Belgien

Dringliche „Nachfrage nach links“

Felipe Van Keirsbilck ist Generalsekretär der belgischen Angestelltengewerksahaft (CNE-CSC). Das Gespräch mit ihm führten Charlotte und Mauro am 3. März 2013.

Ein Gespräch mit Felipe Van Keirsbilck

 La Gauche: Vor fast einem Jahr hat die FGTB Charleroi zur Bildung einer antikapitalistischen Alternative links von PS und Écolo aufgerufen. Du hast dich zu dieser Frage in einem Interview in La Gauche vom November 2012 geäußert. [1] Die Nationale Angestelltenzentrale entsandte daraufhin eine Repräsentantin zu der letzten Versammlung, die in Charleroi zu diesem Aufruf stattgefunden hat. Ist die Notwendigkeit solch einer politischen Alternative heute weiter aktuell? Was bedeutet die Präsenz der Centrale Nationale des Employés (CNE) in diesem Prozess?

Felipe Van Keirsbilck: Die Teilnahme einer Repräsentantin der CNE an der letzten Versammlung spiegelte unser Interesse am Ansatz dieser sich herausbildenden Einheitsgruppierung wieder. Die soziale und politische Gegenwart mit den verheerenden Massenentlassungen und Schließungen bei Arcelor, bei Ford-Genk und vor kurzem bei Caterpillar belegt, wie dringend die „Nachfrage nach links“ ist. Der Aufruf von Daniel Piron und seinen KollegInnen trifft ins Schwarze. Die Nachrichten beweisen einmal mehr, dass die neoliberale Sparpolitik, die in Belgien wie auch anderswo in Europa betrieben wird, Arbeitsplätze zerstört. Wir sind uns dessen bewusst, wie radikal und dringend die Fragen sind, die angesichts der Lage in Europa aufgeworfen werden. Mehr denn je muss jetzt mit den Kompromissspielchen Schluss sein, mit dem lauen Konsens der Parteien des „sozialen Liberalismus“ … Eine Fortführung des Theaterspielens in den politischen Diskussionen wird für die Arbeitenden selbstmörderisch. Es führt zu der Zunahme der Arbeitslosigkeit, den Ausgrenzungen, dem Abbau der öffentlichen Dienste, schlechteren Frührenten und Tarifverträgen usw. Diese Situation verlangt von uns den Mut, dass wir uns klar äußern, damit reale linke Alternativen zustande kommen.

Wie ich im November vorigen Jahres gesagt habe, macht sich die Nachfrage nach einer großen linken Partei bei uns immer dringender bemerkbar. Wir brauchen überzeugende Antworten, und in Belgien ist das Problem der politischen Repräsentation der Interessen der Arbeitenden nach wie vor nicht gelöst.

 Unsere Äußerungen bedeuten nicht notwendigerweise, dass wir unsere Erwartungen in Bezug auf PS und Écolo oder gar dem CDH [2] aufgeben, das ist eine kleine Differenzierung, die ich zu dem Aufruf vom Mai 2012 anmerken möchte. Heute haben 80 % oder 90 % der Bevölkerung einander ähnelnde Interessen bezüglich der zu betreibenden Politik; ich spreche von den ArbeiterInnen, den Angestellten, den leitenden Angestellten, den RentnerInnen, den kleinen Selbständigen, den Arbeitslosen, den Frauen, den Jugendlichen, den MigrantInnen usw. Sie brauchen eine politische Kraft mit einem beträchtlichen Umfang, nicht eine Kraft, die bei den Wahlen 3 oder 4 % bekommt, selbst wenn solch ein Ergebnis gegenüber den Ergebnissen, die die radikale Linke in den letzten 30 Jahren bekommen hat, als etwas Positives gesehen werden mag. Die Gewerkschaften stehen vor der dringenden Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es wieder politische Kräfte gibt, die praktisch, in ihrem Handeln mit der Macht des Finanzsektors, mit den liberalen Ideen bricht, von der die europäische Sozialdemokratie (einschließlich eines Gutteils der PS) völlig durchtränkt ist. Wir brauchen Parteien, die für die Interessen der gesellschaftlichen Mehrheit eintreten. Das ist jetzt ebenso klar wie vor sechs Monaten. Bisher ist noch nichts gelöst, auch wenn ich die Initiative begrüße, die in Charleroi ergriffen worden ist.
 Wie hat das Echo auf den Aufruf der FGTB Charleroi und Sud-Hainaut und auf dein Interview vom November in der CNE und allgemein in der CSC ausgesehen?

Das Echo auf den Aufruf war in der öffentlichen Meinung allgemein eher spärlich, ich habe aber enorm viele positive Mitteilungen von Aktiven der CNE und anderen in der CSC bekommen; deren Echo war wirklich positiv, weil die Nachfrage wegen der Idee, das Problem der politischen Repräsentation zu lösen, sehr stark ist. Die Gewerkschaften müssen etwas leisten, damit eine breite und wirklich linke Partei oder mehrere solche Parteien in Belgien zustande kommen. Das wirft die Frage nach der einzuschlagenden Strategie auf, doch haben die Parteien der radikalen Linken unterschiedliche Strategien, die unter anderem mit ihrer Verankerung zusammenhängen. So hat die PTB beispielsweise noch keine Abgeordneten, aber eine Reihe von Gemeinderatsmitgliedern, während das Mouvement de Gauche wahrscheinlich seinen Regionalabgeordneten behalten möchte.

 Auf der letzten Versammlung in Charleroi ist ein gemeinsames Kommuniqué verfasst worden, in dem die Bildung eines Komitees zur Unterstützung des Aufrufs vom 1. Mai 2012 und die Organisierung einer kämpferischen Versammlung unmittelbar vor dem 1. Mai, an deren Ende eine Erklärung verabschiedet werden soll, angekündigt worden sind. Was meinst du zur Bildung dieses Komitees? Was meinst du dazu, dass alle Gruppierungen der radikalen Linken darin vertreten sind? Wie sieht das Echo in der CNE und der CSC auf diese neue Entwicklung aus?

Zuerst möchte ich einen sehr positiven Punkt unterstreichen, das ist die gemeinsame Front zwischen Bestandteilen der CSC und der FGTB, die sich in dieser Frage abzeichnet, zu Beginn auf örtlicher Ebene, in Charleroi – man muss irgendwo einen Anfang machen. Alle sozialen Siege in Belgien waren Siege, die in gemeinsamer Front erzielt worden sind. Und es ist auch sehr positiv, dass die verschiedenen Organisationen der linken Linken weiter miteinander reden. Ein drittes positives Element: die Idee, eine gemeinsame Erklärung zum 1. Mai zu verabschieden, stellt eine Wiederaneignung der Symbolik des 1. Mai im Verhältnis zur Entwicklung dieses Tages dar, der inzwischen entpolitisiert und fast zur Folklore geworden ist. Die PS und sogar das MR [Mouvement réformateur, Mitte- Rechtspartei] versuchen, ihn zu vereinnahmen. Man könnte davon träumen, ihn zu einem einheitlichen und kämpferischen Fest der Arbeitenden zu machen, wie er das in allen Ländern ist. Geschichtlich hat die CSC diesem Tag nie die Ehre erwiesen, aber die Zeiten ändern sich, und ich freue mich über die Idee dieser gemeinsamen Kundgebung.

Ich habe aber auch zweierlei Anliegen im Zusammenhang mit der Bildung dieses Unterstützungskomitees. Das erste besteht in der Klarstellung, dass unsere Unterstützung nicht parteilich ist und dass wir an dem Komitee nur mitwirken, um unsere Anerkennung der „Nachfrage nach links“ zu verdeutlichen. Es geht nicht um die Unterstützung dieser oder jener Partei in Gegenwart oder Zukunft. Die CNE und die CSC treten für gewerkschaftliche Unabhängigkeit ein, das werden sie weder heute noch morgen aufgeben, und sie können sich weder mit einer politischen Partei noch einer Front von politischen Organisationen wie der, die im Entstehen ist, identifizieren oder darauf beschränken. Die zu wünschende Herausbildung einer einheitlichen linken Front auf der Suche nach Einheit und Kohärenz bedeutet keinen Blankoscheck der CNE. In dem Fall, dass sich eine neue politische Kraft gegen die Austerität konkretisiert, wird das Verhältnis der CNE zu ihr dasselbe sein – mit Erwartungen und unabhängig – wie zu den anderen politischen Organisationen. Wir erwarten von den linken Parteien, von allen linken Parteien, dass ihre Taten den Worten entsprechen, dass sie unter Beweis stellen, dass Linkssein nicht bloß ein Etikett ist, sondern der Inhalt des Gefäßes. Deswegen darf dieses Komitee unserer Meinung nach nicht einen Ansatz verfolgen, bei dem PS und Écolo von vornherein ausgeschlossen werden. Es wäre nicht opportun zu erklären, dass sich die Zukunft der Arbeitenden völlig ohne die Mitglieder von Parteien abspielen wird, die Reste einer Tradition und einer Sozialund Arbeitergeschichte aufweisen. In der PS, bei Écolo und sogar in dem CDH gibt es noch Aktive, die einen linken Standpunkt vertreten, und diese Leute müssen ermutigt statt weit von dem Prozess weggestoßen werden. Das Komitee wird sich entscheiden müssen, ob es einige Parteien unterstützen oder aber einen Einigungsprozess der mutigen und klaren Linken darstellen will.

 In dem Interview mit Daniel Piron, das vor kurzem auf der Webseite von La Gauche erschien [3] und nach der Entscheidung über die Gründung dieses Komitees geführt wurde, hat dieser erklärt, dass es einen Unterschied zwischen Unabhängigkeit der Gewerkschaften und unpolitischer Haltung gibt, da die Gewerkschaften eine politische Verantwortung haben, daher die Notwendigkeit, einem politischen Ansprechpartner zu helfen, von dem es jedoch unabhängig zu bleiben gilt. Teilst Du seinen Standpunkt?

Hundertprozentig einverstanden in Bezug auf die Unmöglichkeit einer „unpolitischen“ Gewerkschaftsbewegung! Das hätte keinerlei Sinn! Deswegen stellt die Mitwirkung am Aufbau eines Komitees, während wir unsere gewerkschaftliche Unabhängigkeit bewahren, den heikelsten Punkt für die politisierten, aber nicht parteipolitischen GewerkschafterInnen dar. Das ist für die Aktiven der CNE eine wichtige Überlegung. Das Bündnis von Organisationen wird sich mit einem programmatischen Inhalt, mit einer Plattform zur Verteidigung der Interessen der Arbeitenden befassen, sich mit den Schulden, der Besteuerung, mit Europa, den Sparmaßnahmen abmühen müssen … In diesem Punkt bin ich völlig einverstanden mit Daniel und wir werden die verschiedenen Parteien nach ihren Inhalten beurteilen, die wirklich links sein müssen. Was zählt, ist der Bruch mit dem Liberalismus. Und dafür wäre es gut, auf die politischen Organisationen zählen zu können, die Abgeordnete haben. Eine Partei, deren Bildung wir unterstützen würden, wird das Eintreten für die Interessen der Arbeitenden im weiten Sinne zum Ausgangspunkt haben. Die CNE wird sich äußern müssen und ihre Beteiligung als Organisation – und nicht im Namen einiger Individuen – näher bestimmen müssen. Um zusammenzufassen, der grundlegende Punkt ist, dass man zu einer programmatischen Grundlage kommt, die in ihrem Inhalt so radikal ist wie die gegenwärtige Situation, die für die Sozialversicherung, die Vollbeschäftigung, die Aufteilung der Arbeitszeit eintritt und die sich in einer Reihe von konkreten Punkten gegen die Austerität stellt. Das einheitliche Unterstützungskomitee, das als Werkzeug dienen wird, um Fragen an die politischen Formationen zu richten, und das zur Herausbildung einer neuen beträchtlichen politischen Kraft auf der Linken beitragen könnte, wird an diese programmatische Basis herangehen müssen.

 Was sind für die CNE die nächsten Schritte? Wie siehst du deine Beteiligung an dem Komitee?

Wir werden in der nächsten Zeit vor allem interne Diskussionen haben, eine Debatte in unseren Gremien, die sich mehr auf die Strategie und die Methoden konzentrieren wird als auf das Ziel an sich, mit dem wir weitgehend einverstanden sind. Dann werden wir uns auf den Aufbau eines breiten Bündnisses der Organisationen, die in CSC und FGTB die gleichen Interessen teilen, im frankophonen Belgien konzentrieren müssen. Und schließlich wird man sich auf den Inhalt und auf die dramatische Lage in Europa heute konzentrieren und ein konkretes Programm zur Bekämpfung der Austeritätspolitik erstellen müssen.

 Mehr oder weniger bedeutende Kämpfe gegen die Austerität und die Entlassungen entwickeln sich fast überall in Europa. Welche Verbindungen zwischen den sozialen Kämpfen und der Herausbildung einer politischen Alternative siehst du?
      
Mehr dazu
Paul Van Pelt: Folgen der Desintegration, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023).
DOSSIER: Politischer Hebel für belgische Gewerkschaften, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
Ligue Communiste Révolutionnaire (Belgien): Eine linke Alternative aufbauen, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
Interview mit Antonio Cocciolo: Die FGTB braucht einen neuen politischen Ansprechpartner, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
 

Die Verbindung zwischen den sozialen Kämpfen und der Frage der politischen Alternative ist natürlich sehr stark und direkt und zudem von großer politischer Aktualität. Die Beschäftigten von Caterpillar wissen, wovon ich spreche … Die Beschäftigten, Rote und Grüne, suchen nach Lösungen und werden im Übrigen am 14. März gegen die in Belgien und Europa aufgezwungene Austerität demonstrieren. Viele Beschäftigte spüren, dass das, was ihnen passiert, mit der Austeritätspolitik verbunden ist. Die Auswirkungen der Austerität und der Krise in Europa werfen bei jeder Betriebsschließung oder Massenentlassung, bei jeder Verschlechterung der Arbeitsbedingungen die Frage nach einer politischen Alternative gegen die Austerität auf. Und man muss aufhören, in dummen Diskussionen darüber, ob man auf nationaler Ebene oder auf europäischer Ebene Politik machen muss, alles durcheinander zu werfen. Die perverse Stärke des europäischen politischen Systems ist, dass die Macht darin unauffindbar wird. Das ist ein Spiegelspiel: Du willst dich mit deiner nationalen Regierung auseinandersetzen, dann heißt es: „die Macht hat Europa“; du willst dich dann an Europa wenden und es heißt: „ach, es sind aber doch die Staaten, die die Entscheidungen treffen“. Man muss die Spiegel zerbrechen, das System als Ganzes begreifen. Die sozialen und politischen Kämpfe sind letztlich unauflöslich miteinander verwoben und die Verstärkung der sozialen Widerstände kann für die Herausbildung großer neuer politischer Linkskräfte, eines Linksblocks gegen die Austerität nur nützlich sein.

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] http://tinyurl.com/l67gn4j

[2] Das Centre démocrate humaniste (CDH), bis 2002 Parti Social Chrétien (die 1968 durch die Trennung der frankophonen und der flämischen Flügel von PSC/CVP in unabhängige Parteien entstanden war), beruft sich auf die Ideen des „Personalismus“ von Emmanuel Mounier. Zurzeit ist das CDH an der belgischen Regierung auf föderaler Ebene, der Regierung der wallonischen Region, der Regierung der frankophonen Gemeinschaft sowie der Regierung der Region Brüssel- Hauptstadt beteiligt.

[3] http://tinyurl.com/mw724ch