Belgien

Die FGTB braucht einen neuen politischen Ansprechpartner

Das folgende Interview mit Antonio Cocciolo, dem Vorsitzenden der Föderation Hainaut-Namur der Metallarbeiter, hat Guy Van Sinoy am 28. Februar 2013 geführt.

Interview mit Antonio Cocciolo

 La Gauche: Am 1. Mai 2012 hat die FGTB von Charleroi und Sud-Hainaut die kleinen Parteien links von PS und Écolo dazu aufgerufen, sich zusammenzutun und eine linke politische Kraft zu bilden, die dazu in der Lage ist, die Forderungen der Gewerkschaften aufzugreifen, die jetzt gegen die von der Europäischen Union veranlasste und in Belgien von der Regierung Di Rupo betriebene Austeritätspolitik ankämpfen.
 Dieser Aufruf ist nicht ohne Echo geblieben, denn es hat Treffen zwischen diesen politischen Organisationen (Parti du Travail de Belgique, Parti Communiste, Mouvement de Gauche, Parti Socialiste de Lutte, Front de Gauche de Charleroi, Ligue Communiste Révolutionnaire, Ligue Communiste des Travailleurs, Parti Humaniste) und Leitungsmitgliedern verschiedener Verbände der FGTB Charleroi und Sud-Hainaut sowie der CNE (CSC) gegeben. Bei diesen Treffen hast du den Standpunkt geäußert, der soziale Rückschritt, von dem die Arbeitswelt jetzt betroffen ist, ziele auch darauf ab, die Gewerkschaftsbewegung zu schwächen bzw. zu zerstören. Kannst Du näher auf Deine Meinung eingehen?

Antonio Cocciolo: Man kann die Feststellung treffen, dass die Aggressivität des Wirtschaftssystems, in dem wir leben, und die neoliberale Politik des Abbaus der sozialen Errungenschaften noch nie so heftig gewesen sind wie in den letzten Jahren. Auf europäischer Ebene hat die bekannte Verordnung Monti II [1] darauf abgezielt, den Gewerkschaftsverbänden einen Maulkorb zu verpassen, denn die EU-Führung weiß, dass die Gewerkschaften dazu in der Lage sind, sozialen Widerstand zu organisieren. In Belgien sind seit ein paar Jahren immer öfter politische Erklärungen von der Rechten zu vernehmen, insbesondere zu dem Thema, die Gewerkschaftsverbände müssten juristische Personen werden, sie sollten nicht mehr das Arbeitslosengeld auszahlen. Und bei den Verhandlungen über die branchenübergreifende Vereinbarung, die vor kurzem stattgefunden haben, ist zu spüren gewesen, dass die Unternehmer ganz allgemein den Gewerkschaften die Möglichkeit nehmen wollen, über die Kaufkraft und das Wohlergehen der Beschäftigten zu verhandeln. Bei der Rechten ist ein heimtückischer Wille zu spüren, den Gewerkschaftsverbänden einen Maulkorb zu verpassen, den einzigen Massenbewegungen, die dazu in der Lage sind, sozialen Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik der Rechten zu organisieren.

 Am 6. Februar hat die FGTB den Tisch der Konzertierung der Gruppe der 10 verlassen, vor allem weil die Regierung die ersten Errungenschaften nicht umsetzen wollte (Verknüpfung der Sozialleistungen mit dem Wohlergehen, Mindestlohn) und weil die Unternehmer das an eine erneute Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung und mehr Flexibilität binden wollten. Am 21. Februar sind mehr als 40 000 DemonstrantInnen durch die Straßen von Brüssel gezogen, eine gemeinsame Aktivität der Gewerkschaften, um vor allem das Einfrieren der Löhne, die Manipulation des Indexes, die Verlängerung der Arbeitszeit und die Jagd auf die Arbeitslosen anzuprangern. Jetzt kehrt die FGTB an den Verhandlungstisch zurück, ohne dass sich etwas Grundlegendes verändert hätte, und zur gleichen Zeit gibt die CNE ein Kommuniqué heraus, in dem zur Ausweitung der Aktionen und zur Vorbereitung eines Generalstreiks am 14. März aufgerufen wird. Viele aktive Mitglieder der FGTB, die am 21. Februar auf der Straße waren, stellen sich Fragen zu der Strategie der Leitung ihrer Organisation. Was soll das?

Ich stelle mir die gleichen Fragen wie diese Mitglieder, die am 21. auf der Straße waren. Ich verstehe nicht, warum jetzt, bei dem in der Aktion hergestellten Kräfteverhältnis, die FGTB auf föderaler Ebene zu zögern scheint, bei der Mobilisierung zuzulegen. Ich denke, wenn es gelungen ist, 40 000 Mitglieder auf die Straße zu bringen und von Seiten der Unternehmer und der Regierungen nichts Neues da ist, das Fortschritte bei den Verhandlungen erwarten ließe, haben wir großes Interesse, in Bezug auf das Kräfteverhältnis zuzulegen und etwas anderes als eine landesweite Demonstration anzugehen. Konkret, in der heutigen Situation, geht es um einen 24-stündigen, branchenübergreifenden Streik.

 Bei einer Versammlung, die neulich stattgefunden hat, hast du auf Griechenland als Beispiel dafür hingewiesen, dass eine politische Repräsentation der Kämpfe unabdingbar ist. Kannst du näher darauf eingehen?

Bei dieser Diskussion schien es mir wichtig, die Situation in Griechenland zu analysieren und zu versuchen, das Verhalten der griechischen Gewerkschaftsverbände zu verstehen. Dieses Land ist für die europäischen Rechtsparteien, die testen wollen, wie weit die Beschäftigten und ihre Gewerkschaftsverbände zu gehen imstande sind, ein wahres Laboratorium. Es ist festzustellen, dass Griechenland jetzt quasi bei seinem 37. branchenübergreifenden Streiktag steht, der von fast allen Gewerkschaftsverbänden organisiert wird. Und obwohl die Menschen massiv auf der Straße sind, trotz der Lahmlegung oder Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten, trotz des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses ist keine Änderung des politischen Kurses zu erreichen.

 

Pressemitteilung

Am 1. Mai 2012 hat die FGTB Charleroi und Sud-Hainaut die Austerität und das Fehlen eines Ansprechpartners für die Forderungen der Arbeitswelt verurteilt. In seiner Rede hat der Regionalsekretär Daniel Piron zu einer politischen Sammlungsbewegung links von PS und Écolo aufgerufen, mit der die Arbeitenden Hoffnung und Würde zurückerhalten.

Einige Wochen danach hat sich der Generalsekretär der CNE Felipe Van Keirsbilck im gleichen Sinn geäußert. Mehrere führende GewerkschafterInnen taten das gleiche.

Auf einem Treffen, das am 20. Februar 2013 auf Initiative der FGTB Charleroi und Sud-Hainaut in Anwesenheit einer Repräsentantin der CNE stattfand, haben führende Mitglieder von PTB, LCT, MG, PH, Front de Gauche von Charleroi, PSL, PC und LCR beschlossen, sich verantwortlich zu zeigen und auf diese verschiedenen Aufrufe zu antworten: „Wir sind dabei“.

In der Hoffnung, dass immer mehr Kräfte aus Gewerkschaften, der Gesellschaft und von Verbänden sie unterstützen und auf diesem Weg Orientierungen geben werden, beschließen diese RepräsentantInnen die Gründung eines Unterstützungskomitees, um damit zu beginnen, die Erwartungen konkret werden zu lassen. Sie wollen dies mit all denen, die es wünschen, gemeinsam tun, ohne Ausgrenzungen, mit Pluralismus und breitester Demokratie.

Als erste Etappe und in Abstimmung mit den gewerkschaftlichen Kräften, die sich an sie gewandt haben, rufen sie zu einem Diskussions- und Kampftag Ende April auf. Im Laufe dieses Tages werden sie eine gemeinsame Erklärung vorschlagen und verabschieden.

Alle gemeinsam gegen Austerität, Elend und Ungerechtigkeit! Für eine linke Alternative zur kapitalistischen Krise!

Charleroi, den 20. Februar 2013

Als führender Gewerkschafter bin ich gezwungen, so etwas zu analysieren. Ich denke, wir benötigen heute noch mehr politische Organisationen, die den Arbeitenden nahe sind, der Bevölkerung sehr nahe sind, die dazu fähig sind zu mobilisieren. Auf dieser Ebene ist der Ansatz, den die FGTB Charleroi und Sud-Hainaut am 1. Mai 2012 vertreten hat, das Ergebnis einer Analyse und Reflexion, nämlich der folgenden: Ein politischer Ansprechpartner ist notwendig, ein politischer Transmissionsriemen, um zur Mobilisierung und zur Fähigkeit der Gewerkschaftsverbände beizutragen, die Demontage der sozialen Errungenschaften aufzuhalten. Ja zur Gewerkschaftsorganisation! Ja zu einer Stärkung der kämpferischen Gewerkschaftsbewegung! Aber auf der anderen Seite ist auch eine politische, eine gesetzgeberische Stimme notwendig, die den politischen Kampf in den demokratischen Institutionen unter Berücksichtigung der Bestrebungen der arbeitenden Bevölkerung führen kann und die ein Stück Weg gemeinsam mit den Gewerkschaftsverbänden gehen kann.

 Bis jetzt ist der Aufruf der FGTB Charleroi und Sud-Hainaut auf Gremienebene relativ isoliert geblieben, auch wenn er an der Basis ein gewisses Interesse ausgelöst hat. In der CSC haben führende Mitglieder einer Gewerkschaftszentrale, der CNE, für eine neue Linkspartei Stellung bezogen. In der FGTB haben die Zentralen [Branchenverbände] mehr Gewicht als die Regionalstrukturen. Meinst du, jetzt könnten eine Zentrale oder mehrere den Aufruf vom 1. Mai 2012 ausdrücklich unterstützen?

Ich hoffe, dass sich in den nächsten Monaten oder Jahren eine Zentrale auf diesen Weg begibt. Innerhalb der Metallarbeiterzentrale, der MWB [Métallurgistes Wallonie Bruxelles], haben wir seit einiger Zeit eine Debatte über die Bereitschaft, zur Bildung einer neuen politischen Kraft links von PS und Écolo beizutragen. Ich denke, die MWB als Organisation ist noch nicht bereit, offiziell solch eine Erklärung abzugeben, aber wir sind davon nicht weit weg. Auf der anderen Seite finden wir in der gesamten FGTB recht viel Gehör, allerdings keine Unterstützung.

 In der FGTB haben die Zentralen mehr Gewicht als die Regionalstrukturen. Die Zentralen arbeiten die Forderungskataloge aus, die Zentralen nehmen an den Verhandlungen über Verträge von Sektoren, Untersektoren und Betrieben teil. All dies findet im Rahmen einer sozialen Konzertierung statt, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet worden ist. Wenn wir aber jetzt feststellen, dass auf der einen Seite die Verhandlungen ihres Inhalts entleert werden, vor allem mit der Gehaltsnorm, und auf der anderen Seite die großen sozialen Fortschritte der Beschäftigten in diesem Land (Achtstundentag, Stimmrecht, Sozialversicherung) auf branchenübergreifender Ebene erkämpft worden sind, meinst du nicht, wir bewegen uns auf eine Verstärkung des Gewichts der branchenübergreifenden Strukturen in Bezug auf Forderungen hin?

Was deine Frage angeht, so hoffe ich das auf alle Fälle. Ich habe immer eine branchenübergreifende Sicht des gewerkschaftlichen Handelns gehabt. Und wenn du die Erklärung vom 1. Mai 2012 anschaust: Die kommt ja von dem branchenübergreifenden Gremium, mit Zustimmung der Vorsitzenden aller Zentralen in Charleroi. Ich denke, die Zukunft der Gewerkschaftsorganisation liegt auf branchenübergreifender Ebene. Und wenn man jetzt gelegentlich den Eindruck hat, man sei ein wenig isoliert, was die Botschaft vom 1. Mai 2012 betrifft, so ist doch festzustellen, dass innerhalb der FGTB recht viele Diskussionen stattfinden. Aber der Gewerkschaftsaktivist, der seit 30 oder 35 Jahren den sozialdemokratischen Parteien Vertrauen geschenkt hat, lässt sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Die Krise wird dafür sorgen, dass die Masken fallen. Was uns betrifft, so stehen wir an vorderster Front. Wir sind eine Avantgarde, und wir haben die Rolle der sozialdemokratischen Parteien in den schwierigen Momenten gut begriffen. Ich denke aber, viele Beschäftigte und AktivistInnen sind noch nicht davon überzeugt, dass eine politische Alternative nötig ist. Ich sage das, weil ich merke, dass in meinem eigenen Gewerkschaftsverband, der FGTB, nicht wenige AktivistInnen noch in der PS bzw. Écolo sind. Aber in den letzten Jahren nimmt die Enttäuschung bzw. das Misstrauen gegenüber diesen beiden Parteien zu und die Basis schenkt der Stellungnahme unserer regionalen FGTB viel Aufmerksamkeit.

 Gibt es innerhalb der Organisationen der radikalen Linken eine gewisse Zurückhaltung bzw. einen Konservatismus in Bezug auf den Aufruf vom 1. Mai?
      
Mehr dazu
Paul Van Pelt: Folgen der Desintegration, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023).
DOSSIER: Politischer Hebel für belgische Gewerkschaften, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
Ligue Communiste Révolutionnaire (Belgien): Eine linke Alternative aufbauen, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
Ein Gespräch mit Felipe Van Keirsbilck: Dringliche „Nachfrage nach links“, Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013).
 

Vor den zwei oder drei Treffen, die wir in den letzten Wochen gehabt haben, war ich besorgt. Ich bin allerdings durch den Willen aller Repräsentanten der eingeladenen politischen Parteien und durch ihre Einstellung, mit der FGTB von Charleroi zusammenzugehen und dabei Diskussionen der Vergangenheit zu vergessen, die in der gegenwärtigen Situation Hürden darstellen können, angenehm überrascht worden. Ich war sehr zufrieden wegen der Bereitschaft von allen, im Rahmen des Ansatzes der FGTB Charleroi eine Lösung zu finden. Ich glaube, dass die tiefe Krise, in der wir stecken, zu einem neuen Nachdenken zwingt und die linken Parteien im Zusammenhang mit einer arbeitenden Bevölkerung, die von der Regierung rundherum angegriffen wird, vor Verantwortungen stellt. Es ist noch zu früh, um mit Sicherheit zu sagen, dass diese Bereitschaft konkrete Gestalt annehmen wird. Aber wie dem auch sei, die FGTB Charleroi wird fortfahren, den ideologischen, gewerkschaftlichen und politischen Kampf auf allen Ebenen und an allen Orten, wo es uns möglich ist, zu führen.

Ich bin ziemlich stolz darauf, dass die Vorsitzenden der Zentralen von Charleroi diesen Aufruf gemacht haben, nicht weil sie das intern beschlossen haben, sondern weil das in branchenübergreifenden Versammlungen, in den Betrieben und bei den Arbeitenden diskutiert worden ist; da gibt es seit Jahren die Frage, dass man eine politische Partei haben müsste, die mit der Arbeitswelt verbunden und dazu imstande ist, für ihre Interessen einzutreten. All dies ist übrigens auf dem letzten Kongress der FGTB Charleroi und Sud-Hainaut in Form einer Resolution aufgeschrieben worden. Die Geschichte hat gezeigt, dass es im Allgemeinen die Arbeitenden und die Basis sind, die die Dinge in Bewegung setzen.

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2013 (Juli/August 2013). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Im März 2012 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine Verordnung vor, die „Monti II“ genannt wurde und deren Ziel es war, das Streikrecht unter dem Vorwand, dass das „Streikrecht sich den wirtschaftlichen Freiheiten beugen“ müsse, zu beschneiden. Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach Urteile in diesem Sinne gefällt. Er hat insbesondere die schwedischen Gewerkschaften verurteilt, die gegen ein Unternehmen (Laval) aktiv geworden waren, das lettische Bauarbeiter einstellen wollte und ihnen niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen anbot. Er hat auch die internationale Transportarbeitergewerkschaft wegen Aktionen gegen Umflaggung verurteilt (auf einem finnischen Schiff sollte estnisches Personal mit niedrigerer Bezahlung und schlechteren Arbeitsbedingungen eingestellt werden). In beiden Fällen mussten die Gewerkschaften kolossale Beträge bezahlen. Im September 2012 musste die Europäische Kommission den Entwurf für „Monti II“ jedoch zurückziehen, nachdem er bei den Gewerkschaften auf lebhafte Ablehnung gestoßen war, vor allem seitens des Europäischen Gewerkschaftsbunds.