z. B. im öffentlichen Dienst, bei der Umstrukturierung der Beschäftigung, in den europäischen Fragen), und die entscheidende Stützpunkte einer anderen Macht für eine andere Gesellschaft sein werden, in der GeistesarbeiterInnen (WirtschaftswissenschaftlerInnen, SoziologInnen, NaturwissenschaftlerInnen) und Akteure der sozialen Bewegungen sich miteinander verbinden, wie sich dieses in Frankreich seit Dezember 1995 in Ansätzen entwickelt.

Der Begriff vom „Übergang zum Sozialismus” muß im Lichte des Mißerfolgs der revolutionären Brüche und ihrer bürokratischen Degeneration neu gedacht werden, aber auch hinsichtlich der Gefahr des reformistischen Realismus bei der Verwaltung des Kapitalismus. Er könnte somit auf historischer und internationaler Ebene als Überbegriff für die inneren und äußeren antikapitalistischen Kämpfe, die nach adäquaten Mitteln für das emanzipatorische sozialistische Projekt suchen, neu interpretiert werden.

Aus: Inprecor Nr. 418
Übers.: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ansicht, nach der der Wille das bestimmende Prinzip der Welt (oder der Seele) darstellt. (Red.)

[2] Marc Ferro, Des soviets au communisme bureaucratique, Coll. Archives, Paris 1980, S. 137 f.

[3] In: Trotzki, Schriften 1.2, S. 709.