Griechenland

Einige Anmerkungen zur Regierungsfrage

François Sabado

Die Tiefe der kapitalistischen Krise wirft die Machtfrage in allgemeinen Umrissen auf (um mit der Sparpolitik zu brechen, sind eine radikale Änderung der Politik und eine andere Regierung nötig), aber die Krise in Griechenland, bei der sozioökonomischer Zusammenbruch, politische Krise und soziale Widerstände zusammenkommen, rückt sie direkt in den Vordergrund des sozialen und politische Geschehens.


1. Eine alte Debatte


Ab Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Regierungsfrage – Arbeiterregierung, Arbeiter- und Bauernregierung, Volksregierung, Regierung der Werktätigen – eine der Fragen gewesen, die im Zentrum der Strategiediskussion der Arbeiterbewegung gestanden hat. Diese Diskussion ist nach der russischen Revolution hochgeschwappt, als die Kommunistische Internationale über die Perspektive einer „Arbeiter- und Bauernregierung“ im Unterschied zur „Diktatur des Proletariats“, die mit der Macht der Werktätigen gleichgesetzt wurde, diskutierte. Es gab eine Debatte darüber, ob die Arbeiter- und Bauernregierung einfach ein Synonym für die Diktatur des Proletariats oder aber ein Vorschlag für eine Regierung sei, die im Feuer der Krise ein Zwischenglied zwischen der in Krise befindlichen Macht der Bourgeoisie und dem revolutionären Vorstoß der ArbeiterInnen wäre. Die Mehrheit der Internationale entschied sich für das Experiment mit dieser Art von Regierung. Es ging darum, die ersten Schritte eines Bruchs mit der Bourgeoisie und das Programm einer Übergangsregierung zwischen der zusammenbrechenden kapitalistischen Macht und einer aus der revolutionären Krise hervorgehenden Arbeitermacht näher zu bestimmen: zwischen einem „nicht mehr“ der bürgerlichen Macht, im allgemeinen eines zerfallenden Staats, und einem „noch nicht“ der Arbeitermacht. Diese Diskussion wurde im Lichte jeder revolutionären Erfahrung fortgesetzt: eine Regierung, die in Russland 1917 aus der Doppelherrschaft hervorging, eine Regierung der Sowjets, eine Regierung von Sozialrevolutionären und Menschewiki der russischen Revolution vor der bolschewistischen Regierung, Regierungen, die den Arbeiterräten in Sachsen und Thüringen 1923 in Deutschland verantwortlich waren und das Zentralkomitee der Milizen in Katalonien zwischen Juli und September 1936.

In den 1920er Jahren stellte Trotzki sich diese Perspektive der Arbeiterregierung in der Form einer sozialistisch-kommunistischen Mehrheit vor, die aus dem Massenkampf, aber auch einem Wahlsieg hervorgehen könne. Während er der Auffassung war, dass „eine Arbeiterregierung aus einem ,parlamentarischen Beginn der Revolution‘ hervorgehen kann“, „ist dies die Losung einer massenhaften Bewegung des Proletariats, das seine eigene Regierung allen Arten von bürgerlichen parlamentarischen Kombinationen entgegenstellt“. In den 1930er Jahren trat er für eine sozialistisch-kommunistische Regierung auf der Grundlage eines Systems von Übergangsforderungen ein. Es gilt zu verstehen, dass sich die Unterschiede zwischen RevolutionärInnen und ReformistInnen im Rahmen des erklärten Ziels des Sturzes des Kapitalismus bewegten. Trotzki dachte damals: „Die historische Krise der Menschheit geht auf die Krise der revolutionären Führung [der Arbeiterbewegung] zurück“. Er hielt auch eine Änderung der Führung der Arbeiterbewegung unter dem Druck der Ereignisse für möglich, selbst wenn „die sozialdemokratischen Führungen nach dem Krieg von 1914–1918 auf die Seite der bürgerlichen Ordnung übergegangen sind“ und der Stalinismus im Kampf gegen Hitler in Deutschland definitiv gescheitert ist. Die Arbeiterbewegung kann nicht mehr auf diese Führungen bauen, sie kann sich aber noch auf die Schubkraft der russischen Revolution stützen, die die Arbeiterradikalisierung befördert, und zwar trotz des Stalinismus.

Im Nachhinein betrachtet bestanden sicherlich auch Illusionen über die damalige Arbeiterbewegung: Die Stärke der Bewegung sei so groß, dass die Führungen der sozialistischen Partei und der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) in dem Wirbelsturm von Krieg/Revolution „weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“. Diese Formeln wurden in der Nachkriegszeit und in den 1970er Jahren wieder aufgegriffen, als die RevolutionärInnen von sozialistischer und kommunistischer Partei forderten, sie sollten die Macht übernehmen, um die Forderungen zu erfüllen.

Aber nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Lage geändert: Die sozialdemokratische und stalinistische bürokratische Vorherrschaft hatte sich stabilisiert und kristallisiert, sowohl in ihren Beziehungen zu den Gewerkschaftsbürokratien als auch in den parlamentarischen Institutionen. Die Formeln der Regierungen aus sozialistischen und kommunistischen Parteien für die Umsetzung eines antikapitalistischen Programms hatten den Vorteil, dass sie eine glaubhafte Regierungsperspektive boten, aber den Nachteil, dass sie Illusionen in Bezug auf die Fähigkeit dieser Parteien nährten, den Beginn eines Bruchs mit der Bourgeoisie zu vollziehen.

Abgesehen von diesen historischen Erfahrungen ist festzuhalten, dass die Diskussion über diese Übergangsregierungen an Momente zugespitzter Krise – sozioökonomisch, politisch – gebunden ist, wenn sie in einer Zeit stattfindet, in der politische Krisen Ausnahmen darstellen und das Drängen der Massen ebenso. Diese Diskussion wurde in Frankreich im Mai 1968 oder in Portugal in den Jahren 1974 und 1975 wieder heiß geführt. Im Mai 1968 stellte sich die PCF gegen die Revolte der Bevölkerung; alle Regierungsformeln, die die PCF einschlossen, wurden von der Bewegung abgelehnt oder ausgeschlossen. Die jungen RevolutionärInnen der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (JCR) stellten zu dieser Zeit die Forderung nach dem Abtritt von de Gaulle auf und riefen zu einer „Volksregierung“ auf, die sich auf alle Organisationen der Bewegung des Mai stützen solle: auf Versammlungen, Komitees und Gewerkschaften. In Portugal stellte die Nelkenrevolution 1974 die Beseitigung der Diktatur, die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung und sehr rasch den Aufbau einer neuen Macht auf die Tagesordnung. Zahlreiche revolutionäre Organisationen legten jede auf ihre Weise den Akzent auf eine Regierung, die sich auf die Massenmobilisierungen, die Selbstverwaltung und revolutionäre Sektoren der Armee stützt.


2. Eine historische Veränderung


Wir haben eine neue historische Situation, in der die Transformation der Sozialdemokratie in den Sozialliberalismus jede Formel eines Bündnisses oder einer Regierung mit den sozialistischen Parteien historisch unmöglich macht. Diese Parteien, die „immer mehr bürgerliche und immer weniger Arbeiterparteien“ geworden sind, nehmen sich direkt der Sparpolitik des neoliberalen Kapitalismus an. Wenn die Existenz einer Basis dieser Parteien in der Bevölkerung eine Politik der Aktionseinheit erforderlich macht – falls die Situation es erlaubt –, dann geht dies vor allem mit den aktiven sozialistischen GewerkschafterInnen in den Betrieben oder den WählerInnen. Parlamentarische oder Regierungsbündnisse sind dagegen inakzeptabel – das ist der Kern unserer Meinungsverschiedenheit mit der Front de gauche in Frankreich und insbesondere mit der PCF. Gewiss beteiligen sich die dominierenden Parteien der Front de gauche nicht an der Regierung, und oft stimmen sie gegen die Gesetzentwürfe der Sozialistischen Partei, was die Bedingungen für gemeinsames Handeln schafft. Dadurch dass sie es ablehnen, sich als „linke Opposition“ zur Regierung Hollande-Ayrault zu positionieren, bestätigen sie aber zugleich, dass sie Bestandteil der parlamentarischen Mehrheit sind und auf eine Umorientierung dieser Mehrheit mit den Sozialliberalen hinarbeiten. Wir sind mit diesem Herangehen überhaupt nicht einverstanden. Die zum Sozialliberalismus [1] transformierte Sozialdemokratie ist aus einer möglichen Regierungsformel für eine Gesellschaftsveränderung ausgeschieden. Das ist eine historische Veränderung im Verhältnis zu den Bedingungen, unter denen sich die Frage in einem Gutteil des 20. Jahrhunderts stellte.


3. Eine algebraische Formel


Eine Frage aber wird uns ziemlich direkt gestellt: Wenn ihr die Regierung Hollande bekämpft, was schlagt ihr an deren Stelle vor? Wie oft sind Olivier Besancenot diese Fragen gestellt worden? Fragen, die aus der Tiefe der Krise und aus der Stimmungslage herrühren, die in Anbetracht der Sparpolitik im Lande existieren. Das wirft die Regierungsfrage auf, ohne dass uns eine konkrete Formel gegeben würde.

Trotzki befasste sich in seinen Texten über Frankreich in den 1920er Jahren mit dieser Frage. „Die Arbeiterregierung ist eine algebraische Formel, das heißt eine Formel, deren Ausdrücken keine festen numerischen Werte entsprechen. Daraus ergeben sich ihre Vorteile und auch ihre Nachteile.“ Und er fuhr fort: „Vorteile wie eine auf Einheit der gesamten Arbeiterbewegung gerichtete politische Perspektive. Nachteile im Hinblick auf eine rein parlamentarische Interpretation dieser Losung“. Man muss also vorsichtig sein. Das führte Trotzki jedoch nicht dazu, diese Perspektive beiseite zu tun, im Gegenteil.

Alle Formeln der „Regierung der Werktätigen“, „Volksregierung“ oder konkreter „Regierung gegen die Sparpolitik“ sind also allgemeine – algebraische – Formeln, die eine erste Antwort auf die Machtfrage geben. Es gilt also, sie über ihre Aufgaben zu definieren. In diesem Fall wäre das die Umsetzung der Sofortmaßnahmen, die für die Bevölkerung vital sind (Arbeitsplätze, Löhne, öffentliche Dienste), Politik der Finanzierung dieser Sofortmaßnahmen durch die Streichung der illegitimen Schulden, eine antikapitalistische Besteuerung und eine Neuorganisierung des Eigentums durch den Zugriff auf die Banken und Schlüsselsektoren der Wirtschaft. Um mit der Umsetzung dieses Programms zu beginnen, ist es notwendig, mit den gegenwärtigen „Austeritätsregierungen“ Schluss zu machen und sich auf die Mobilisierungen der Völker zu stützen. Die Lage und die Politik jeder linken Organisation oder der sozialen Bewegung werden bestimmen, welche Organisationen dafür in Frage kommen, an einer Regierung im Dienst der abhängig Beschäftigten teilzunehmen oder sie zu stützen.

Diese allgemeine Propaganda bereitet den Boden für das Eingreifen bei größeren Krisen, in denen die Regierungsformel einen konkreten Sinn erhält.


4. Noch einmal zu Syrizas „Regierung der Linken“


Hier hat die Lage in Griechenland eine besondere Dimension. Denn unseres Wissens ist dies das einzige Land, in dem die Regierungsperspektive nicht mehr nur allgemein ist oder nicht in den Bereich der Propaganda gehört. In Griechenland ist die Krise als nationale Krise so zugespitzt, dass die Regierungsfrage konkret gestellt werden kann. Dies ist der einzige Fall in Europa, in dem eine Partei oder ein Bündnis der radikalen Linken ein Wahlergebnis von über 25 % erhält und in dem die Linke über 35 % liegt, was es ihr ermöglichen kann, eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen und folglich die Regierungsfrage zu stellen. Die nächsten Wahlen sind für 2015 vorgesehen, doch geht die Krise so weit, dass vorgezogene Neuwahlen nicht auszuschließen sind.

In diesem Rahmen erhält der Vorschlag einer „Regierung der Linkskräfte“ seine volle Bedeutung. Natürlich gibt es Punkte, auf die es bei der Definition dieser Regierung und ihres Programms ankommt. Über die Fixpunkte wird unter den verschiedenen Strömungen von Syriza diskutiert. Die Formulierungen ändern sich von einer Erklärung zur nächsten. Aber bislang tritt Syriza weiterhin für „eine Regierung der Linkskräfte“ ein, „die in Opposition zu den Memoranden der Austeritätspolitik [2] von Regierung und Troika stehen“. Dieser Vorschlag muss in folgende Richtungen präzisiert werden, was die Syriza-Linke zu tun versucht:

Diese Fragen sind in Syriza umstritten. Bislang bleiben die linksreformistischen Kräfte auf einer Linie gegen die Austerität, was die Bedingungen für ein gemeinsames Handeln sämtlicher Kräfte von Syriza schafft. Ihr Horizont ist aber auf die Linksregierung und die Rückkehr zu den Gleichgewichten der Zeit vor der Krise beschränkt. Eine „Regierung der Linkskräfte“ kann auf der Grundlage eines Wahlsiegs parlamentarisch beginnen, ernsthaft gegen die Austerität kann sie aber nur ankämpfen, indem sie damit beginnt, die Bedingungen für eine neue Macht mit einer radikalen Transformation der Wirtschaft und der Politik zu schaffen. Die Probleme eines antikapitalistischen Bruchs, eines Einreißens der alten staatlichen Institutionen und der Schaffung der Bedingungen für eine neue Macht sind nicht bloß theoretische Fragen. Sie können rasch zu zentralen Fragen werden. Sie bleiben der blinde Fleck bei der Leitung von Syriza. Sie verweisen darauf, dass, abgesehen von Unvorhergesehenem und unerforschten Pfaden, die Strategiedebatte um Reform und Revolution eine bestimmte Funktionalität besitzt.

      
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François Sabado: Internationale antikapitalistische Versammlung in Athen, Inprekorr Nr. 3/2013 (Mai/Juni 2013)
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Leo Trotzki: „Aufbau der neuen Internationale und Einheitsfrontpolitik“, Inprekorr Nr. 440/441 (Juli/August 2008)
Manuel Kellner: Zurück zu den Quellen: Einheitsfront und politische Formierung, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Jakob Moneta: Debatte,Historischer Exkurs über eine Arbeiterregierung, Inprekorr Nr. 337/338 (November/Dezember 1999)
Åge Skovrind: Gibt es jemals einen "guten Haushalt"?, Inprekorr Nr. 305 (März 1997)
 

Über all diese Fragen findet eine Diskussion statt, und das wird weiter der Fall sein. Alle Hypothesen sind offen: die der Fortsetzung der gegenwärtigen Kombination von Parlament und Regierung, aber auch die einer plötzlichen Verschärfung der Krise mit einer Polarisierung zwischen dem faschistischen Vormarsch und/oder einem autoritären Regime unter dem Druck der Militärs auf der einen Seite und einer politischen und sozialen Radikalisierung auf der anderen Seite.

In dieser Situation kann die Leitung von Syriza dem Druck der herrschenden Klassen und der EU nachgeben.

Es kann aber auch eine andere Hypothese aufgestellt werden: ein hartnäckiger Widerstand des griechischen Volks und von Syriza, der zu einer Antiausteritätsregierung führt. Natürlich wird sich solch eine Regierung „im Widerstreit“ zwischen Kräften, die Ausdruck des Drucks der herrschenden Klassen sein werden, und anderen Kräften der Bewegung von unten befinden, die es allerdings in Syriza gibt, in ihrer Linken, aber auch in Teilen der Leitung. Vergessen wir nicht, dass alle politischen Linkskräfte „unter dem Einfluss einer ganz außergewöhnlichen Fügung der Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach […]) weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“ (Trotzki im Übergangsprogramm 1938). Vor allem – und dies macht einen großen Unterschied aus – ist die Verfestigung der Bürokratie in Syriza nicht so stark wie in den Leitungen der kommunistischen Parteien in Europa.

In jedem Fall wird ein Sieg, selbst ein Teilsieg, in Griechenland aus der Kombination einer Radikalisierung und einer konsequenten Antiausteriätspolitik von Syriza hervorgehen. Auch eine Niederlage ist möglich, doch besteht die Rolle der RevolutionärInnen nicht darin, Syriza in der Erwartung eventuellen Verrats von morgen anzuprangern. Im Gegenteil: Sie besteht darin, Syriza gegen die Austeritätspolitik zu unterstützen und alles zu tun, um die antikapitalistische Dimension ihrer Politik zu stärken. Denn, sagen wir es klar: Eine Niederlage von Syriza wäre auch unsere Niederlage.

François Sabado ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale und der Leitung der französischen Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA).

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 3/2013 (Mai/Juni 2013).


[1] Als „sozialliberal“ wird im französischen Sprachraum die neoliberal gewordene Sozialdemokratie bezeichnet – d. Red.
[2] Sparpolitik – d. Red.