Faschismus

Ist der Faschismus eine aktuelle Gefahr?

Alain Bihr

Zurecht sind alle gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die sich positiv auf den Antifaschismus beziehen, beunruhigt über die inzwischen feste Etablierung rechtsextremer Bewegungen und die Umtriebe neofaschistischer Gruppierungen in der politischen Landschaft zahlreicher europäischer Länder. Aber lässt sich deswegen bereits sagen, dass der Faschismus an unsere Pforten klopft?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst auf die aktuelle historische Lage eingehen und sie mit den 1920er und 1930er Jahren vergleichen, als damals der Faschismus vorübergehend seinen Triumphzug angetreten hat.


Ähnlichkeiten …


Heute wie damals befinden wir uns in einer Phase, in der der Kapitalismus in einer weltweiten strukturellen Krise steckt und gezwungen ist, all seine bisherigen Regulierungsmechanismen komplett neu aufzustellen und alle überkommenen Verhältnisse infrage zu stellen. Heute wie damals sind die rechtsextremen Bewegungen in erster Linie Ausdruck dieser traditionellen „Mittelschichten“ (in der Landwirtschaft, im Handwerk und in der Kleinindustrie, im Handel und im Dienstleistungssektor), die durch die Globalisierung der Wirtschaft unmittelbar von Verarmung und Proletarisierung bedroht sind. Heute wie gestern trifft uns eine massive Krise der Arbeiterbewegung, die dem Proletariat jede Strategie und jede Organisation raubt, die in der Lage ist, der neoliberalen Offensive in den letzten fünfzehn Jahren gegen seine bisherigen Errungenschaften weltweit etwas entgegenzusetzen.

Infolgedessen erliegen heute wie gestern ganze Teile des Proletariats der populistischen und nationalistischen Propaganda und sind desorientiert, verängstigt und wütend zugleich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, durch die Verschlechterung ihrer materiellen und sozialen Existenzbedingungen und verzweifelt durch die Perspektivlosigkeit. Heute wie gestern erweisen sich die linken Parteien, oder das, was von ihnen übrig geblieben ist, als unfähig, dem steten Vormarsch der extremen Rechten Widerstand zu leisten, und leisten ihm sogar Vorschub durch die neoliberale Politik, die sie während ihrer Regierungszeit umgesetzt haben, oder indem sie den fremdenfeindlichen und rassistischen Diskurs der Gegenseite übernehmen.


… aber ein gravierender Unterschied


Aber bedeutet das, dass wir in Bälde in Frankreich oder sonst in Europa faschistische Regime erleben werden? – Ich denke nein.

Die o. g. Ähnlichkeiten zwischen der Lage in Europa in den 1930er Jahren und der gegenwärtigen Situation dürfen nicht über die tiefgreifenden Unterschiede zwischen ihnen hinwegtäuschen. Der wichtigste ist, dass die strukturelle Krise, die der Kapitalismus seit den 1970er Jahren erlebt, keinen Anlass dazu gibt, wie in den 1930er Jahren einen starken Staat zu schaffen, der in der Lage ist, einem ausgereiften Monopolkapitalismus im eigenen nationalen Rahmen eine mehr oder minder abgeschottete Entwicklung zu garantieren. Heute ist es genau umgekehrt: Die Nationalstaaten haben als autonomer Rahmen für die Reproduktion des Kapitals inzwischen ausgedient und es geht darum, eine supranationale Minimalstruktur zu schaffen, um die Globalisierung des Kapitals zu regulieren. Deshalb wird die Konterrevolution, mit der die hegemoniale Fraktion der Bourgeoisie ihre Interessen durchsetzt, heute nicht mehr unter den Bannern des Etatismus und des Nationalismus geführt, die in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ausarten, sondern unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus, dessen Ziele der „Minimalstaat“ und die Überwindung des nationalen Rahmens sind.


Kampf zweier Linien


Dies erklärt auch, wie es zur Wiedergeburt der rechtsextremen Bewegungen in Europa kommen konnte. Zugleich aber umreißt es auch deren Grenzen und wirft ein Schlaglicht auf deren Spaltung in zwei gegensätzliche Tendenzen.

Auf der einen Seite sind es nationalistische Bewegungen, die gegen die Schwächung der Nationalstaaten durch die neoliberale Politik kämpfen: gegen die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs, die Deregulierung der Märkte, den Verlust der bisherigen Fähigkeit der Staaten, das wirtschaftliche und soziale Leben zu regulieren zugunsten supra- oder transnationaler Instanzen, den Verfall des nationalen Zusammenhalts durch die Verschärfung der sozialen und räumlichen Ungleichheiten etc. Ihre wichtigsten Vertreter sind der Front National in Frankreich, die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ), die Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei), die Perussuomalaiset (Wahre Finnen), Vox in Spanien und Fidesz – Magyar Polgári Szövetség (Ungarische Bürgerallianz).

Diese Bewegungen vereinen Klassen, Klassenfraktionen und soziale Schichten (oder versuchen es zumindest), die zu den „Verlierern“ der neoliberalen Globalisierung gehören oder dies befürchten: Elemente der Bourgeoisie, deren Interessen mit dem nationalen Staatsapparat und dem nationalen Markt verbunden sind; die traditionellen „Mittelschichten“; Elemente der Arbeiterklasse, die Opfer der neoliberalen Globalisierung sind und denen die traditionellen Fähigkeiten der Arbeiterklasse zu Organisation und Kampf (Gewerkschaftsorganisationen und politische Vertretungen) abgehen. Sie versuchen daher, nationalistische Blöcke (wieder)aufzubauen, mit dem Ziel, den Nationalstaaten ihre volle Souveränität zurückzugeben, indem sie einen Nationalkapitalismus mit populistischen Untertönen propagieren.

Zugleich sind auf der anderen Seite rechtsextreme „regionalistische“ Bewegungen entstanden, die vielmehr versuchen, die Schwächung der Nationalstaaten dafür zu nutzen, die Autonomie geopolitischer Untergliederungen der Staaten (Regionen, Provinzen, Ballungsräume etc.) zu forcieren oder sogar ihre Abspaltung und politische Unabhängigkeit von den Nationalstaaten, denen sie angehören, zu betreiben. Die beiden typischsten Beispiele sind der Vlaams Belang (Flämisches Interesse) in Belgien und die Lega Nord (jetzt einfach Lega) in Italien, zu denen man noch eine Unzahl anderer weniger bekannter und eher unbedeutender Parteien rechnen kann.

Diesen Bewegungen gehören Klassen, Klassenfraktionen und soziale Schichten an, die zu den „Gewinnern“ der neoliberalen Globalisierung gehören oder dies zumindest hoffen: Teile der regionalen Bourgeoisie, die von der Einbindung in den Weltmarkt profitieren konnten, Teile der Arbeiterklasse oder der Freiberufler*innen, die mit dieser regionalen Bourgeoisie zusammenhängen. Sie alle wollen den „überflüssigen Ballast“ des Nationalstaats loswerden. Diese Bewegungen versuchen daher, „regionalistische“ (autonomistische oder gar sezessionistische) Blöcke zu bilden, die sich (partiell oder ganz) von ihrem jeweiligen Nationalstaat emanzipieren wollen, der von ihnen als (fiskalische) Last oder als (reglementierendes) Hindernis für ihre Einbindung in den Weltmarkt empfunden wird.


Strategische Interessen der Bourgeoisie


Zugleich zeigt sich, wo das Haupthindernis für einen Faschisierungsprozess der europäischen Regierungen heute liegt. Wie in den 1920er und 1930er Jahren würde dies letztlich voraussetzen, dass die hegemoniale Fraktion der Bourgeoisie, die sich i. W. aus dem Finanzkapital rekrutiert und strikt transnational ausgerichtet ist, mit der einen oder anderen dieser rechtsextremen Bewegungen verbündet.

So ein Bündnis ist sicherlich nicht undenkbar, sofern es dabei um eine Bewegung vom „regionalistischen“ Typ geht, vorausgesetzt, dass diese weder den Globalisierungsprozess des Kapitals noch die dafür erforderliche Umformung des Staatsapparats irgendwie infrage stellt, sondern ganz einfach bloß eine – vermeintlich – bessere Einbindung einer „regional“ verankerten Kapitalfraktion in den globalen Wirtschaftsraum anstrebt. Aber ein solches Bündnis wäre weder dem sozioökonomischen Gehalt noch der gesellschaftspolitischen Form nach faschistisch: Es würde allenfalls eine autoritäre Version des Neoliberalismus verkörpern, wie es ihn in den letzten Jahrzehnten verschiedentlich gab, allen voran in Großbritannien unter der Fuchtel von Thatcher.

Recht wahrscheinlich würde sich der Rechtsextremismus innerhalb einer solchen Allianz mit fortschreitendem Erfolg bei der Umsetzung seines Programms verschleißen, also eher das Gegenteil eines Faschisierungsprozesses der Regierung. Beispielhaft hierfür ist die Entwicklung, die die Wählerbasis von Vlaams Belang genommen hat: Je mehr das Ziel einer flämischen Autonomie an Boden gewonnen hat, desto mehr hat Vlaams Belang verloren … zum Vorteil seiner Konkurrenten in der Nieuw-Vlaamse Alliantie (Neue Flämische Allianz) und der Christen-Democratisch en Vlaams (Christdemokratisch und flämisch).

Ein strategisches Bündnis zwischen der hegemonialen Fraktion der Bourgeoisie und einer nationalistischen rechtsextremen Bewegung hingegen ist absolut unmöglich. Das schließt natürlich nicht aus, dass eine solche Bewegung die Macht innerhalb eines Staates übernehmen kann mithilfe einer parlamentarischen Mehrheit, in der sie die stärkste Kraft darstellt. Aber sobald sie versuchte, ihr politisches Programm umzusetzen und Maßnahmen zu ergreifen, die die Globalisierung des Kapitals ernsthaft gefährden, würde ihr der Geldhahn gnadenlos abgedreht werden. Die Staatsverschuldung ist inzwischen die meist gefürchtete Waffe, über die das Finanzkapital verfügt, um jede Regierung zur Raison zu bringen, die sich ihr in den Weg stellen will. Dabei spielt die politische Couleur keine Rolle, sofern sie sich außerhalb des kapitalistischen Systems stellt, was man aber von einer rechtsextremen Regierung in keiner Weise befürchten muss.

Es lässt sich nicht ausschließen, dass eine solche Bewegung durch ihren Wahlerfolg die klassisch rechten Organisationen, die die Interessen der hegemonialen Fraktion der Bourgeoisie repräsentieren, zu einer Regierungskoalition zwingt. Genau das ist in Österreich passiert, als die FPÖ zwischen 1999 und 2005 mit der ÖVP (Österreichische Volkspartei) regierte. Die primäre Folge war nicht eine Faschisierung der Regierung, sondern ein Stimmenverlust der FPÖ bei den Wahlen, nachdem sie sich den neoliberalen und konservativen Anschauungen ihres Partners hatte beugen müssen. Die Neuauflage dieser schwarz-blauen Koalition nach den Parlamentswahlen im September 2017 hat erneut zu einem Einbruch geführt, der durch die Korruptionsskandale noch härter ausfiel und bei den Parlamentswahlen im September 2019 fast zehn Prozentpunkte ausmachte. Ähnlich verhielt es sich mit der Alleanza Nazionale, der Nachfolgerin des offen neofaschistischen Movimento sociale italiano, infolge ihrer Regierungsbeteiligung an der Seite von Silvio Berlusconis Forza Italia: 2009 löste sich die Partei innerhalb des Mitte-Rechts-Bündnisses Il Popolo della Libertà auf. In beiden Fällen war es die neoliberale und neokonservative Rechte, die in diesem Gespann mit der extremen Rechten das letzte Wort hatte.

Man wird einwenden, dass es am Rande der o. g. rechtsextremen Bewegungen eine Vielzahl von Gruppierungen und Miniorganisationen mit eindeutig neofaschistischer Ausrichtung gibt, die auf ihre Stunde warten (nämlich die Regierungsübernahme durch eine der o. g. Organisationen), um die bis dahin verhalten praktizierte Gewalt voll ausleben zu können. Aber genauso, wie ein paar Schwalben noch keinen Frühling machen, machen faschistische Gruppen keinen Faschismus aus: Ihre Existenz ist zwar eine notwendige, aber sicherlich nicht eine der wichtigsten und schon gar nicht eine hinreichende Voraussetzung für den Faschismus. Andernfalls ließe sich kaum erklären, warum der Faschismus nur unter bestimmten sozialen und historischen Umständen reüssieren konnte, obwohl sich doch faschistische Gruppierungen fast überall in Europa seit fast einem Jahrhundert halten können.


Wachsamkeit ist dennoch geboten


Dies alles kann uns freilich nicht zum Trost gereichen. Einerseits sind die heutigen rechtsextremen Bewegungen, auch wenn von ihnen nicht die Gefahr einer Faschisierung der Regierung ausgeht, ein ernsthaftes Hindernis für den Aufschwung der antikapitalistischen Kämpfe, weil sie das Lager der Lohnabhängigen schwächen. Und zwar indem sie einen Teil ihrer Mitglieder ins Schlepptau und unter die Fuchtel von bourgeoisen Elementen zwingt und indem sie ihn gegen Teile des eigenen Lagers aufbringt, weil diese „Immigranten“ oder nicht wahrhaft „national“ sind oder „nicht vereinbar mit der europäischen Kultur“ etc. Und genau aus diesem Grund müssen sie bekämpft werden.

Andererseits ist der Faschismus nicht die einzige mögliche Form von Reaktion und Konterrevolution. Die „global“ aufgestellte Bourgeoisie, die heute den Prozess der Transnationalisierung des Kapitals vorantreibt, ist noch nicht aus der Krise – ihrer Krise! – herausgekommen, ganz im Gegenteil. Sie ist weit von der Bewältigung eines Prozesses entfernt, der i. W. auf der Zerschlagung nationaler Regelmechanismen und sozialer Kompromisse beruht, die dereinst der Kapitalreproduktion des Kapitals während der „Wirtschaftswunderzeiten“ ihre Glanzzeit beschert hatten.

Der Neoliberalismus hingegen, der derzeit politisch dominiert, zeigt jeden Tag mehr, dass er in die Sackgasse führt und zwingt das globalisierte Kapital, die Lohnabhängigen der Industrieländer und die Völker des Südens noch mehr unter Druck zu setzen. Die sozioökonomischen Folgen der gegenwärtigen Viruspandemie werden diesen Zwang noch intensivieren, um die Kosten auf die Unterdrückten abzuwälzen (in Form von Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Begleichung der Staatsschulden etc.).

      
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Vor allem droht die anhaltende und zunehmende sozioökonomische Krise die wirtschaftliche und politische Rivalität zwischen den verschiedenen Polen (USA, Europäische Union, China, Südostasien und Japan) der globalen kapitalistischen Akkumulation zu verschärfen. Die Destabilisierung von Staaten oder gar ganzen Regionen an der Peripherie dieser Pole (für die USA also Mittelamerika oder überhaupt Lateinamerika; für Westeuropa also Nordafrika, der Nahe Osten oder Osteuropa), wo ohnehin schon Kriege, Massenexodus der Bevölkerung, Terrorismus etc. Dauerzustand sind, dürfte zudem den Druck an einigen der Außengrenzen dieser verschiedenen Pole verstärken sowie die kollektive Panik verstärken, die ihrerseits die Tendenz zum starken Staat befördert.

Dieselben Folgen können sich aus der wachsenden ökologischen Krise des Planeten ergeben, wovon uns die gegenwärtige Pandemie einen Vorgeschmack liefert. Ganze Landstriche könnten unbewohnbar werden und infolge der Verknappung von Wasser, Ackerland, Rohstoffen und Energiequellen und der nachfolgenden Konkurrenzkämpfe darum zu Genozid und Massenexodus führen. Sofern es zu einem Wiederaufleben der Klassenkämpfe kommt und der neoliberale Sozialabbau dadurch eingedämmt, aber keine revolutionäre Perspektive durchgesetzt werden kann, könnte sich die Bourgeoisie mancherorts gezwungen sehen, wieder auf den starken Staat zu setzen, um jeden Widerstand zu ersticken. Ein Mittel dabei ist, die Bevölkerung aufzuhetzen, damit diese ihre Position in der internationalen Arbeitsteilung verteidigt.

Diese Gemengelage hat bereits dazu geführt, dass in einigen EU-Staaten, vorwiegend in Mitteleuropa (Polen, Ungarn), aber auch in Westeuropa (Frankreich) die Tendenz zum starken Staat gestärkt worden ist, was sich besonders in den ständigen Einschnitten der Grundrechte bemerkbar macht. Wenn diese Tendenzen zunehmen, könnte sich die „eiserne Ferse“ des Kapitals erneut bemerkbar machen und dann könnte auch wieder die Stunde – zwar nicht der Faschisten, aber ihrer geistigen Erben – schlagen.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz