Europa

Der Faschismus des 21. Jahrhunderts

Die Krise der EU fördert den Aufschwung rechtspopulistischer und rassistischer Parteien.

Jean Batou

Bei den Wahlen zum Europaparlament vom 25. Mai des Jahres erzielten europafeindliche und rassistische Parteien, die von extrem rechten Strömungen befeuert werden, bedeutende Erfolge. Am stärksten schnitten die britische Unabhängigkeitspartei (UKIP) mit 27,5 %, die dänische Volkspartei mit 26,7 %, die französische Front National mit 24,9 % und die österreichischen Freiheitlichen mit 19,7 % ab. Dazu kommt der jüngste Erfolg der schwedischen Demokraten (9,7 %) und der Alternative für Deutschland (7 %). Die Führung der italienischen Bewegung Cinque Stelle um Beppe Grillo (21,1 %) zeigt auch gewisse Affinitäten zu einzelnen dieser Strömungen.

Die offen faschistischen Parteien der europäischen Peripherie wie Jobbik in Ungarn (14,7 %) oder Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) in Griechenland (9,4 %) sind ein wenig anders gelagert. Zudem ist zu beachten, dass trotz der durch russische Propaganda verbreiteten und in der westlichen Presse aufgegriffenen Übertreibungen die beiden extrem rechten Präsidentschaftskandidaten in der Ukraine zusammen nur 2,3 % der Stimmen erzielten.


Immigrationsfeindliche Parteien


Wo liegt der gemeinsame Nenner dieser Parteien? Allen voran darin, dass sie die Immigration als Hauptursache für den explosionsartigen Zuwachs der Arbeitslosigkeit, der Sozialausgaben und der „Unsicherheit“ bezeichnen. Weiter stellen sie die Personenfreizügigkeit in der EU infrage, weshalb sie in schöner Einhelligkeit den Erfolg der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierten „Masseneinwanderungsinitiative“ vom 9. Februar begrüßt haben. Das bedeutet noch nicht, dass sie alle völlig gegen die EU wären. Gleichzeitig bekennen sie sich zu einem hemmungslosen Imperialismus, der einen rassistischen Diskurs salonfähig macht und auf Islamfeindlichkeit setzt, um sich gegenüber der Immigration aus außereuropäischen Ländern abzuschotten. Die faschistischen Strömungen, die sich darin eingenistet haben, bedienen über diskretere Kanäle oder in versteckter Form auch bedenkenlos eine antisemitische Rhetorik. Für die ImmigrantInnen, für sexuelle Minderheiten, aber auch für solidarische AktivistInnen stellen sie mittlerweile eine physische Bedrohung dar, wie kürzlich die Ermordung von Clément Méric in Frankreich gezeigt hat.

Diese Parteien befürworten Privatwirtschaft und freies Unternehmertum. Sie treten für die Liberalisierung des Arbeitsmarkts und den Abbau von Sozialabgaben, namentlich für KMU [1], ein. Sie beteuern, eine Abkehr vom Euro und die Einführung von Zollschranken würden der heimischen Wirtschaft einen Aufschwung bescheren. Sie schlagen demagogische Maßnahmen für niedrige Einkommen vor, lehnen aber eine Erhöhung gesetzlicher Mindestlöhne, die sie bekämpfen, kategorisch ab und behaupten, die soziale Sicherheit der Einheimischen zu verteidigen. Sie unterstützen einen nationalen Produktivismus, der jegliches Umweltdenken ausschließt. Die Front National zweifelt im Übrigen den Klimawandel an, die UKIP will dieses Thema von britischen Schulen verbannen. Sie geben immer neue Erklärungen zugunsten der Familie, der Frau am Herd und der traditionellen Erziehung heraus. Als Anhänger der „moralischen Ordnung“ schrecken sie nicht davor zurück, mit der Homophobie zu kokettieren. Als Verteidiger des „strafenden Staates“ treten sie für die Todesstrafe für „die abscheulichsten Verbrechen“ ein.


Schmelztiegel rechter Kulturen


Sie behaupten, gegen das System, also die konservativen wie die sozialdemokratischen Parteien, zu sein. „Was die disparaten Kräfte der UKIP zusammenschweißt, ist die sozial paranoide Ideologie einer beinharten Rechten, für die (…) die EU ein von Eurokraten entworfenes sozialistisches Komplott auf dem Rücken der Kleinbetriebe ist, das die Einwanderung und somit den Wohlfahrtsstaat fördert“, schreibt Richard Seymour zu England. (Red Pepper, Sept. 2013) Nach dem Fall der Berliner Mauer haben sie einen Kreuzzug gegen die UdSSR geführt und verdanken ihren Erfolg der Fähigkeit, historisch rechte Kulturen – nationalistisch, militaristisch, kolonialistisch, rassistisch, sexistisch, homophob, autoritär, klerikal, konservativ, libertär, antisozialistisch etc. – zusammenzubringen.

Sie verführen heute eine Massenwählerschaft, die aus breiten Teilen der Arbeiterschaft und des Mittelstands besteht und teilweise aus den sozialdemokratischen und traditionellen rechten Parteien kommt. Es gelingt ihnen, im rechten Lager die Wut zu radikalisieren, die der von den regierenden Parteien mit Eifer vorangetriebene Sozialabbau provoziert. Sie individualisieren die Arbeitswelt, die auf eine Wählerschaft verärgerter „weißer kleiner Leute“ reduziert wird, vor allem aber durch die Spaltung der WählerInnen in Ausländer und Inländer, Farbige und Weiße, Arbeitslose und Beschäftigte, RentnerInnen und Aktive, Frauen und Männer etc. Damit werden die WählerInnen von jeder kollektiven Antwort abgehalten. Das kann sich als nicht zu vernachlässigender Trumpf in den Händen der Bourgeoisie erweisen. Das gilt insbesondere in Ländern wie Frankreich, wo die geplante Austeritätspolitik, die im Namen der Maastricht-Kriterien verordnet wird, ausgesprochen hart zu werden droht.


Neue Erscheinungsformen der Barbarei


Der Faschismus der 20er- und 30er-Jahre hatte Massenorganisationen aufgebaut, die den kämpferischsten Teilen des Kapitals als Rammbock dienten, um die revolutionären Bedrohungen abzuwenden, die Arbeiterorganisationen zu zerstören, die demokratischen Rechte auszuhebeln und die Arbeitskosten dauerhaft zu senken. An diesem Punkt sind wir heute ganz offensichtlich nicht, außer vielleicht in Griechenland, wo sich die Goldene Morgenröte explizit auf ein solches Modell beruft. Doch wozu sollte im übrigen Europa die heutige nationalistisch-populistische Rechte den Herrschenden dienen, wo doch die linken Parteien und Gewerkschaften darniederliegen? In Wirklichkeit ist sie ihnen angesichts des Ausmaßes an sozialem Rückschritt, den sie planen und von dem der Süden des alten Kontinents bereits einen Vorgeschmack erfahren hat, vermutlich nützlicher, als man meinen möchte. Tatsächlich geht es um nichts Geringeres als darum, die heute nummerisch größte Arbeiterschaft aller Zeiten – die berühmten 99 % – der wichtigsten sozialen und demokratischen Rechte zu berauben, die im 20. Jahrhundert errungen wurden. Diese werden zu Recht als zivilisatorische Elemente angesehen, denn die berüchtigten 1 % erachten sie noch immer als zu teuer – trotz aller Opfer, die sie den Lohnabhängigen in den letzten 30 Jahren bereits abgefordert haben.

Worin bestehen diese Errungenschaften? Erstens in der Wahrnehmung, dass ein Lohn ein „ordentliches“ Leben erlauben sollte, d. h. die Deckung einer Reihe von Grundbedürfnissen, die über das körperlich Notwendigste hinausgehen: abwechslungsreiche Nahrung, modische Kleidung, dauerhafte Konsumgüter, Freizeit, Kultur etc. Zweitens in der Überzeugung, dass der indirekte Lohn – also Sozialversicherungen (Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Rente etc.) – für einen Großteil der Bevölkerung enorme Bedeutung hat. Denn sie verfügen über keine eigenen Produktions- und Subsistenzmittel und können daher nicht einmal ansatzweise ein Leben als Selbständige oder Selbstversorger führen. Drittens im Wissen, dass die massive Subventionierung des öffentlichen Dienstes (Bildung, Gesundheit, sozialer Wohnungsbau, Transport etc.) durch eine progressive Steuer einem Grunderfordernis entspricht. Und viertens in der Überzeugung, dass man für eine „wirkliche Demokratie hier und jetzt“ kämpfen muss, wenn all dies durch die „Diktatur der Märkte“, die von immer undurchsichtigeren und autoritäreren Institutionen mitgetragen wird, infrage gestellt wird.


Wie reagieren?


Auch wenn heute die meisten traditionellen Organisationen der alten Arbeiterbewegung im Namen des „unvermeidlichen“ Wettbewerbs unter nationalen Unternehmen de facto extrem harte Sparprogramme akzeptieren, gelingt es ihnen wegen ihrer relativen Schwäche nicht unbedingt, die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, sich ohne Widerstand zur Schlachtbank führen zu lassen. Denn sie sind weiterhin zutiefst vom Wert überzeugt, den sie mit ihrer Arbeitskraft schaffen – ein Ergebnis eines langen Entwicklungswegs, der markiert ist von zahlreichen Kämpfen und der vom Kapital nicht so radikal und schnell ausgehebelt werden kann, wie es das gerne möchte. Und gerade weil die nationalistisch-populistische Rechte eben hinter diesen Bestrebungen steht, drastisch schlechtere Bedingungen für weite Bevölkerungskreise – Sanspapiers, Farbige, prekär beschäftigte Jugendliche, RentnerInnen, Frauen – zu schaffen, was den Wert ihrer Arbeit senkt, trägt sie dazu bei, diesen zu untergraben.

      
Mehr dazu
Giorgos Mitralias: Auf dem Weg zu Brauner Internationale?, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Christophe Aguiton: Europas extreme Rechte erstarkt, intersoz.org (17. November 2022)
Sinistra anticapitalista: Die alten sind auch die neuen Feinde der Arbeiterklasse, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). Auch bei intersoz.org
Ugo Palheta: Noch immer aktuell, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
Alain Bihr: Ist der Faschismus eine aktuelle Gefahr?, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
François Sabado: EU-Wahlen – ein Rückschlag für die Herrschenden?, Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014)
François Sabado: Frankreich zwischen Wahlen und Protesten, Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014)
 

Indem sie ein Loblied auf das Hausfrauendasein singt, während die meisten Lohnabhängigen heute für den Unterhalt der Familie auf zwei Löhne angewiesen sind, rechtfertigt sie die Zunahme von unbezahlter (Pflege)Hausarbeit, die erlaubt, den Preis für die Wiederherstellung der Arbeitskraft zu senken. Nicht zuletzt bereitet die Rechte den Boden dafür, Gewerkschaftskämpfen, sozialen Bewegungen und der kämpferischen Linken die Straße streitig zu machen, da sie Teile der einfachen Bevölkerung organisiert, zu denen die traditionellen Parteien praktisch keine organische Verbindung mehr haben.

Eine Anpassung der politischen Kultur in diesem Ausmaß ist ohne einen hohen Grad an physischer und moralischer Gewalt, insbesondere gegen Frauen, undenkbar. Dieser Preis wäre für einen solchen zivilisatorischen Rückschritt zu zahlen. Um diesen zu Ende zu führen, könnte das Kapital neben dem Staat zusätzliche zivilgesellschaftliche Kräfte benötigen. In diesem Sinn ist es nicht unbegründet, von einer neuen protofaschistischen Bedrohung für das Europa des 21. Jahrhunderts zu sprechen, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich dessen Formen von jenen der Vergangenheit ziemlich unterscheiden könnten. Im Bemühen, diese Entwicklung abzuwenden, wäre es verheerend, erneut dieselbe Spaltungspolitik zu betreiben, die bereits in den 30er-Jahren gescheitert ist. Wir müssen also zwei Klippen vermeiden: einerseits die der „republikanischen Front“ mit den AnhängerInnen des Sozialabbaus, ob sich diese als „Sozialdemokraten“ oder „Mitte-Rechts“ bezeichnen, und andererseits Spaltungen in den sozialen Bewegungen an der Basis, aber auch zwischen den antiliberalen Wahllisten, die sich gegen diese Politik wehren.

Eine solche Einheitsfront zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse, die sich gegen die kapitalistische Austeritätspolitik und die nationalistisch-populistische Rechte stellt, muss dem Kampf gegen Rassismus einen bevorzugten Platz einräumen und MigrantInnen in einer internationalistischen Perspektive vollwertig in ihre Mobilisierungen einbeziehen. Deshalb müssen wir die von Frontex im Dienste der Festung Europa ergriffenen Maßnahmen ebenso kritisieren wie die immer restriktiveren Gesetze der europäischen Staaten, die von sozialdemokratischen Parteien initiiert oder mitgetragen werden. Der Kampf von MigrantInnen gegen ihre willkürliche Internierung und ihre Abschiebung, aber auch gegen die Demütigungen einer Sklavenarbeit, zu der sie oft gezwungen sind, ist auch unser Kampf. Eine solche Aktionseinheit kann nur wachsen, wenn sie deutlich zu ihrer transeuropäischen Dimension steht. Ungeachtet ihrer Begrenztheit und ihrer schwachen Wählerbasis ist dies eine Qualität, die der Liste „L’Altra Europa con Tsipras“, die bei den Wahlen zum Europaparlament in Italien 4 % der Stimmen erreicht hat, zugestehen muss. Das Eintreten solcher Kräfte für den gemeinsamen Widerstand auf einer gemeinsamen politischen Grundlage negiert noch keineswegs die Autonomie jeder einzelnen dieser Kräfte in der demokratischen Festlegung ihrer Kampfziele, Aktionsformen und politischen Orientierungen.

2. Juni 2014
Aus dem Französischen: Tigrib



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] KMU – K(leine und )M(ittlere )U(nternehmen)