Ökologie

Klimawandel: Ein Beitrag zur Debatte

Michael Löwy

Der Bericht zum Klimawandel von Daniel Tanuro [1] ist eines der wichtigsten in den letzten Jahren von unserer Strömung produzierten Dokumente. Er ist wertvoller Beitrag, um die revolutionären Marxisten zu schulen und in die Lage zu versetzen, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein.

Die nachstehenden Bemerkungen gliedern sich in zwei Teile: 1) einige Kritikpunkte zu Detailfragen, die sich als eine Art Ergänzung des Dokuments verstehen; 2) einige Anmerkungen zumÖkosozialismus, ausgehend von einigen Fragen, die im Bericht zwar angesprochen, aber nicht ausgeführt sind (und die man natürlich nicht behandeln kann, ohne sehr ausführlich zu werden). Es handelt sich also einfach um einen Beitrag zur Debatte


I. Kritische Anmerkungen



1.
Es scheint mir, dass Formulierungen wie „2100“ oder „Ende des Jahrhunderts“ [2] ersetzt werden sollten durch „in den nächsten Jahrzehnten“. Die jüngsten Vorhersagen der Wissenschaftler – die vom IPCC, der, worauf der Bericht hinweist, immer etwas zurück liegt, noch nicht berücksichtigt sind– erwarten große Katastrophen für die nächsten Jahrzehnte, wenn man mit dem „business as usual“ weitermacht. Das hat offensichtliche politische Konsequenzen: Wer wird sich darüber beunruhigen, was 2100 eintreten wird? Sicher, einige Philosophen – wie Hans Jonas – haben die Frage „unserer Verantwortung gegenüber den noch nicht geborenen Generationen“ betont, aber das interessiert kaum jemanden. Die Frage ist doch vor allem, ob es um unsere Generation geht.

Das bezieht sich auch auf die Formulierung der „quasi totalen Aufgabe der Nutzung fossiler Brennstoffe innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Jahrhundert“ zu, die durch „in den nächsten Jahrzehnten“ ersetzt werden sollte.


2.
Die Einlagerung von Kohlendioxid: Der Bericht erwähnt den begrenzten Charakter der Speichermöglichkeiten, aber er scheint sie als „akzeptable Übergangsmaßnahme“ zu sehen. [3] Ich denke, man sollte bei diesem Thema sehr zurückhaltend sein. Das Verfahren ist alles andere als ausgereift, es gibt nur wenige Versuchsanlagen, man hat nicht einmal wirkliche Sicherheitsgarantien (Nachweis, dass das CO2 nicht erneut in die Atmosphäre entweichen kann). Außerdem werden unter dem Vorwand einer „clean carbon“-Zukunft Kohlekraftwerke weiter betrieben und sogar neue errichtet, die nach James Hansen das Rezept für eine baldige Katastrophe sind. Ich denke, man sollte hier dem Vorschlag von Hansen folgen: solange bis die Technik wirklich ausgereift ist– vielleicht zehn Jahre? – müssen der Bau von Kohlekraftwerken gestoppt und die bestehenden nach und nach außer Betrieb genommen werden.


3.
Die Bewegung gegen den Klimawandel soll von den Regierungen fordern, „die vorsichtigsten Schlussfolgerungen des IPCC“ [4] anzuerkennen. Diese Formulierung ist zu vage; Was soll „vorsichtig“ heißen? Man sollte besser vom oberen Wert der IPCC-Vorschläge sprechen, also von 40 % bis 2020 und 85 % bis 2050. Man sollte die Formulierung vermeiden, die manchmal im Bericht erscheint, „eine Reduzierung von 25 % bis 40 %“ bis zum Jahre 2020. Ein Aufruf von Umweltverbänden (Greenpeace u.a.) an Sarkozy spricht von mindestens 40 % bis 2020. Man kann nicht weniger fordern! Persönlich denke ich, dass 40 % zu wenig ist und man deutlich betonen sollte, dass es sich um ein Minimum handelt, das eigentlich nicht ausreicht. Dasselbe gilt für 2050: Man sollte nicht „Verringerung um 50 % bis 85 %“ schreiben, sondern auf dem oberen Wert bestehen: 85 %.


4.
Der Fehler von Marx bestand dem Bericht zufolge darin, dass „er nicht verstanden hat, dass der Übergang vom Holz zur Kohle die Aufgabe eines erneuerbaren Energiestroms zugunsten einer erschöpflichen Energie bedeutete“. Vor allem habe ich einige Vorbehalte gegenüber dem Begriff „erneuerbar“ für Holz, das als Energiequelle genutzt wird, denn dies könnte schnell zur Vernichtung der letzten Wälder führen! Was die fossilen Energien betrifft, sind sie zweifellos „erschöpflich“, aber dieses Argument scheint mir überholt. Es gibt genug Kohle für 200 Jahre, aber lange vorher würde die globale Erwärmung eine beispiellose Katastrophe auslösen. Der Fehler von Marx und vor allem von Engels (vgl. den Anti-Dühring) war zu glauben, dass die Revolution einfach „die Produktionsverhältnisse unterdrückt, die zu Hindernissen (oder Ketten) geworden sind, die die freie Entwicklung der vom Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte behindern“, als wären letztere einfach neutral.

Mir scheint, man könnte sich von den Beobachtungen inspirieren lassen, die Marx bei der Pariser Kommune machte: Die Arbeiter können den alten kapitalistischen Staatsapparat nicht einfach übernehmen und in ihren Dienst stellen. Sie sind gezwungen, ihn zu „zerschlagen“ und durch eine radikal andere Form der politischen Macht zu ersetzen: demokratisch und nichtstaatlich. Derselbe Gedanke gilt, mutatis mutandis, für den Produktionsapparat, der alles andere als „neutral“,sondern strukturell von einer Entwicklung geprägt ist, die die Kapitalakkumulation und die unbegrenzte Expansion der Märkte begünstigt und in die ökologische Katastrophe führt.


5.
Dem Bericht zufolge können die erforderlichen enormen Veränderungen erst „nach dem Sieg der sozialistischen Revolution auf Weltebene“ beginnen. Mir scheint, dass man nach der Logik der permanenten Revolution mit den erforderlichen Änderungen auch in nur einem oder wenigen Ländern beginnen sollte, selbst wenn man weiß, dass man den Prozess nur auf globaler Ebene vollenden kann.


6.
Der Entwurf sagt zum Meeresspiegelanstieg: „Die große Mehrheit der Hunderte Millionen vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Menschenlebt in China (30 Millionen), Indien (30 Millionen), Bangladesh (15–20 Millionen)...“. Ich bezweifele gar nicht die Zahlen, aber mir drängt sich folgende Frage auf: Wird der Meeresspiegel nicht auch in den Küstenstädten des Westens steigen, konkret also Amsterdam, Venedig, Antwerpen, Kopenhagen, New York usw.? Diese Frage hat politische Bedeutung::Es ist gut, bei den Bewohnern der Länder des Nordens für die Solidarität mit den Opfern in Bangladesh einzutreten, aber man sollte sie darauf hinweisen, dass sie selbst von den gleichen Gefahren bedroht sind.


II. Zum Ökosozialismus: Ein Beitrag zur Debatte


Das ökosozialistische Projekt setzt die Einführung einer demokratischen Wirtschaftsplanung voraus, die Rücksicht auf den Schutz der Umwelt nimmt und insbesondere eine katastrophale Störung des Klimas verhindert. Dank einer solchen Planung könnte man eine Energierevolution durchführen, in der die aktuellen Ressourcen (vor allem fossile Energieträger), die für den Klimawandel und die Umweltvergiftung verantwortlich sind, durch erneuerbare Energiequellen ersetzt werden: Wasser, Wind, Sonne.

 

Michael Löwy, Philosoph und Soziologe brasilianischer Abstammung, ist Mitglied der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich und der IV. Internationale. Er war Koautor (gemeinsam mit Joel Kovel) des Internationalen Ökosozialistischen Manifests und einer der Organisatoren der ersten Internationalen Ökosozialistischen Begegnung in Paris (2007). Er ist Autor zahlreicher Bücher. In jüngster Zeit erschienen: Sociologies et religion – Approches dissidentes (mit Erwan Dianteill), PUF, Paris 2006; Messagers de la tempête – André Breton et la révolution de janvier 1946 en Haïti (mit Gerald Bloncourt), Le Temps des Cerises, Paris 2007; Che Guevara, une braise qui brûle encore (mit Olivier Besancenot), Mille et une nuits, Paris 2007; Sociologies et religion – Approches insolites (mit Erwan Dianteill), PUF, Paris 2009.

Voraussetzung für eine solche demokratische und ökologische Planung ist die öffentliche Kontrolle der Produktionsmittel: Die Entscheidungen der öffentlichen Ordnung bezüglich Investitionen und technologischem Wandel müssen den Banken und kapitalistischen Unternehmen entzogen werden, wenn man will, dass sie dem Gemeinwohl der Gesellschaft und der Erhaltung der Umwelt dienen. Die Gesellschaft als Ganzes wird frei sein, über die Bevorzugung von Produktionslinien demokratisch zu entscheiden– nach sozialen und ökologischen Kriterien – und über den Umfang der Ressourcen, die in Alternativenergien, Bildung, Gesundheit oder Kultur investiert werden sollen. Die Preise der Güter würden dann nicht mehr länger dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entsprechen, sondern soweit möglich nach sozialen, politischen und ökologischen Kriterien bestimmt werden. Diese Planung wird auch die Garantie der Vollbeschäftigung durch Verkürzung des Arbeitstags zu ihren Zielen rechnen. Diese Forderung ist unverzichtbar, nicht nur um auf die Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit zu antworten, sondern auch um sich der Unterstützung durch die Arbeiterklasse zu versichern, ohne die der Prozess der ökologischen Strukturreform der Produktivkräfte nicht greifen kann.

Demokratische Planung ist alles andere als „despotisch“, sie ist die Ausübung der Entscheidungsfreiheit der ganzen Gesellschaft. Die Ausübung ist notwendig, um sich von den „ökonomischen Gesetzen“ und denentfremdenden und verdinglichten „eisernen Fesseln“der kapitalistischen und bürokratischen Strukturen zu befreien. Demokratische Planung in Verbindung mit einer Verkürzung der Arbeitszeit wird der Menschheit einen beträchtlichen Fortschritt hin zu dem bringen, was Marx „das Reich der Freiheit“ nannte: Die Ausweitung der freien Zeit ist tatsächlich eine Vorbedingung für die Beteiligung der Arbeiter an den demokratischen Diskussion und der Leitung der Wirtschaft wie der Gesellschaft.

Das von den Ökosozialisten angestrebte System der demokratischen Planung betrifft die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen – insbesondere dort, wo es um die globale Erwärmung geht – aber nicht die Verwaltung von kleinen Restaurants, Kaufläden, Bäckereien, kleinen Kaufhäusern, Handwerksbetrieben oder Dienstleistern. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass Planung kein Widerspruch zur Selbstverwaltung der Arbeiter in ihren Produktionseinheiten ist. Während die Entscheidung zur Umstellung, beispielsweise einer Autofabrik zu einer Produktionsstätte für Generatoren von Windkraftanlagen, der Gesellschaft als Ganzer zufällt, würden Organisation und internes Funktionieren demokratisch von den Arbeitern selbst gesteuert.

Es ist lange über den Charakter dieser Planung debattiert worden, ob „zentral“ oder „dezentral“, aber es bleibt wichtig, dass es auf allen Ebenen demokratische Kontrolle gibt: lokal, regional, national, kontinental und, wie wir hoffen, global, denn die Fragen der Ökologie und des Klimawandels sind global und können nur auf dieser Ebene behandelt werde. Diesen Vorschlag könnte man „globale demokratische Planung“ nennen. Sie hat nichts zu tun mit dem, was im Allgemeinen „Zentralplanwirtschaft“ genannt wird, denn die ökonomischen und sozialen Entscheidungen werden nicht von irgendeinem „Zentrum“ getroffen, sondern demokratisch von den betroffenen Menschen.

Ökosozialistische Planung muss sich auf pluralistische und demokratische Debatte auf allen Entscheidungsebenen stützen. Organisiert als Parteien, Plattformen oder irgendwelche anderen politischen Bewegungen werden die Delegierten der Planungskommissionen gewählt und die verschiedenen Vorschläge allen vorgestellt, die es betrifft. Anders gesagt muss die repräsentative Demokratie bereichert – und verbessert – werden durch die direkte Demokratie, die es den Menschen erlaubt, direkt zwischen verschiedenen Vorschlägen zu entscheiden – auf lokaler, nationaler und zuletzt internationaler Ebene. Die Gesamtheit der Bevölkerung würde dann selbst entscheiden über Fragen wie kostenlosen öffentlichen Verkehr, eine Sondersteuer für Autobesitzer zur Subventionierung des öffentlichen Verkehrs, die Subventionierung der Sonnenenergie, die Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 30, 25 Stunden, selbst wenn dies einen Produktionsrückgang bedeuten würde. Der demokratische Charakter der Planung schließt nicht aus, dass Experten beteiligt werden, doch ist ihre Rolle nicht zu entscheiden, sondern sie sollen im Zuge des demokratischen Entscheidungsprozesses ihre – häufig abweichenden oder sogar ablehnenden – Argumente vortragen .

Dabei stellt sich eine Frage: Welche Garantie gibt es, dass die Leute die richtigen Entscheidungen treffen, jene, die die Umwelt schützen, selbst wenn der Preis dafür ist, dass sie einen Teil ihrer Konsumgewohnheiten ändern müssen? Eine solche „Garantie“ gibt es nicht, nur die vernünftige Perspektive, dass die Rationalität der demokratischen Entscheidungen einmal über den Fetischismus der Konsumgüter siegen wird. Es ist sicher, dass die Menschen Fehler machen und die falschen Entscheidungen treffen werden, aber haben die Experten nicht selbst schon Fehler gemacht? Es ist unmöglich, sich den Aufbau einer neuen Gesellschaft vorzustellen, ohne dass die Mehrheit der Menschen durch Kämpfe, durch Selbststudium und soziale Erfahrungen ein hohes Niveau an sozialistischem und ökologischem Bewusstsein erworben hätte.

Einige Ökologen meinen, dass die einzige Alternative zum Produktivismus der Stopp des gesamten Wachstums oder sogar seine Ersetzung durch ein negatives Wachstum wäre – was in Frankreich „Wachstumsrücknahme (décroissance)“ genannt wird. Dafür müsste man das überhöhte Verbrauchsniveau der Bevölkerung drastisch senken, zum Beispiel durch Verzicht auf Einfamilienhäuser, Zentralheizung und Waschmaschinen, um den Energieverbrauch zu halbieren.

Die „Wachstumsrücknehmer“ haben das Verdienst, eine radikale Kritik an Produktivismus und Konsumtionismus formuliert zu haben. Aber das Konzept der „Wachstumsrücknahme“ unterliegt einer rein quantitativen Vorstellung von „Wachstum“ und Produktivkraftentwicklung. Man muss vor allem über eine qualitative Veränderung der Entwicklung nachdenken. Es handelt sich um zwei verschiedene, aber sich ergänzende Herangehensweisen.

  1. Nicht nur die Verringerung, sondern die Abschaffung ganzer Wirtschaftszweige, um der gewaltigen Ressourcenverschwendung zu begegnen, die der Kapitalismus hervorruft – ein System, das sich auf die Produktion unnützer und/oder gefährlicher Produkte in großem Maßstab stützt. Die Waffenindustrie ist ein gutes Beispiel, da doch ihre im kapitalistischen System gefertigten „Produkte“ keinen anderen Nutzen haben, als Gewinne für die Großunternehmen zu erzeugen. Die Frage ist nicht der „übermäßige Konsum“ ganz allgemein, sondern vor allem die Art des vorherrschenden Konsums, der geprägt ist von zur Schau gestelltem Besitz, massiver Verschwendung, wahnsinniger Anhäufung von Gütern und dem von der „Mode“ diktierten Erwerb irgendwelcher Pseudo-Neuheiten. Eine neue Gesellschaft würde die Produktion auf die Befriedigung authentischer Bedürfnisse orientieren, angefangen mit denen, die man als „biblisch“ bezeichnen könnte – Wasser, Nahrung, Bekleidung und Unterkunft –, aber auch einschließlich wichtiger Dienstleistungen: Gesundheit, Bildung, Kultur und Verkehr. Man könnte also von einer „selektiven Wachstumsrücknahme“ sprechen.
  2. Andererseits muss das „selektive Wachstum“ einiger vom Kapitalismus vernachlässigter Produktionszweige oder Dienstleistungen sichergestellt werden: Sonnenenergie, biologische Landwirtschaft (Familienbetriebe oder Kooperativen), öffentlicher Verkehr usw.
      
Weitere Artikel zum Thema
Klaus Engert: Michael Löwy - Ökosozialismus, die internationale Nr. 4/2017 (Juli/August 2017)
Daniel Tanuro: Bericht über den Klimawandel an das IK der Vierten Internationale, Teil II, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
Daniel Tanuro: Bericht über den Klimawandel an das IK der Vierten Internationale, Teil I, Inprekorr Nr. 452/453 (Juli/August 2009)
Daniel Tanuro: Bali schon vergessen?, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
II. Internationales Manifest: Die ökosozialistische Erklärung von Belém, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
Beatrice Whitaker: Internationale ökosozialistische Koordination, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
Interview mit Michael Löwy: Es gibt nur einen Weg: Widerstand, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Foad Rad: Wir brauchen eine Klimarevolution, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Daniel Tanuro: Von Bali nach Kopenhagen – zwei entscheidende Jahre für das Klima, Inprekorr Nr. 440/441 (Juli/August 2008)
Resolution des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zum Klimawandel, Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni 2008)
Internationales Ökosozialistisches Netzwerk gegründet, Inprekorr Nr. 434/435 (Januar/Februar 2008)
Michael Löwy und Joël Kovel: Internationales ökosozialistisches Manifest, Inprekorr Nr. 434/435 (Januar/Februar 2008)
Daniel Tanuro: Klimaschutz und Antikapitalismus, Inprekorr Nr. 428/429 (Juli/August 2007)
Daniel Tanuro: Nach Kyoto: Droht die neoliberale Klimaoffensive?, Inprekorr Nr. 428/429 (Juli/August 2007)
 

Es ist offensichtlich, dass die Länder, in denen die Grundbedürfnisse weit von ihrer Befriedigung entfernt sind, also die Länder der südlichen Hemisphäre, sich deutlich stärker „entwickeln“ müssen – Eisenbahnen, Krankenhäuser, Abwasserkanäle und andere Infrastruktur errichten – als die Industrieländer, aber dies muss mit einem Produktionssystem kompatibel sein, das auf erneuerbare Energien gestützt ist und daher die Umwelt nicht verschmutzt. Diese Länder werden große Mengen Lebensmittel zur Ernährung ihrer Bevölkerungen erzeugen müssen, die immer noch unter Hungersnöten leiden. Aber die Bauernbewegung, die sich international im Netzwerk Via Campesina organisiert, behauptet seit Jahren, dass dieses Ziel leichter auf dem Weg einer bäuerlichen biologischen Landwirtschaft von Familienbetrieben, Kooperativen oder Kollektiven zu erreichen ist, als mit den destruktiven und antisozialen Methoden des Agrobusiness, zu dessen Prinzipien der intensive Einsatz von Pestiziden, chemischen Substanzen undgentechnisch veränderten Organismen gehört. Das derzeitige abscheuliche System der Verschuldung und der imperialistischen Ausbeutung der Ressourcen des Südens durch die kapitalistischen und industrialisierten Länder würde einer Anstrengung zur technischen und ökonomischen Unterstützung des Südens durch den Norden weichen.

Es gibt keine Notwendigkeit – wie es einige asketische und puritanische Ökologen zu glauben scheinen – den Lebensstandard der europäischen oder nordamerikanischen Bevölkerung, in absoluten Zahlen, zu reduzieren. Es würde schon reichen, wenn diese Bevölkerungen unnütze Produkte aufgeben würden, die kein reales Bedürfnis befriedigen und deren obsessiver Konsum vom kapitalistischen System unterstützt wird. Durch Verringerung ihres Verbrauchs definieren sie den Begriff des Lebensstandards neu und schaffen Platz für einen neuen Lebensstil, der in Wirklichkeit viel reicher ist.

Wie soll man die authentischen Bedürfnisse von künstlichen, falschen oder fingierten Bedürfnissen unterscheiden? Die Werbewirtschaft– die ihren Einfluss auf die Bedürfnisse durch geistige Manipulation ausübt – hat alle Sphären des menschlichen Lebens der modernen kapitalistischen Gesellschaften durchdrungen. Alles ist nach ihren Regeln gestaltet, nicht nur Ernährung und Bekleidung, sondern auch diverse andere Gebiete wie Sport, Kultur, Religion und Politik. Die Werbung hat unsere Straßen, unsere Briefkästen, unsere Fernsehschirme, unsere Zeitungen und unsere Landschaften auf hinterhältige, dauerhafte und aggressive Weise überschwemmt. Dieser Sektor trägt direkt zu angeberischen und zwanghaften Konsumgewohnheiten bei. Mehr noch facht er die gigantische Verschwendung von Erdöl, Elektrizität, Arbeitszeit, Papier und Chemikalien wie auch anderen Grundstoffen an – alles bezahlt von den Verbrauchern. Es handelt sich um einen Zweig der „Produktion“, der nicht nur völlig unnütz vom Standpunkt der Menschen aus ist, sondern direkt im Widerspruch zu den realen sozialen Bedürfnissen steht. Während die Werbung eine unverzichtbare Rolle in der kapitalistischen Marktwirtschaft spielt, wird sie in einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus keinen Platz haben. Sie wird durch von Verbraucherorganisationen bereitgestellte Informationen über Produkte und Dienstleistungen ersetzt werden Das Kriterium zur Unterscheidung authentischer von künstlichen Bedürfnissen wird sein, ob es sie nach Abschaffung der Werbung noch gibt. Es ist klar, dass die alten Konsumgewohnheiten noch eine Zeit lang bestehen bleiben werden, da niemand das Recht hat, anderen Menschen zu sagen, was ihre Bedürfnisse sind. Der Wechsel der Konsumtionsmodelle ist ein langfristiger Prozess und eine erzieherische Aufgabe.

Bestimmte Produkte wie individuelle Automobile werfen komplexere Probleme auf. Individuelle Autos sind ein öffentliches Ärgernis. Weltweit töten und verstümmeln sie jedes Jahr Hunderttausende Menschen. Sie verpesten die Luft der Großstädte – mit verhängnisvollen Konsequenzen für die Gesundheit von Kindern und älteren Menschen – und tragen beträchtlich zum Klimawandel bei. Andererseits befriedigt das Fahrzeug reale Bedürfnisse unter den aktuellen Bedingungen des Kapitalismus. Im Übergangsprozess zum Ökosozialismus wird der öffentliche Verkehr ausgeweitet und kostenlos sein – auf oder unter der Erde –, während die Straßen den Fußgängern und Radfahrern vorbehalten sind. Im Ergebnis wird das individuelle Auto eine weit geringere Rolle als in der bürgerlichen Gesellschaft spielen, wo es zu einem von einer bohrenden und aggressiven Werbung geförderten Fetischprodukt geworden ist.. In diesem Übergang zu einer neuen Gesellschaft wird es einfacher sein, den Straßentransport von Waren – verantwortlich für tragische Unfälle und eine viel zu hohe Verschmutzung– drastisch zu reduzieren und durch Schienen- oder kombinierten Straßen/Schienenverkehr zu ersetzen: Allein die absurde Logik des kapitalistischen „Wettbewerbs“ erklärt die Entwicklung des Lastwagenverkehrs.

Auf diese Vorschläge würden die Pessimisten antworten: Ja, aber die Individuen werden von unendlichen Wünschen und Begierden gesteuert, die kontrolliert, analysiert, zurückgedrängt und notfalls unterdrückt werden müssen. Die Demokratie könnte also gewissen Restriktionen unterworfen werden. Der Ökosozialismus stützt sich aber auf die vernünftige Hypothese, die schon von Marx unterstützt wurde: Der Vorrang des „Seins“ vor dem „Haben“ in einer Gesellschaft ohne soziale Klassen und ohne kapitalistische Entfremdung; anders gesagt der Vorrang der freien Zeit vor dem Wunsch, zahllose Objekte zu besitzen: die persönliche Verwirklichung durch wirkliche Aktivitäten auf den Gebieten Kultur, Sport, Spiel, Wissenschaft, Erotik, Kunst und Politik. Der Warenfetischismus feuert den zwanghaften Kauf durch Ideologie und die dem kapitalistischen System eigene Werbung an. Nichts belegt, dass dies etwas mit der „ewigen Natur des Menschen“ zu tun hätte.

Dies bedeutet, vor allem in der Übergangsperiode, nicht, dass die Konflikte verschwinden würden: zwischen dem Bedürfnis nach Schutz der Umwelt und gesellschaftlichen Bedürfnissen, zwischen ökologischen Verpflichtungen und der Notwendigkeit zum Ausbau der grundlegenden Infrastruktur, vor allem in den armen Ländern, und zwischen den Verbrauchsgewohnheiten der Bevölkerung und dem Mangel an Ressourcen. Eine Gesellschaft ohne soziale Klassen ist keine Gesellschaft ohne Widersprüche oder Konflikte. Letztere sind unvermeidlich: Aufgabe der demokratischen Planung in einer von den Zwängen von Kapital und Profit befreiten ökosozialistischen Perspektive wird sein, diese aufzulösen, indem die Gesellschaft selbst in offenen und pluralistischen Diskussionen die Entscheidungen trifft. Eine solche gemeinschaftliche und partizipative Demokratie ist das einzige Mittel, nicht zu vermeiden, Fehler zu machen, aber sie von der sozialen Gemeinschaft selbst korrigieren zu lassen.

Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 456/457 (November/Dezember 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Inprekorr Nr. 452/453 und 454/455 (Juli/August und September/Oktober 2009).

[2] Siehe die Absätze im Text; „Dem IPCC zufolge würde das Beibehalten der jetzigen Emissionstrends von heute bis zum Jahr 2100 zu einem Anstieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur zwischen 1.1 und 6.4°C gegenüber 1990 führen. Die Streubreite der Schätzungen erklärt sich aus der doppelten Unsicherheit die einerseits aus den Klimamodellen und andererseits aus den Szenarien der menschlichen Entwicklung herrührt.“ (a.a.O., S. 26) „Die Stabilisierung des Klimas auf einem mit dem Vorsorgeprinzip vereinbaren Niveau macht es nötig, dass die globalen Emissionen spätestens ab 2015 sinken und bis 2050 um 50 % bis 85 % reduziert werden, und um noch mehr bis zum Ende des Jahrhunderts.“ (a.a.O., S. 39)

[3] „Angesichts der Dringlichkeit und aus sozialen Gründen kann das Abscheiden von CO2 und seine Lagerung eine akzeptable Maßnahme für einen Übergang sein, im Rahmen einer Strategie einer raschen Aufgabe des Einsatzes von fossilen Brennstoffen: Sie könnte es insbesondere ermöglichen, die Umsetzung von Bergleuten zu planen. Doch im Augenblick wird nicht so verfahren. Im Gegenteil, handelt es sich um einen neuen kapitalistischen Versuch, physischen Grenzen zu verschieben, ohne dass man sich um die Konsequenzen scherte. Die Regierungen sprechen von „sauberer Kohle“, doch dies stellt einen Mythos dar, wenn wir die großen Schwierigkeiten der Förderung, die Verschmutzung, die Gesundheitsschäden und die ökologischen Folgen des Kohleabbaus betrachten.“ (a.a.O., S. 33)

[4] „Das Ziel dieser Bewegung ist es nicht, ausgefeilte Plattformen zu erarbeiten, sondern die Regierungen zum Handeln zu zwingen, und zwar wenigstens in Übereinstimmung mit den vorsichtigsten Schlussfolgerungen, wie sie sich aus den IPCC-Berichten ergeben, sodann die Anerkennung des Prinzips der „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung“ sowie der sozialen und demokratischen Rechte und des Rechts aller Erdenbürger auf eine menschliche Existenz, die diesen Namen verdient. Wir verteidigen dieses Ziel gegen Strömungen, die die Ziele der Emissionsminderung im Namen eines Realismus heruntersetzen möchten, aber auch gegen jene, die sie als ungenügend hinstellen (letztere versuchen wir zu überzeugen, dass das „Minimum“ die Anerkennung der „vorsichtigsten Schlussfolgerungen“ des IPCC sein muss).“ (a.a.O., S. 34-35)