Geschichte

November 1918 – Eine verratene und vergessene Revolution (Teil II)

Heinrich Neuhaus

Die unmittelbare Folge der „Berliner Weihnachtskämpfe“ ist der Bruch der Regierungskoalition. Am 29. Dezember 1918 erklärten die drei USPD-Vertreter ihren Austritt aus dem Rat der Volksbeauftragten. An ihre Stelle rückten der Gewerkschaftssekretär Rudolf Wissell, zuständig für Wirtschaft und Soziales, und der SPD-Militärexperte Gustav Noske, zuständig für „Heer und Marine“. Damit gelangte ein Mann in eine Spitzenposition, der in den folgenden Wochen eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.


Gründung der KPD und Januaraufstand 1919


Noskes Name ist eng verknüpft mit der blutigen Niederschlagung der Januarunruhen 1919 in Berlin. Auslöser für diesen fälschlicherweise auch als „Spartakusaufstand“ bezeichneten Konflikt war die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, der dem linken Flügel der USPD angehörte. Der Zentralvorstand der USPD von Groß-Berlin, die Revolutionären Obleute der Berliner Metallbetriebe und die Zentrale der KPD antworteten auf diese, wie sie meinten, gezielte Provokation mit einem Aufruf zu einer Protestkundgebung am 5. Januar.

Keine der beteiligten Gruppierungen dachte an einen Aufstand. Doch schon während der Massendemonstration gerieten die Ereignisse außer Kontrolle. Eine Gruppe von DemonstrantInnen besetzte das Gebäude des sozialdemokratischen Vorwärts und andere Verlagshäuser im Berliner Zeitungsviertel. Dieser spontanen Aktion folgte am Abend dieses 5. Januar die improvisierte Bildung eines „Revolutionsausschusses“. Dieser rief zum „Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann“ auf, ohne auch nur eine ungefähre Vorstellung davon zu besitzen, wie das Vorhaben in die Tat umzusetzen sei. Das ganze Unternehmen war ein dilettantisch eingefädeltes Abenteuer, an dessen Scheitern es von Anfang an keinen Zweifel geben konnte.


Der blutige Marsch der Konterrevolution


Doch die Regierung gab vor, diese Drohung ernst zu nehmen, und nutzte die Lage entschlossen aus, um die radikale ArbeiterInnenschaft mit aller Brutalität zu unterdrücken.

„Meinetwegen! Einer muß der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!“ – mit diesen Worten übernahm Noske auf Vorschlag Eberts den Oberbefehl über die Regierungstruppen in und um Berlin. Für ihn war klar: Diesmal musste ein Exempel statuiert werden. Es sollten mit allen verfügbaren militärischen Mitteln „Ruhe und Ordnung“ wiederhergestellt werden.

Am 11. Januar stürmte das Regiment Potsdam das Zeitungsviertel. Fünf Besetzer des Vorwärts, die über die Bedingungen des Abzugs verhandeln wollten, wurden festgenommen und zusammen mit zwei abgefangenen Kurieren erschossen. Das war die erste einer Serie weiterer Gewalttaten, die ungesühnt blieben. Noch am selben Tag ließ Noske die neu formierten Freikorps in Berlin einmarschieren – Verbände von reaktionären Freiwilligen, die darauf brannten, endlich mit Spartakus abrechnen zu können.

Diesen Mörderbanden in Uniform fielen am 15. Januar auch die bekanntesten Köpfe des revolutionären Flügels der deutschen ArbeiterInnenbewegung, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum Opfer. Tausende anderer ArbeiterInnen und RevolutionärInnen, darunter führende Organisatoren der KPD wie Leo Jogisches und Eugen Levine, sollten bald das gleiche Schicksal erleiden.

Der Publizist Sebastian Haffner hat zu Recht die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts „das eigentliche geschichtsträchtige Ereignis des Revolutionsdramas“ genannt. Denn damit erweiterte sich die Kluft, die sich im Ersten Weltkrieg innerhalb der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung aufgetan hatte, zum Abgrund. Für die AnhängerInnen des linken USPD-Flügels und der KPD stand fest, dass die Führung der Mehrheitssozialdemokratie politisch für den konterrevolutionären Terror verantwortlich war. Das blieb eine bedrückende Hypothek. Zugleich wuchs die Abhängigkeit der Regierung von den Militärs noch weiter. Die Geister, die Ebert und Noske gerufen hatten, wurden sie nicht mehr los.

„Die Nutznießer des Sieges waren nur scheinbar die Mehrheitssozialisten, in Wirklichkeit die Offiziere und durch sie das Bürgertum“, so hat der linkssozialistische Historiker Arthur Rosenberg in seiner zuerst 1935 im Exil veröffentlichten Geschichte der Weimarer Republik das Ergebnis der Januarkämpfe zusammengefasst.

Damit begann eine zweite, militantere Phase der Revolution. Sie war – im Unterschied zur ersten – gekennzeichnet durch eine Vielzahl von lokalen Revolten, großen Streiks, vor allem in den Industrierevieren an Rhein und Ruhr und in Mitteldeutschland, durch räterepublikanische Experimente bis hin zum Bürgerkrieg. Diese neue revolutionäre Welle richtete sich nicht mehr, wie im November 1918, gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, sondern gegen die mit den Militärs eng kooperierende mehrheitssozialdemokratisch- bürgerliche Ordnungskoalition.

Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, an der zum ersten Mal auch Frauen stimmberechtigt waren, erhielt die MSPD 37,9 Prozent der Stimmen, die USPD dagegen nur 7,6 Prozent. Die KPD hatte den Fehler begangen, die Wahl zu boykottieren. In diesem Ergebnis konnten die Männer um Ebert eine Bestätigung ihres Kurses sehen. Gemeinsam mit der neu gegründeten linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der katholischen Zentrumspartei bildeten sie die „Weimarer Koalition“.

Im Laufe des Frühjahrs 1919 veränderten sich jedoch die Kräfteverhältnisse. Der linke Flügel der ArbeiterInnenbewegung verzeichnete einen stark wachsenden Zuspruch. Dies war vor allem eine Reaktion auf die Politik Ebert-Noskes, überall in Deutschland mit eiserner Faust „Ordnung“ zu schaffen.

In Bremen feierte die Reichsregierung ihren zweiten konterrevolutionären „Erfolg“. Mit militärischer Gewalt ließ sie die Räterepublik, die dort am 10. Januar ausgerufen worden war, Anfang Februar blutig niederschlagen.

Im März 1919 kam es wiederum in Berlin im Anschluss an einen Generalstreik zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen, bei denen über 1000 Menschen ihr Leben verloren. Im Verlauf dieser Kämpfe gab Noske am 9. März seinen berüchtigten Schießbefehl. Er erlaubte den Regierungstruppen, jede Person, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen wurde, sofort zu erschießen. Das war ein Freibrief zum Töten politischer GegnerInnen.

 
Literatur :

Abendroth, Wolfgang, Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd.1, Heilbronn 1985.

Broué, Pierre, Die deutsche Revolution (1918- 1923), Berlin 1973.

Dorst, Tankred (Hg.), Die Münchner Räterepublik, Zeugnisse und Kommentar, Frankfurt/ Main 1966.

Kittner, Michael, Arbeitskampf, München 2005.

Luban, Ottokar, Die mutigen Arbeiter von 1918. in: Frankfurter Rundschau vom 01.02.2008.

Müller, Richard, Geschichte der deutschen Revolution, 3 Bde., Berlin 1979.

Haffner, Sebastian, Der Verrat, Berlin 1993.

Hoffrogge, Ralf, Richard Müller, Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.

Kuckuck, Peter (Hg.), Revolution und Räterepublik in Bremen, Frankfurt/Main 1969.

Rosenberg, Arthur, Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1972.

Ders., Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1973.

Ullrich, Volker, Die halbe Revolution, ZEIT ONLINE 2008.

Weber, Hermann, Die Gründung der KPD, Protokoll und Materialien des Gründungsparteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands 1918/1919, Berlin 1993.

Wikipedia, Novemberrevolution, http://de.Wikipedia.org 2008

Schließlich wurde, immer noch unter dem Oberbefehl Noskes, Anfang Mai 1919 die Reichsexekution gegen die Münchner Räterepublik verhängt. Dadurch kamen erneut Hunderte von RevolutionärInnen ums Leben, unter ihnen der Sozialist und Schriftsteller Gustav Landauer, der wie ein Hund totgeprügelt wurde. „Man blickt im Geiste um sich: lauter Tote, lauter Ermordete …“, notierte der Münchner Anarchist Erich Mühsam, der zu fünfzehn Jahre Haft verurteilt wurde, am 7. Mai in seiner Zuchthauszelle.


Ausblick


Mit der Unterdrückung der Münchner Räterepublik endete die zweite Phase der Revolution. Das Ergebnis war niederschmetternd. „Schon um die Mitte des Jahres [1919] lag die reale Macht in Deutschland bei den Freikorps, nicht bei der Nationalversammlung“, befand Arthur Rosenberg. Während die MSPD in der zweiten Jahreshälfte 1919 große Teile ihrer Anhänger an die USPD verlor, blieben das Offizierskorps und mit ihm große Teile des konservativen Bürgertums auf Distanz zur Republik.

Vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung war der Kapp-Lüttwitz- Putsch im März 1920, benannt nach den beiden Hauptverschwörern. Der eine war der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, der 1917 zu den Mitbegründern der extrem nationalistischen Deutschen Vaterlandspartei gehört hatte. Der andere war der Freiherr Walther von Lüttwitz, kommandierender General des Reichswehr- Gruppenkommandos I in Berlin, ein enger Vertrauter Noskes.

Zwar setzte ein Generalstreik der Herrschaft der Putschisten bereits nach fünf Tagen ein Ende, doch die Chance, konsequent gegen die Reaktion vorzugehen, blieb erneut ungenutzt.

Bei den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 verlor die „Weimarer Koalition“ ihre Mehrheit. Das Ergebnis war ein deutlicher Ruck nach rechts. Dauernde Regierungswechsel und politische Instabilität prägten fortan die Weimarer Republik. Die radikale Linke verspielte ihre letzte große Chance für einen revolutionären Wandel im Krisenjahr 1923.

Selbst Wilhelm Dittmann, einer der drei USPD-Volksbeauftragten, hat rückblickend den November 1918 als einen „unerhört günstigen geschichtlichen Augenblick“ bezeichnet, „mit einem Ruck die politische und wirtschaftliche Entwicklung vorwärtszustoßen“.

Die Sozialisierung des Bergbaus, der Großindustrie und der Großbanken, eine durchgreifende Agrarreform in Ostelbien, die Entlassung von kaiserlichen Spitzenbeamten, eine radikale Überwindung des alten Klassenstaates durch eine Rätedemokratie und der Aufbau einer der Novemberrevolution verpflichteten Truppe – all das und noch viel mehr war im Winter 1918/19 möglich gewesen. Nur so hätte den alten Herrschern aus Großindustrie und Hochfinanz, aus Großlandwirtschaft, Bürokratie und Militär ihre Machtbasis entrissen werden können. Nur so hätte der Siegeszug der Konterrevolution verhindert werden können.

Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie verstanden sich jedoch als Konkursverwalter des Kaiserreichs und nicht als entschlossene Neuerer. Sie verkannten, dass selbst die neue bürgerlich-parlamentarische Demokratie gewisser Veränderungen bedurfte, um überlebensfähig zu sein. Sie ließen deshalb die hergebrachten gesellschaftlichen Machtstrukturen im Wesentlichen unangetastet.

„Da regiert der Bürger in seiner übelsten Gestalt. Da regiert der Offizier alten Stils. Da regiert der Beamte des alten Regimes. Und wie sie regieren! Keine Erkenntnis hat sich da Bahn gebrochen. Kein Luftzug einer neuen Zeit weht da herein“, bemerkte Kurt Tucholsky in einer Betrachtung über die deutsche Provinz im Jahr 1920.

Die reaktionären Führungsschichten des Kaiserreichs erfreuten sich weiterhin privilegierter Positionen, und sie verharrten in Fundamentalopposition gegen das verhasste „System von Weimar“. Im Prozess der Auflösung der Republik 1930 bis 1933 konnten sie daher eine höchst aktive Rolle spielen.


Fazit


Die Novemberrevolution war ein weitgehend spontaner politischer Umsturz, der von sozialdemokratischen ArbeiterInnen- und Soldatenmassen getragen wurde. Eine besonders aktive Rolle spielten dabei die radikalen organisierten Metallfacharbeiter um Richard Müller.

      
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Neben den mehrheitlich nach wie vor bestehenden politischen Illusionen in die staatsfixierte sozialdemokratische Führung war die entscheidende Schwäche dieser großartigen Erhebung das Fehlen einer reichsweit koordinierten Rätemacht, eines starken klassenkämpferischen Gewerkschaftsflügels und einer revolutionären Partei mit Masseneinfluss.

Die Ansätze zu einer sozialen Revolution in Deutschland wurden von der sozialdemokratischen Führung im Bündnis mit den Resten des kaiserlichen Heeres blutig niedergeschlagen. Diese konterrevolutionäre Koalition sicherte den Erhalt der wirtschaftlichen, staatlichen und militärischen Macht des deutschen Imperialismus. Sie blockierte damit auch die Weiterentwicklung der Möglichkeiten der politischen Revolution von 1918. Vor allem aber ebnete sie den Weg für die Errichtung der faschistischen Diktatur 1933. Nur eine Einheitsfront der stärksten organisierten ArbeiterInnenbewegung der damaligen kapitalistischen Welt hätte diese historische Niederlage noch verhindern können.

Überlassen wir Sebastian Haffner das Schlusswort:

„Noch heute gibt es viele Ebert- Deutsche, die jede Revolution ‚hassen wie die Sünde’; noch heute gibt es viele, die die Revolution von 1918 verleugnen wie einen Schandfleck ... Aber die Revolution ist kein Schandfleck. Sie war – besonders nach vier Jahren Hunger und Ausbeutung eine Ruhmestat. Ein Schandfleck ist der Verrat, der an ihr verübt wurde ... Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen.

Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.“


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 2/2011 (März/April 2011). | Startseite | Impressum | Datenschutz