Belgiens gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist einer der höchsten weltweit: 55 % aller Arbeiter*innen sind Gewerkschaftsmitglieder. Dieser Organisationsgrad nimmt auch nicht ab. Ganz im Gegenteil, er steigt weiter leicht an und das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit in Gewerkschaften hält sich auf einem sehr hohen Niveau (+75 %).
Paul Van Pelt
Die belgische Wirtschaft, und damit die Arbeiterklasse Belgiens, war lange durch eine ungleiche Entwicklung der kapitalistischen Industrie geprägt, die zu starken Unterschieden in den Regionen führte. In der Vergangenheit war es dadurch für die Gewerkschaftsapparate schwierig, die lokalen Strukturen zu kontrollieren. Deswegen konnten sich in der Vergangenheit lokal – d. h. in einer oder nur wenigen Regionen – viele Kämpfe spontan entfalten.
Bei einigen dieser Kämpfe gelang es allerdings, sie von der eigenen Region auf andere Regionen auszudehnen. So zum Beispiel im Jahr 1936: Ein spontaner Streik im flämischen Antwerpen (ausgelöst durch die Ermordung militanter Arbeiter durch Faschisten) griff auf das Borinage (ehem. Kohlerevier um Mons, „Kumpelland“, Wikipedia [A. d. Red.]) in Wallonien über und weitete sich zu großen Streiks aus, durch die ein „bezahlter Urlaub“ durchgesetzt wurde. Dasselbe Muster wiederholte sich im Jahr 1960: Ein Streik des Personals der Kommunalverwaltung, der sich gegen das berüchtigte Vereinigungsgesetz mit seinen damit verbundenen zahlreichen Sparmaßnahmen richtete, griff auf Brüssel, Liège, Charleroi und andere Orte über, was zu dem sechswöchigen „Generalstreik des Jahrhunderts“ führte. In beiden Fällen riss die Dynamik des Streiks den zögerlichen Gewerkschaftsapparat mit.
Der Transmissionsriemen, durch den die Streiks von einer Region auf eine andere übergriffen, war die Eisenbahn. Denn die Eisenbahn sorgt nicht nur für Verkehrsverbindungen zwischen Regionen, sondern ist auch Teil des umfangreichen Öffentlichen Dienstes in Belgien. Wenn die Eisenbahner (die in Belgien verbeamtet sind) die Arbeit niederlegen, hat das zwei Auswirkungen: a) Sie stellen Beamte in anderen Teilen des öffentlichen Dienstes vor die Wahl, Solidarität zu zeigen und sich der Aktion anzuschließen oder nicht; b) Da die Eisenbahner den Staat (also die Regierung!) als Dienstherrn haben, verleiht das ihrer Aktion sofort einen de facto politischen Charakter. Wenn sich Beamte von anderen Teilen des Staatsapparates der Aktion anschließen (was in der Vergangenheit häufig der Fall war), stärkt das die politische Dynamik der Streikaktion noch weiter.
Diese dialektische Beziehung zwischen den Regionen, zwischen den verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse im Allgemeinen und vor allem zwischen den Beamten in den verschiedenen Teilen des Staatsapparates – mit den Eisenbahnen als verbindendem Element – erklärt zumindest teilweise, warum die belgische Arbeiterbewegung (wie Rosa Luxemburg es ausdrückte) „Belgisch spricht“ und mit ihrer Aktionsweise daher wiederholt eine Dynamik in Richtung politischem Generalstreik an den Tag legte.
Unter anderem sorgte die Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunkts – von der Schwerindustrie Walloniens hin zur moderneren flämischen Industrie und zu Brüssel als administrativem Zentrum – dafür, dass sich der belgische Staat nach dem Zweiten Weltkrieg von einer die Landesteile betreffenden Staatsreform zur nächsten immer weiterentwickelte. Neben signifikanten politischen Konsequenzen hatten diese sukzessiven Staatsreformen (in Verbindung auch mit der durch die EU vorangetriebene Liberalisierung der öffentlichen Dienste) besonders starke Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst Belgiens. Ab 1937 hatten alle öffentlich Bediensteten (von Kommunen, Provinzen, Zentralstaat, Eisenbahnen, Telekommunikation, Bildungswesen, Post usw.) zunächst ein und dasselbe Statut. Das ist jedoch schon länger nicht mehr der Fall und führte zu einer immer stärkeren Zersplitterung.
Dieser Zersplitterungseffekt führte auch dazu, dass die Eisenbahner*innen sich immer mehr auf sich selbst zurückzogen und eigene, strikt unternehmensspezifische Forderungen stellten, deren ideologische Auswirkungen sich nicht nur in diesen Forderungen zeigte, sondern auch darin, dass sich die Eisenbahner*innen in kleinere Berufs- oder kategoriale „Gewerkschaften“ aufteilten. Die Auswirkungen waren auch bei den Streikaktionen deutlich zu spüren. Das Ganze (befeuert zum guten Teil durch die bürgerlichen Massenmedien) führte letztendlich dazu, dass die Öffentlichkeit bezüglich der Bahnstreiks eine immer stärker ablehnende Haltung entwickelt. Das Phänomen korporatistischer Organisationen gibt es im Übrigen nicht nur bei der Eisenbahn, sondern ist auch in anderen Sektoren zu beobachten.
All diese Phänomene zusammen führen immer mehr zu einer Isolierung des „Transmissionsriemens“ Eisenbahn, weg von anderen Teilen des öffentlichen Dienstes. Allerdings isolieren sich auch genau diese anderen Teile des öffentlichen Dienstes immer mehr sowohl untereinander als auch gegenüber dem privaten Sektor. Das hat zur Folge, dass die spontane Tendenz lokal entstandener Kampfbewegungen, sich zu politischen Generalstreiks entwickeln zu können, ausgehöhlt wird, ein Phänomen, das durch die Effekte der Coronakrise noch verstärkt zu werden droht. Einer dieser Effekte, der dazu führt, dass immer mehr Arbeit aus der Distanz (per Telearbeit) erledigt wird, unterminiert den Zusammenhalt eines großen Teils (mehr als 45 %!) der Arbeitenden als soziale Klasse.
Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, dass 50 Jahre ununterbrochener totaler oder teilweiser Niederlagen das Klassenbewusstsein der belgischen Arbeiterklasse stark erodiert haben. Die nationalen Demonstrationen in Brüssel (bekannt als „Märsche von Nord nach Süd“), die immer mehr als sinnlos angesehen werden, die ständigen Vor-und-zurück-Aktionen, die zunehmende Perspektivlosigkeit der Gewerkschaftsaktionen, sie alle sorgen paradoxerweise dafür, dass sich die Unzufriedenheit nicht etwa in selbstbewussten Aktionen ausdrückt, sondern politisch, in der Vereinzelung in der Wahlkabine: In Wallonien und Brüssel (und zum Teil auch in Flandern) geschieht dies durch die Wahl der PTB/PVDA, die aus dem Mao-Stalinismus hervorging, in Flandern hingegen hauptsächlich durch die Wahl der faschistischen/rassistischen Partei „Vlaams Belang“.
Genau genommen sind sich die traditionellen Apparate auf ideologischer Ebene einig in ihrer systematischen Wahl des „sozialen Dialogs“, der Klassenzusammenarbeit und der generellen Orientierung auf (individuelle) Dienstleistungen. Diesbezüglich gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Konzepten von sozialistischer FGTB [Fédération générale du travail de Belgique], christlicher CSC [Conféderation des syndicats chrétiens] oder liberaler CGSLB [Centrale générale des syndicats libéraux de Belgique]. Diese ideologische Wahl verstärkt auch die internen korporatistischen Tendenzen innerhalb der verschiedenen Komponenten (Zentralen) der diversen Gewerkschaftsverbände. Nicht verschwiegen werden sollte jedoch, dass vor allem der ideologische (sozialistische) Hintergrund der FGTB immer unbedeutender wird – ihm wird kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Organisatorisch sind die traditionellen Organisationen noch immer durch tiefe „philosophische“ [politisch-ideologische] Gräben getrennt, sie grenzen christliche, sozialdemokratische und (seit einiger Zeit) liberale Organisationen voneinander ab. (Letztere Organisationen bekommen dabei immer mehr Zuspruch, was gerade die zunehmende Individualisierung vor allem junger Menschen widerspiegelt). Neben diesen „philosophischen“ Unterschieden müssen innerhalb jeder einzelnen dieser Organisationen zudem noch die kommunitarischen Unterschiede zwischen den Bewohnern von Brüssel, Flandern und Wallonien berücksichtigt werden, die die alten regionalistischen Traditionen weiter festigen.
Bemerkenswert ist auch, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei Frauen, jungen Leuten und Menschen mit Migrationshintergrund deutlich niedriger ist. Dies kann durch eine interne „Kultur“ innerhalb der Gewerkschaftsbewegung erklärt werden, die immer noch charakterisiert wird durch a) Formen des patriarchalischen „weißen“ Machismus, b) ein zu hierarchisches, pyramidenförmiges, von oben nach unten funktionierendes (bürokratisches) Organisationsmodell und c) ein (bewusst oder unbewusst) fehlendes Verständnis für den Umgang mit kulturellen Unterschieden, wie z. B. dem Tragen eines Kopftuchs bei muslimischen Frauen.
Diese negative „Kultur“ verstärkt zudem den in diversen anderen sozialen Bewegungen (Feminist*innen, Black Lives Matter, Kultur ...) sowie bei linksgerichteten Intellektuellen latent vorhandenen Widerstand gegen die Gewerkschaftsbewegung. Es ist daher wichtig, (wo immer möglich) dieser „Kultur“ entgegenzutreten, indem man sie, neben dem Problem der internen Demokratisierung, mit der Logik des „Intersektionalismus“ konfrontiert. Anders ausgedrückt sollte das Ziel sein, das Sammelbecken oder sogar der Schmelztiegel für alle möglichen Kämpfe, ganz gleich welchen Ursprungs, innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaftsbewegung, zu werden. Jeder noch so kleine Fortschritt an dieser Front kann zur Entwicklung einer positiven, politisierenden Dynamik führen, sowohl innerhalb der Gewerkschaftsbewegung als auch gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen. Es handelt sich dabei also nicht nur um einen „praktischen“ Gedanken (um den Kampf voranzubringen), sondern auch um ein Mittel, das Klassenbewusstsein aufzubauen bzw. zu schärfen.
Um die negativen Gegebenheiten zu bekämpfen, muss die Führung der Arbeiterklasse selbst ein hohes Maß an Problembewusstsein und -verständnis entwickeln. Das würde es ihr ermöglichen, die zuvor genannten Schwierigkeiten zu überwinden, und zwar nicht mehr auf der Grundlage spontaner Dynamiken, sondern auf der Basis einer bewussten Politik, die dem Gewerkschaftskampf eine klare Richtung gibt. Nur leider sind die traditionellen (Gewerkschafts-)Apparate ganz allgemein nicht gerade willens, dies zu tun. Aus diesem Grund muss eine alternative Führung direkt im Herzen der belgischen Gewerkschaftsbewegung aufgebaut werden, die eine bewusste Führungsrolle übernehmen kann, mit einer ideologisch fundierten, auf einen Systemwechsel abzielende Perspektive. Dies kann einerseits durch das Einbringen konkreter und zweckmäßiger Losungen geschehen, aber auch durch den Versuch, verschiedene Kerne der potenziellen Gewerkschaftslinken miteinander zu verbinden und zu vernetzen. Unglücklicherweise muss jedoch gesagt werden, dass es heute sehr wenige Ansatz- oder Ausgangspunkte für die Entwicklung solch einer breiten Gewerkschaftslinken gibt.
Mit Nachdruck muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Suche nach solchen Ansatzpunkten für die Wiederherstellung solch einer Gewerkschaft auf keinen Fall in Simplizismen abgleiten darf. Es stimmt nicht, dass „die Basis“ immer Recht hat und die „da oben“ immer falsch liegen. Die Sache ist sehr viel komplizierter. Die Krise der Beziehungen hat destabilisierende Auswirkungen auch in den traditionellen Gewerkschaftsapparaten. Auch dort stellen Leute immer mehr Fragen. Im Zentrum steht dabei die Überzeugung, dass die Gewerkschaftsbewegung – wenn es ihr gelingen soll, 50 Jahre neoliberalen Versagens zurückzudrehen – neue Kräfteverhältnisse aufbauen muss, und zwar nicht nur auf der betrieblichen Ebene, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. Dafür bedarf es einer Zusammenarbeit mit anderen sozialen Kräften wie Selbstorganisationen, Freiwilligenverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch politischen Aktivist*innen.
Ein flämischer Gewerkschaftsführer zum Beispiel erklärt dies so: „Kräfteverhältnisse und die Erlangung von Macht sind entscheidend, um Forderungen durchzusetzen, das ist ganz klar. Die Gewerkschaftsbewegung kann und muss dabei eine entscheidende und strukturierende Rolle spielen, nicht allein, aber zusammen mit anderen fortschrittlichen Kräften der Zivilgesellschaft. Nicht autoritär und hochmütig, sondern mit Respekt für die Meinungen und Arbeitsweisen eines jeden Einzelnen. All das muss jedoch um ein klares und begrenztes Forderungsprogramm herum geschehen, das von einem Systemwechsel ausgeht, eine Strukturreform, die das am meisten Gefährdete in den Mittelpunkt stellt.“
Von ihren Inhalten her sind solche Teile des traditionellen Gewerkschaftsapparats auf dem richtigen Weg, wenn sie direkt Forderungen für Mindestrenten aufstellen, für Mindestlöhne, faire Besteuerung mit einer echten Reichensteuer, Stärkung der Kaufkraft, soziale Sicherheit und öffentliche Dienstleistungen, Armutsbekämpfung und (sehr wichtig!) für den Kampf gegen die extreme Rechte. Besonders wichtig sind daher die demokratischen Forderungen wie die Verteidigung des Streikrechts (angesichts solcher Attacken wie „Mindestsicherung von Dienstleistungen“ in diversen öffentlichen Dienststellen und Unternehmen, Verurteilung von Gewerkschaftsaktivist*innen durch Gerichte u.a.m.), der gewerkschaftlichen Freiheiten (z. B. die Blockade von Industriegebieten während eines Streiks) und des Kampfes gegen Rassismus und gegen den Aufstieg der extremen Rechten. Antirassismus und Antifaschismus können es (vor allem in Flandern) Einheitsinitiativen, die von außerhalb oder von den Rändern der Gewerkschaftsbewegung her entstehen, ermöglichen, auf das interne Leben genau dieser Gewerkschaftsbewegung Druck auszuüben.
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Einer Verbreiterung der Struktur der Gewerkschaftslinken stehen leider auch politische Hindernisse im Weg. In der Vergangenheit übernahm z. B. die aus dem Mao-Stalinismus hervorgegangene PVDA/PBT die Initiative für eine „Bewegung zur Gewerkschaftserneuerung“. Damals ging sie dies mit ihrer wohlbekannten (sektiererischen) Formel „die Partei führt die Front“ an. Das Ergebnis: Als Erstes gab es eine direkte Konfrontation mit dem gesamten Gewerkschaftsapparat (die PVDA/PBT half so z. B. unfreiwillig mit, die Gewerkschaftsbürokratie zu vereinheitlichen, statt die Gräben innerhalb dieser Bürokratie auszunutzen). Als Zweites blieben dadurch zahlreiche potenziell interessierte Aktivist*innen auf Distanz. Das Ganze erwies sich dadurch letztendlich als totaler Fehlschlag. Seither folgte die PVDA/PTB einer anderen Logik, die zum Einen darin bestand, in den Gewerkschaftsapparat (kritiklos) einzusteigen, und zum Anderen die PVDA/PTB als zusätzliches „Verbindungsglied zur politischen Ebene“ (neben Sozial- und Christ-Demokratie) für den gesamten Gewerkschaftsapparat bekanntzumachen. Die Wahlerfolge der PVDA/PTB erleichtern Letzteres und verstärken damit diesen Ansatz. Gleichzeitig behindert die PVDA/PTB damit ihre eigenen Gewerkschaftsaktivist*innen und deren oppositionelle Tendenzen gegenüber dem Gewerkschaftsapparat. Die PVDA/PTB agiert somit als Bremsklotz bei der Entwicklung einer breiteren Gewerkschaftslinken.
Für revolutionäre Marxist*innen ergibt sich daraus, dass die „spontanen Rebellionen“ verknüpft werden müssen mit Öffnungen, die durch linke Flügel innerhalb des traditionellen Gewerkschaftsapparats gemacht werden (oder gemacht werden können). Das ist jedoch nicht einfach. Als Aktivist*innen müssen wir beweisen, dass wir das Vertrauen und die Anerkennung sowohl des „spontanen Aufstandes“ als auch der linken Teile der Gewerkschaftsführung verdienen, trotz der heftigen und strategischen Meinungsverschiedenheiten, die wir weiterhin mit beiden haben (!). Denn strategisch betrachtet geben sich diese linken Teile des traditionellen Gewerkschaftsapparats noch immer großen Illusionen hin, was die „reformistischen“ Möglichkeiten innerhalb des „belgischen“ Systems angeht. Zudem wird bei vielversprechenden Kämpfen auf branchenspezifischer Ebene oftmals die Chance, hier eine breitere Solidarität zu erreichen, nicht ergriffen. Es liegt an den revolutionären Marxist*innen, dies zu ändern!
Übersetzung: A. H. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz