Theorie

Zur politischen Ökonomie des realen Sozialismus

Der folgende Text entstand ursprünglich als Teil eines Schulungsreferates zur Krise der UdSSR. Wir bringen ihn hier in einer überarbeiteten Fassung. Der Text bringt nicht nur einen Überblick über die Funktionsweise und Krisentendenzen der bürokratischen Kommandowirtschaft. Er setzt sich auch mit der Frage nach dem grundlegenden Charakter des Regimes auseinander und besonders mit der These, daß es sich um eine kapitalistische Produktionsweise handele.

D.B.

Die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre, beginnend dem end-gültigen Durchbruch des prokapitalistischen Kurses der gewendeten Herrschenden in der Sowjetunion, beweisen die Richtigkeit der Theorie, nach der es sich um eine bestimmte sozioökonomische Formation handelte, die weder kapitalistisch noch sozialistisch ist. In ihr haben kapitalistische Elemente weiter existiert und wurden in den letzten Jahren verstärkt. Aber es waren auch Voraussetzungen für die Überwindung des Kapitalismus geschaffen worden, ohne daß diese Gesellschaft im geringsten als sozialistisch bezeichnet werden könnte und auch keine eigene Produktionsweise darstellt.

Das Verständnis der Funktionsweise der sowjetischen Wirtschaft ist Voraussetzung für die richtige Einschätzung dessen, was auf die Sowjetunion zukommt, und für die Entwicklung einer politisch-programmatischen Alternative zur Scheinwahl zwischen Stalinismus und Kapitalismus.

Betrachtet man lediglich die aktuellen Kräfteverhältnisse, so erscheint die SU heute weniger als post- denn als präkapitalistische Gesellschaft. Das Verständnis dessen, was mal „post“ war und warum dieses „prä“ in der Zeit des Spätkapitalismus als unumgänglich erscheint, muß am Begriff der Ware ansetzen. Eine allgemeine Theorie der „Übergangsperiode“ – der Zeit nach dem Sturz der bürgerlichen Klasse bis die Gesellschaft als sozialistisch bezeichnet werden kann – ist so lange unmöglich, bis der Sturz des Kapitalismus in einigen fortgeschrittenen Ländern, in denen darum die ursprüngliche sozialistische Akkumulation nicht mehr notwendig ist, es ermöglicht, das Funktionieren einer Ökonomie dieses sozialen Typs zu analysieren.


Kampf zweier Gesetze


„Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber“ (Marx, MEW 23, S. 57). Das Überleben von Marktkategorien in den Übergangsgesellschaften ist primär auf die ungleichzeitige Entwicklung der Produktivkräfte zurückzuführen. Die unzulängliche Versorgung mit Gebrauchswerten hält den Tauschwert lebendig, weil sie jeden Produzenten dazu zwingt, seine Arbeitskraft gegen Lohn zu tauschen, der für ein Zertifikat ist für die Aneignung eines genau begrenzten, aber undifferenzierten, weil stofflich nicht zugeordneten Bruchstücks der Gesamtmasse an Waren und Dienstleistungen. die durch die Gesellschaft produziert werden. Den Warencharakter der Konsumgüter aufzuheben, würde die Ersetzung des Lohnes durch genau festgelegte Zuteilungen bedeuten. Da die Bedürfnisse aber noch nicht vollständig befriedigt werden können, würde dies zum Wiederaufleben des Tausches führen (dazu E. Preobraschenskij: Die neue Ökonomik, 1926, hier: Berlin 1971, Verlag Neuer Kurs, S. 175-188).

Wenn also beim Verlassen des staatlichen Sektors Konsumgüter den Charakter einer Ware annehmen, so beweist das noch nicht, daß wir es mit einer voll entfalteten Warenwirtschaft zu tun haben. Zwar gibt es in der Sowjetunion von Anfang an – das heißt nach dem Kriegskommunismus im Bürgerkrieg – spätestens seit 1924 mit Einsetzen der NEP (Neue Ökonomische Politik) die einfache Warenproduktion, vor allem auf dem Lande und im geringeren Maß in der im Handwerk. Aber alle Industriegüter werden im staatlichen Sektor produziert und können, soweit sie ihn nicht verlassen – die Erzeugnisse der Abteilung I, das heißt die Produktionsmittelindustrie – nicht zu Waren werden. Das gilt auch für Maschinen, Anlagen oder Gebäude, die für vom Staat angebotene Dienstleistungen gebraucht werden. Hier wie auch in der Rüstungsindustrie existiert das Wertgesetz nicht.

Das sind keine Randbereiche, denn sie machen über die Hälfte der sowjetischen Industrieproduktion aus. Die Preisbildung wird nicht durch den Markt bestimmt, etwa über günstigen Einkauf, rationelle Produktion und Verkauf zu einem Preis, der sich aus Kostpreis und Profit zusammensetzt und sich der Konkurrenz anpassen muß. Im Gegenteil: Die Preise wurden bislang zentral von der Regierung, früher von der Partei- und Staatsbürokratie festgelegt, unabhängig von den Kosten, die das Produkt oder die Dienstleistung der Gesellschaft, dem Staat als Verkäufer verursacht hat. Das war keine Ausnahme, sondern die Regel für alle Produkte über Jahrzehnte.

Auch bei den Konsumgütern, die der Staat als Waren an den Verbraucher verkauft, gibt es heute keine Produktionspreisbildung. Die einen werden weit über den Kostpreis verkauft, die anderen subventioniert. Jelzin und andere wollen das nun ändern.

Dies widerspricht dem Wertgesetz. Die sowjetischen Behörden überdies sind wegen des riesigen Umfanges der Verschiebungen und unzureichender Buchführung nicht in der Lage, die tatsächlichen Kosten zu ermitteln. Eine Freigabe der Preise stößt somit auf die Gefahr unüberschaubarer Turbulenzen. Deswegen, und weil der Widerstand der Bevölkerung nicht genau zu kalkulieren ist, geht selbst Jelzin nur bedächtig vor.

Abgesehen davon, die Freigabe der Preise ist marktwirtschaftlich nur sinnvoll, wenn auch die Anbieter frei sind, das heißt private Kapitale miteinander konkurrieren. In den Beziehungen zwischen staatlichen Unternehmen spielen Preise nur die Marktform vor, sind aber keine Marktbeziehungen. Eine Ökonomie, die durch das Wertgesetz regiert wird, wird in der Investition und darum auch Produktion durch die zahlungsfähige Nachfrage bestimmt.

So koexistieren in der Sowjetunion zwei sich gegenseitig behindernde Mechanismen, die seit Beginn dieser Gesellschaftsformation bestehen, allerdings heute mit anderen Konsequenzen als früher. Preobraschenskij schreibt 1926: „Das Gesetz der sozialistischen Akkumulation wird durch die ‘Demokratie’ der Warenwirtschaft, samt den ihr innewohnenden Entwicklungstendenzen und Regulierungsmethoden, begrenzt. Die Warenwirtschaft ist begrenzt, umgeben – und gepackt, wenn man so will – vom Gesetz der sozialistischen Akkumulation, von den Entwicklungsgesetzen des sozialistischen Körpers, der ihr fremd ist. Aus diesem Grund ist unsere Wirtschaft, obgleich sie noch nicht sozialistisch ist, doch nicht mehr länger eine Warenwirtschaft“ (a. a. O. S. 177). Daß die von Preobraschenskij angegebenen Ressourcen nur sehr bedingt der „sozialistischen“ Akkumulation zugeführt wurden, sondern durch Mißwirtschaft, organisierte Verschwendung und durch Abzug riesiger Mittel für den parasitären Konsum verloren gingen, ändert nichts an den beiden sich widersprechenden ökonomischen Funktionsweisen, die von der Natur der Sache her eben nicht auf Dauer miteinander koexistieren können. Mit anderen Worten: Die Usurpation der Macht durch die Bürokratie in den zwanziger Jahren hat nicht „nur“ politische Konsequenzen – Diktatur einer Partei, ja sogar einer Parteispitze. Die von den Bolschewiki angestrebte Verdrängung des Marktes durch das Planungsprinzip hatte vor diesem Hintergrund keine Chance. Das hat weitreichende ökonomische Folgen.

So ist zwar das Wertgesetz durch die Kommandowirtschaft in seiner freien Entfaltung wesentlich eingeschränkt oder nur in Teilen der Wirtschaft wirksam. Doch das System, das dieses Gesetz positiv überwinden könnte, kommt nicht zum Zuge, was sich nach der Phase des extensiven Wirtschaftswachstums als verheerend erweisen sollte. So tendiert diese sozioökonomische Formation in ihrer ersten Phase auf die Überlegenheit des Planungsprinzips gegenüber der anarchischen kapitalistischen Produktion hin. Doch in der weiteren Entwicklung müssen sich aufgrund der Tatsache, daß es immer weniger eine Planwirtschaft, sondern nur eine Kommandowirtschaft ist, die negativen Seiten beider Systeme addieren. Hier erweist sich, daß die Ausübung der Macht durch die werktätige Bevölkerung nicht nur politisches Beiwerk ist, sondern die demokratische Beteiligung, Mehrheitsentscheidung, Machtausübung mit der Möglichkeit, sich zu irren und aus eigenen Fehlern zu lernen, eine sehr ökonomische Funktion haben.


Wertgesetz in der Kommandowirtschaft


In dem von der reinen Kommandowirtschaft beherrschten System gab es noch nicht einmal die Basis für eine kapitalistische Kalkulation, geschweige denn eine sozialistische Planung. Diese erfordert eine Rechnungsführung der Produktionskosten, ihre Integration in die ökonomischen Beziehungen und Lösung der Investitionsentscheidungen von den Kosten.

Wenn es zu einer zunehmenden Verdrängung des Marktprinzips durch das nur demokratisch denkbare Planungsprinzip nicht gekommen ist, so heißt das nicht, daß das Arbeitswertgesetz der Regulator der Produktion in der Sowjetunion war oder heute ist. Das Wertgesetz bestimmt den Tauschwert der Waren gemäß der zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Arbeitszeit, die wird durch die durchschnittliche Produktivität im Lande sowie die zahlungskräftige Nachfrage bestimmt.

Marx sagt zur voll entfalteten Warenproduktion im Kapitalismus: „Sie entstammt dem Privatcharakter der Arbeit, das heißt die Arbeit der Produzenten wird nicht unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit anerkannt, sondern nur in dem Maße. wie die Arbeitsprodukte auf dem Markt verkauft werden und nur in dem Maß, wie ihr ‘individueller Wert’ realisiert wird.“ Die Produktionsgüter in der Sowjetunion, die ‘ innerhalb des staatlichen Sektors’ zirkulieren, sind nicht Produkte von ‘Privatarbeit’, sind nicht Privateigentum, wechseln auch nicht den Eigentümer. Das heißt, die Unternehmen können weitermachen, unabhängig von den finanziellen Resultaten.

In der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft fließt das Kapital in die Sektoren, in denen die Profitrate über dem Durchschnitt liegt. Daraus ergibt sich ständiger Kapitalfluß, der Aufbau von Überkapazitäten – erst sektorell, dann für die ganze Wirtschaft – und daraus resultieren zyklische Krisen. In der Übergangsgesellschaft – die sich in sozialistische Richtung weiter-, aber auch zum Kapitalismus zurückentwickeln kann – gibt es keinen Kapitalmarkt, keinen freien Kapitalfluß und keine Durchschnittsprofitrate, an der die Profitrate jedes Wirtschaftszweiges gemessen werden kann.

Das Wertgesetz wirkt im Außenhandel mit den kapitalistischen Industriestaaten – es betrifft nur etwa 1 % des Volkseinkommens der Sowjetunion – es beherrscht die kleine Warenproduktion wie den privaten Handel und beeinflußt dadurch die Verteilung sämtlicher Ressourcen, die für die Produktion von Konsumgütern bestimmt sind.

So sehr sich auch kapitalistische Elemente in den Poren der sowjetischen Gesellschaftsordnung ausbreiten können, so wird es sich nicht nur um eine graduelle Verschiebung handeln. Irgendwann wird man von einem qualitativen Sprung sprechen müssen – es sei denn, die sowjetische und die internationale Arbeiterklasse sind stark genug, ihn zu verhindern. Denn die beiden entgegengesetzten sozio-ökonomischen Tendenzen, Markt und Plan, führen zu zwei vollkommen unterschiedlichen Parametern von Investitionsentscheidungen und darum zu zwei verschiedenen Entwicklungen: zyklische Fluktuation im Kapitalismus und stetiges Wachstum (erste Phase der sowjetischen wirtschaftlichen Entwicklung) oder nicht-zyklischer Rückgang (keine Überproduktionskrise), später freier Fall oder Zusammenbruch.


Neue Wirtschaftsordnung?


Gibt es nicht dennoch eine Ausbeutung durch die Bürokraten, etwa Fabrikdirektoren, und Konkurrenz unter den Bürokraten?

      
Mehr dazu
Interview mit Cédric Durand: Demokratische Planwirtschaft, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). Bei intersoz.org
Michel Husson: Von der sozialistischen Ökonomie hin zur ökologischen Planung, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Catherine Samary: Oktoberrevolution: Wirtschaftliche und soziale Probleme, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998)
Interview mit Ernest Mandel: Krise im Osten: der Imperialismus jubelt, aber..., Inprekorr Nr. 223 (Januar 1990)
Resolution des XII. Weltkongresses der IV. Internationale: Auszug aus "Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats": Die Arbeiterräte und die Ausdehnung der demokratischen Rechte der Massen, Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989)
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft – Eine Kritik der Theorie des „Markwirtschaftlichen Sozialismus“, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
 

Ein Teil des von den Arbeitern erwirtschafteten Mehrprodukts wird von der Bürokratie angeeignet. Dies aber ist nicht automatisch kapitalistische Ausbeutung. Hier werden Gebrauchswerte angehäuft, aber keine Tauschwerte, die zur Reinvestition in Produktionsanlagen dienen und somit eine Umwandlung in Kapital erleben. Zwar wetteifern die Bürokraten um bessere Zuteilungen durch die Gosplan und andere Verteilungsinstanzen. Aber dies geschieht mit politischen oder kriminellen Mitteln, nicht mit der „leichten Artillerie der billigen Waren“ (Trotzki in „Permanente Revolution“).

Hier spielten in der Vergangenheit die politische Botmäßigkeit oder die Verflechtung innerhalb der Nomenklatura die entscheidende Rolle. Heute sind es einfach nur noch „Seilschaften“. Eine Konkurrenz der Kapitalbesitzer von Industrieanlagen ist noch nicht vorhanden. So fehlte bis vor kurzem der gemeinsame Markt mit ausländischen Kapitalbesitzern in der Sowjetunion. Heute dürfen sich zwar ausländische Kapitalisten betätigen. Aber massenhafte Investitionen sind bislang wegen mangelnder Gewinnerwartungen ausgeblieben.

Der Kapitalismus ist die einzige Klassengesellschaft, in der Warenproduktion zum bestimmenden Prinzip wird, in der alle Produktionsmittel Waren werden. Die allgemeine Konkurrenz ist die Haupttriebkraft der Kapitalakkumulation, was zu einem konstanten, wenn auch diskontinuierlichen Wachsen der Warenproduktion und der Reinvestition von Mehrwert führt. Der Kapitalismus ist deswegen die einzige Gesellschaft, in der ökonomisches Wachstum gleichbedeutend ist mit Wachstum der Warenproduktion. Hier sind folglich Wirtschaftskrisen immer Überproduktionskrisen, was man vom Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft nicht behaupten kann. Hier handelt es sich um eine strukturell angelegte Produktionskrise, gepaart mit einer Verteilungs- oder Desorganisationskrise. Die Sowjetunion exportiert kein Kapital, es gibt kein Erbrecht an Produktionsmitteln, keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln in der Industrie. Dies wird erst angestrebt. Ein dafür „ursprünglich akkumuliertes“ Kapital ist in größerem Umfang nicht vorhanden. Das ist eines der entscheidenden Hemmnisse für alle „Reformvorhaben“.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 243 (Januar 1992). | Startseite | Impressum | Datenschutz