Geschichte

November 1918 – Eine verratene und vergessene Revolution

„Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte” (Karl Marx)

Heinrich Neuhaus

Die Novemberrevolution wurde nicht nur verraten, wie wir sehen werden, sie wurde weitgehend vergessen (gemacht). Auch ihre Vorgeschichte ist kaum mehr bekannt. Es hatte mehr als eines Anlaufs bedurft, um die scheinbar so festgefügten Mauern der Hohenzollernmonarchie zum Einsturz zu bringen.

Die folgende, grobe Skizze versucht, die zentralen Stationen des radikalen Widerstands der deutschen ArbeiterInnenklasse in Erinnerung zu rufen.


Die Vorgeschichte


Der 4. August 1914 gilt als das entscheidende Datum für die endgültige Wandlung der SPD. Die Sozialdemokratie des Kaiserreichs war zwar schon längst eine Partei geworden, die sich vom Sturz des Kapitalismus als strategischem Ziel verabschiedet hatte. Aber die Zustimmung zu den Kriegskrediten bedeutete das offene Bekenntnis zu einem prokapitalistischen, proimperialistischen und letzlich konterrevolutuionären Kurs. Gleichzeitig legte sie die Axt an die Wurzeln der sozialistischen Bewegung in Deutschland.

Unter der Hülle des „Burgfriedens“, der im August 1914 proklamiert worden war, hatten sich die sozialen Spannungen im Laufe des Krieges außerordentlich verschärft. Nicht nur für ArbeiterInnen, sondern auch für Angestellte und Beamte verschlechterte sich die materielle Situation drastisch.

Zunächst blieb die Opposition gegen den Krieg eine Randerscheinung. Die ersten, illegalen Mai-Demonstrationen fanden 1915 und dann vor allem ein Jahr später statt. Karl Liebknecht war am 1. Mai 1916 in Berlin der Hauptredner. Zu dieser Zeit deuteten spontane Streiks und Hungerproteste (letztere vor allem von Frauen) eine Änderung der Lage an.

Die Gewerkschaftsführung war der Burgfriedenspolitik und dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst von Dezember 1916 verpflichtet. Der hauptamtliche Gewerkschaftsapparat sah hierin nicht nur einen tarif- und arbeitspolitischen Nutzen, sondern er konnte auch persönliche Vorteile verbuchen – nicht zuletzt den Schutz vor der Einberufung zum Kriegsdienst. Die Bürokratie bekämpfte deshalb gemeinsam mit dem Kapital die Streiks vor allem in der Rüstungsindustrie – zum Teil in brutaler Form.

Gegen diesen Kurs stützte sich die gewerkschaftliche Opposition vor allem auf die Facharbeiterschaft in der Metallindustrie. Aus ihren Reihen gingen die „revolutionären Obleute” hervor, die den radikalen Flügel der gewerkschaftlich organisierten Metaller bildeten.

Besonders die völlig unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln schürte Unzufriedenheit. „Alles wird für die Reichen, für die Besitzenden reserviert … Die schönen Reden vom ‚Durchhalten’ gelten nur für die arbeitende Klasse, die herrschende Klasse hat sich mit ihrem Geldsack schon genügend versorgt“, klagte eine Hamburger Arbeiterin im Winter 1916/17, der als „Steckrübenwinter“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist.


Hungerunruhen und Streiks


Mehr noch als der Mangel selbst wirkte die ungerechte Verteilung provozierend und verbitternd. In zahllosen Hungerunruhen und Streiks machte sich der angestaute Unmut seit 1916 Luft. Die Antikriegsproteste im Ausland und die russische Februarrevolution 1917 beflügelten den Widerstand im Reich. Die Folge war die große Streikwelle im April desselben Jahres.

Ein weiteres Ergebnis der sich zuspitzenden Entwicklung war die Spaltung der SPD in eine bellizistische Mehrheit (Merheitssozialdemokratie – MSPD) und eine pazifistische Minderheit (die Unabhängige Sozialdemokratische Partei – USPD).

Mit der russischen Oktoberrevolution 1917 begann eine neue Phase der Weltrevolution, in deren Gefolge in Deutschland Massenstreiks von bisher nicht gekanntem Umfang stattfanden.

Ende Januar 1918 traten in Berlin und allen anderen größeren Städten die RüstungsarbeiterInnen in den Ausstand, um für „Frieden, Freiheit und Brot“ zu demonstrieren. Noch einmal konnten die Zivil- und Militärbehörden die Bewegung niederschlagen. Doch die Schwäche des wilhelminischen Herrschaftssystems war inzwischen unverkennbar.

Auch an den Fronten sammelte sich viel sozialer Zündstoff an. Im Sommer 1917 kam es zur ersten innermilitärischen Massenerhebung gegen den Krieg.

„Für die verdammten Preußen und Großkapitalisten halte ich meinen Schädel nicht länger hin“, schrieb ein Soldat in einem Feldpostbrief vom August 1917. Das war keine Einzelstimme. „Gleiche Löhnung, gleiches Fressen, wär’ der Krieg schon längst vergessen“, lautete ein beliebter Spruch in den Schützengräben.


Die Revolte der Matrosen


Höhepunkt dieser Revolte war der Streik der Matrosen der kaiserlichen Kriegsflotte. Ihr führender Kern bestand aus Metallarbeitern und war dementsprechend gewerkschaftlich und politisch geprägt. Die Admiralität unterdrückte diese Protestbewegung mit Gewalt. Die Anführer der Matrosen, Max Reichpietsch und Albin Köbis, wurden hingerichtet. Selbst in dieser Situation blieb die Führung der MSPD um Ebert und Scheidemann der imperialistischen Kriegspolitik der Obersten Heeresleitung (OHL) treu verpflichtet. Aber auch die USPD taktierte aus Furcht, ihre Legalität zu verlieren, äußerst vorsichtig.

Nach dem blutigen Scheitern der letzten deutschen Großoffensive im Westen im März 1918 häuften sich die Meldungen über Disziplinverstöße und Befehlsverweigerungen. Immer mehr Soldaten versuchten, sich dem brutalen Krieg durch Desertion oder Selbstverstümmelung zu entziehen.

Ende September 1918 gestand die OHL unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff die militärische Niederlage ein. Sie drängte auf sofortigen Abschluss eines Waffenstillstands und, damit verbunden, auf die „Parlamentarisierung“ der Reichsverfassung. Der führende Kern der wilhelminischen Führungskaste ist jetzt zur Bildung einer von der Reichstagsmehrheit abhängigen Regierung bereit. Diese Reform „von oben“ sollte der drohenden Revolution „von unten“ zuvorkommen – das war der Grundgedanke der im Oktober 1918 eingeleiteten Wende.

Allerdings ließen die Antworten des US-Präsidenten Wilson auf das Waffenstillstandsgesuch der neuen parlamentarischen Reichsregierung unter Prinz Max von Baden rasch erkennen, dass ohne eine Abdankung Wilhelms II. an Frieden nicht zu denken war. Da der Kaiser aber nicht zurücktreten wollte, richtete sich die Massenbewegung nun gegen den Träger der Krone selbst.


Arbeiter- und Soldatenräte


Schließlich zündete der revolutionäre Funke auf den Großkampfschiffen der kaiserlichen Marine. Als die Marineleitung Ende Oktober 1918 den Befehl gab, die Hochseeflotte zu einem letzten Gefecht gegen England auslaufen zu lassen, verweigerten die Matrosen den Gehorsam. In Kiel griff am 5. November die Bewegung aufs Land über, und von hier aus breitete sie sich in den folgenden Tagen auf ganz Deutschland aus. In allen Großstädten entstanden nach Kieler Vorbild Arbeiter- und Soldatenräte. Fast widerstandslos brach die alte Ordnung zusammen.

Am 9. November erreichte die revolutionäre Bewegung Berlin. In den Morgenstunden traten die ArbeiterInnen der Großbetriebe in den Generalstreik. Die Soldaten in den Garnisonen solidarisierten sich mit ihnen. Von den Außenbezirken bewegten sich lange Demonstrationszüge zum Regierungsviertel in der Wilhelmstraße.

Theodor Wolff, Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts beschrieb die Vorgänge: „Meine Mitarbeiter kommen und erzählen, überall risse man den Offizieren die Kokarden ab. Schutzleute seien nicht mehr vorhanden, die Stadt sei mit einem Schlag völlig verändert, die Straßenbahn habe den Verkehr eingestellt; das Wolffsche Telegraphenbüro sei von den Revolutionären besetzt, am Brandenburger Tor wehe die rote Fahne.“

Noch in letzter Minute versuchte Prinz Max von Baden, den im Hauptquartier im belgischen Spa weilenden Kaiser zur Abdankung zu bewegen – vergeblich. So entschloss er sich, auf eigene Verantwortung zu handeln. Gegen Mittag ließ er die Nachricht verbreiten, dass Wilhelm II. dem Thron entsagt habe. Kurze Zeit später übertrug er dem Vorsitzenden der Mehrheitssozialdemokratie, Friedrich Ebert, die Reichskanzlerschaft. Dessen Position war eindeutig: „Ich hasse die Revolution wie die Sünde.”

Gegen Eberts Willen rief um 2 Uhr nachmittags sein Kollege Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstags die „deutsche Republik“ aus: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das Alte, Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt!“

Nur zwei Stunden später proklamierte Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses aus die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Der Sprecher des Spartakusbundes war seit 1916 wegen seiner Antikriegsopposition bis zum 23. Oktober 1918 im Zuchthaus eingesperrt worden. Liebknecht machte in seiner Rede deutlich, dass das eigentliche Werk der revolutionären Umwälzung erst noch bevorstehe: „Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt.“

Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) befanden sich in der Klemme. Einerseits hatten sie die Revolution nicht gewollt und bis zuletzt bekämpft. Sie glaubten, dass mit der Oktoberreform der OHL bereits der entscheidende Schritt zur parlamentarischen Demokratie getan worden war. Andererseits konnten sie sich jetzt aber auch nicht abseits halten, wenn sie sich nicht um allen Einfluss auf den Gang der Ereignisse bringen wollten. Deshalb schlug Friedrich Ebert noch am Nachmittag des 9. November den Vertretern der USPD vor, gemeinsam eine Regierung zu bilden.


Der Rat der Volksbeauftragten


Nach schwierigen Verhandlungen konstituierte sich am frühen Nachmittag des 10. November der Rat der Volksbeauftragten. Ihm gehörten jeweils drei Vertreter der beiden Parteien an: Ebert, Scheidemann und Otto Landsberg von der MSPD, Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth von den Unabhängigen. Offiziell teilten sich Ebert und Haase den Vorsitz; faktisch aber lag die Führung von Anfang an bei Ebert.

Dass MSPD und USPD sich überhaupt auf eine Koalition einigten, war keineswegs selbstverständlich. Denn seit der Spaltung der deutschen Sozialdemokratie im Frühjahr 1917 hatten sich nicht nur die politischen Differenzen, sondern auch die gegenseitigen persönlichen Animositäten weiter verschärft. Wenn die zerstrittenen GenossInnen scheinbar wieder zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden, war das vor allem auf den Druck von unten und die Ausbreitung der Rätebewegung zurückzuführen.

Nach dem Sturz des Kaisers verlangten Arbeiter und Soldaten nachdrücklich ein Ende des „Bruderkampfes“. Das zeigte sich bereits in der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Circus Busch am Nachmittag des 10. November. Als Karl Liebknecht vor den Mehrheitssozialdemokraten warnte, „die heute mit der Revolution gehen und vorgestern noch Feinde der Revolution waren“, unterbrachen ihn stürmische Rufe: „Einigkeit! Einigkeit!“

Die Versammlung wählte auf Initiative der Revolutionären Obleute einen 24-köpfigen Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins. Ebert konnte dies zwar nicht verhindern, aber es gelang ihm, eine paritätische Besetzung mit MSPD- und USPD-Mitgliedern durchzusetzen. Ebenfalls nicht zu verhindern war der Beschluss, für Mitte Dezember einen Reichsrätekongress in der Hauptstadt einzuberufen.

Doch die Konterrevolution formierte sich. Am Abend desselben Tages telefonierte Ebert mit General Groener, dem neuen Chef der OHL. Groener sicherte Ebert die Unterstützung des Heeres zu. Im Gegenzug versprach Ebert, die alte militärische Rangordnung wiederherzustellen und gegen die Arbeiter- und Soldatenräte vorzugehen. Dieser geheime Pakt war ein für den weiteren Lauf der Ereignisse entscheidender Faktor.

Nach der Bildung des Rates der Volksbeauftragten und der Wahl des Vollzugsrates als Kontrollorgan am 10. November trat eine kurze und trügerische Phase der Beruhigung ein. Die neue Regierung versprach in ihren ersten Proklamationen, für Ordnung zu sorgen und das Eigentum zu schützen.

Überraschend schnell kehrte das Leben in Berlin und anderen deutschen Großstädten scheinbar zur Normalität zurück. Der Alltag schien durch das revolutionäre Geschehen nur wenig berührt worden zu sein. Die Straßenbahnen fuhren bald wieder regelmäßig, das Telefon funktionierte, ebenso die Gas-, Wasser- und Stromversorgung.

Der in München lebende Dichter Thomas Mann schrieb damals: „Ich bin befriedigt von der relativen Ruhe u[nd] Ordnung, mit der vorderhand wenigstens alles sich abspielt. Die deutsche Revolution. Keine französische Wildheit, keine russisch-kommunistische Trunkenheit.“

Das Bürgertum erholte sich schnell vom ersten Schock und reagierte auf die neue Situation mit großer Anpassungsfähigkeit. Gleichsam über Nacht übernahm es die proletarische Organisationsform der Räte. „Man überbietet sich allenthalben in Gründungen von allen möglichen Räten: Bauernräte, Bürgerräte, geistige Räte, Kunsträte, Theaterräte. Die deutsche Vereinsmeierei ist in die Arme der Revolution geflüchtet“, stellte der Heidelberger Historiker Karl Hampe fest.


Das Stinnes-Legien-Abkommen


Ungleich bedeutender war jedoch ein Treffen zwischen dem Führer des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Carl Legien, mit den Vertretern des Großkapitals unter Hugo Stinnes und Carl von Siemens. Es fand vom 9. bis 12. November in Berlin statt. Das Ergebnis dieser Tagung war bezeichnend. Am 15. November unterschrieben beide Seiten ein „Arbeitsgemeinschaftsabkommen”. Die Gewerkschaftsführung sicherte darin zu, geordnete Produktionsverhältnisse zu garantieren, wilde Streiks zu beenden, den Einfluss der Räte zurückzudrängen und eine Sozialisierung von Produktiveigentum zu verhindern. Die Unternehmer garantierten im Gegenzug die Einführung des 8-Stundentags. Sie sicherten außerdem den Gewerkschaften den Alleinvertretungsanspruch für die abhängig Beschäftigten und die dauerhafte Anerkennung ihrer Organisationen zu.

Zur besseren Koordination bildeten beide Seiten einen „Zentralausschuss zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft”. Zudem sollte ein „Schlichtungsausschuss” bei künftigen Konflikten vermitteln. In jedem Betrieb mit mehr als 50 ArbeiterInnen konnten Ausschüsse gemeinsam mit der jeweiligen Unternehmensleitung die Einhaltung von Tarifverträgen überwachen.

Für ein tarif- und arbeitspolitisches Linsengericht verkaufte somit die Gewerkschaftsbürokratie nicht nur jegliche Unterstützung selbst der geringsten Ansätze für eine soziale Revolution. Sie blieb vielmehr ihrem Selbstverständnis als Ordnungsfaktor treu.


Der 10. November


Wie sollte es nun weitergehen mit der Revolution? Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie besaßen ein klares Konzept: Sie wollten keine sozialistischen Experimente. Es ging ihnen zuallererst um den Erhalt der bürgerlichen Machtstrukturen und die „Herstellung von Ruhe und Ordnung”.

Konkret wollten sie gleichzeitig die dringenden Tagesprobleme im Rahmen des kapitalistischen Systems bewältigen: Sicherung der Lebensmittelversorgung, Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft; Demobilisierung der Truppen, Wiedereingliederung der rückkehrenden Soldaten in den Arbeitsprozess, Durchführung des Waffenstillstands und Vorbereitung der Friedensverhandlungen.

In den Arbeiter- und Soldatenräten sahen sie eine gefährliche Konkurrenz für die parlamentarische Berufspolitik, eine Bedrohung, hinter der das Monster des bolschewistischen Umsturzes lauerte. Die Räte sollten, nachdem sie nicht zu verhindern gewesen waren, möglichst schnell einer frei gewählten Nationalversammlung Platz machen. Dieser allein sollte es vorbehalten bleiben, alle wichtigen Entscheidungen über die gesellschaftliche und politische Zukunft zu treffen.

Die USPD war in der Frage der künftigen Neuordnung der Republik gespalten. Der rechte Flügel bekannte sich zwar auch für die Einberufung einer Nationalversammlung, wollte aber einen möglichst späten Wahltermin. Die dadurch gewonnene Frist sollte dazu genutzt werden, durch gesellschaftliche Strukturreformen die Grundlagen für eine sozialistische Demokratie zu legen. „Die Demokratie muß so verankert werden, daß eine Reaktion unmöglich wird“, erklärte Rudolf Hilferding, der führende Parteitheoretiker, Mitte November 1918.

Die Vertreter des linken USPD-Flügels lehnten dagegen die Nationalversammlung ab und sprachen sich für ein Rätesystem aus. Damit näherten sie sich dem Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an, der formell noch zur USPD gehörte. Faktisch betrieb dieser aber seine eigene Politik und gründete an der Jahreswende 1918/19 mit anderen linksradikalen Gruppen die Kommunistische Partei Deutschlands.

Unter der Parole „Alle Macht den Räten!“ entfaltete der Spartakusbund eine rege Agitation für das Weitertreiben der Revolution. „Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium“, schrieb Rosa Luxemburg am 18. November 1918 in der Roten Fahne. Sie hatte die redaktionelle Leitung der Zeitung nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in Breslau und der Rückkehr nach Berlin übernommen. „Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches Vorwärtsschreiten, über sich selbst Hinauswachsen.“

Der Wirkungsgrad des 1916 gegründeten Spartakusbundes war nur sehr begrenzt, nicht zuletzt aufgrund der geringen Zahl der Mitglieder und der noch schwachen Organisation. Auf die Arbeiter- und Soldatenräte übte er keinen nennenswerten Einfluss aus. Hier besaßen die Repräsentanten der MSPD und des gemäßigten Flügels der USPD ein klares Übergewicht.

Von einer Rätedemokratie nach russischem Muster war Deutschland im November und Dezember 1918 weit entfernt. Dennoch beschworen konterrevolutionäre Kreise unaufhörlich diese Gefahr. Sie schrieben Liebknecht und Luxemburg eine über ihren tatsächlichen Einfluss weit hinausreichende Bedeutung zu. „Spartakus“ wurde zum blutrünstigen Schreckgespenst verzerrt. Damit ließen sich vortrefflich Ängste vor Chaos und Bürgerkrieg schüren, vor allem bei jenen, die von grundlegenden Veränderungen einen Verlust ihrer bisherigen Privilegien zu befürchten hatten.

Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie traten der Hetze gegen die radikale Linke nicht entgegen. Im Gegenteil: Sie hatten das antibolschewistische Feindbild selbst in starkem Maße verinnerlicht. Sie kannten keine Skrupel, die damit verbundenen Bedrohungsängste in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren.


Die Übergangsregierung und die Rätebewegung


Um das Zusammentreten des Ersten Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte zu verhindern, planten Ebert und Groener, mit dem Einsatz von nach Berlin befohlenen Fronttruppen die Kontrolle über die Hauptstadt wiederzugewinnen. Am 6. Dezember schlug jedoch eines der dafür vorgesehenen Regimenter zu früh los. Die Soldaten feuerten, bei dem Versuch, den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte zu verhaften, auf eine Demonstration von unbewaffneten Roten Garden und töteten 16 Menschen.

Dabei zeigte auch der Verlauf des Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin vom 16. bis 21. Dezember 1918 deutlich, wie gering der politische Einfluss Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs in diesem Gremium war. Der Vorschlag, sie als „Gäste mit beratender Stimme“ zuzulassen, wurde gleich zu Beginn der Tagung zurückgewiesen.

Mit überwältigender Mehrheit lehnten die Delegierten auch den Antrag ab, „an dem Rätesystem als Grundlage der Verfassung der sozialistischen Republik“ festzuhalten und den Arbeiter- und Soldatenräten die höchste gesetzgebende und vollziehende Gewalt zu übertragen. Stattdessen wurde der Gegenantrag angenommen, die Wahlen zur Nationalversammlung zum frühestmöglichen Termin, am 19. Januar 1919, stattfinden zu lassen.

Dennoch war die Freude der MSPD-Führer über diese Entscheidung nicht ungetrübt. Denn zugleich fasste der Rätekongress zwei Beschlüsse, die ihnen gar nicht ins Konzept passten. Zum einen wurde die Regierung aufgefordert, „mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen“. Zum anderen wurde eine tiefgreifende Militärreform verlangt. Die militärische Kommandogewalt sollte von den Volksbeauftragten unter Kontrolle des Vollzugsrats ausgeübt, alle Rangabzeichen abgeschafft und die Offiziere durch die Soldaten gewählt werden.

      
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Beide Beschlüsse zeigten, dass der Wunsch nach grundlegenden Veränderungen auch unter den mehrheitlich sozialdemokratisch orientierten Delegierten lebendig war. Sie bedeuteten zugleich eine scharfe Kritik am Rat der Volksbeauftragten, der in dieser Hinsicht bislang jegliche Schritte hatte vermissen lassen. Die Frage der Sozialisierung war Anfang Dezember 1918 einer Kommission übertragen und damit auf die lange Bank geschoben worden. In der Militärpolitik hatte Ebert von Anfang an auf eine enge Zusammenarbeit mit der Obersten Heeresleitung unter Wilhelm Groener gesetzt und dadurch verhindert, rechtzeitig eine zuverlässige republikanische Schutztruppe aufzubauen.

Die Folge war, dass das alte Offizierskorps schon bald wieder ein auftrumpfendes Selbstbewusstsein an den Tag legte. Mitte Dezember 1918, als die von der Front zurückkehrenden Gardetruppen in Berlin festlich empfangen wurden, beobachtete Harry Graf Kessler: „Auffallend, daß keine rote Fahne mehr zu sehen ist; alles nur Schwarz-Rot-Gold. Mannschaften und Offiziere gehen meistens wieder mit Kokarden und Achselstücken. Der Unterschied gegen Mitte November ist groß.“ Das Militär war erneut zum wichtigsten innenpolitischen Machtfaktor geworden. Ebert rückte sofort von den militärpolitischen Beschlüssen des Rätekongresses ab, als die Heeresleitung ihren Protest anmeldete.


Die Weihnachtskrise


Wie eng die MSPD-Volksbeauftragten mit der alten preußischen Militärkaste verbunden waren, zeigte sich auch in den Weihnachtstagen 1918. Zwischen der nach links tendierenden Volksmarinedivision und dem Berliner Stadtkommandanten, dem MSPD-Politiker Otto Wels, eskalierte ein seit längerem schwelender Konflikt. Er drehte sich vor allem um ausstehende Soldzahlungen und die Räumung des Stadtschlosses, in dem die Volksmarinedivision ihr Quartier bezogen hatte.

Am 23. Dezember besetzten rebellierende Matrosen vorübergehend die Reichskanzlei, danach stürmten sie die Stadtkommandantur und nahmen Otto Wels und zwei seiner Mitarbeiter fest. Daraufhin forderte Ebert, ohne den Koalitionspartner von der USPD zu informieren, militärische Hilfe an. Bei den Kämpfen, die am Heiligen Abend um das Schloss entbrannten, kamen zahlreiche Matrosen und Gardesoldaten ums Leben.

Die Schuld an dem Blutbad gaben die radikalen Kräfte in der Berliner ArbeiterInnenschaft den MSPD-Volksbeauftragten. Bei der Beerdigung der Gefallenen trugen Demonstranten Schilder mit der Aufschrift: „Des Matrosenmordes klagen wir an Ebert, Landsberg und Scheidemann!“

[Teil II dieses Artikels folgt in der nächsten Ausgabe von Inprekorr.]



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 1/2011 (Januar/Februar 2011). | Startseite | Impressum | Datenschutz