Während die EU und die Troika die neue Regierung weiterhin mit aller Macht in die Knie zwingen wollen, scheut diese noch immer die Konfrontation und weicht stattdessen zurück. Aber ewig wird die betroffene griechische Bevölkerung nicht hinnehmen, immer weiter Verzicht zu üben.
Jean-Philippe Divès
Am Rande des europäischen Gipfels am 21. März traf sich Tsipras auf seinen Wunsch hin mit Angela Merkel, François Hollande und den Vorsitzenden der europäischen Institutionen zu einem Diner. Der Brüsseler Korrespondent von Libération fasst das Ergebnis der Gespräche zusammen: „Am Ende der fast dreieinhalbstündigen Diskussion muss sich Alexis Tsipras damit abfinden, dass Europa Griechenland keinen einzigen Euro mehr gibt, wenn nicht die geforderten Strukturreformen umgehend umgesetzt werden.
Der griechische Premier hatte gehofft, dass die Länder der Euro-Zone aus Angst vor einem zunehmend wahrscheinlichen Zahlungsausfall oder gar einem „Grexit“ ihm umgehend und ohne Gegenleistung die letzte Tranche der versprochenen Finanzhilfe (7,2 Mrd. Euro) überweisen, damit er sein Wahlprogramm erfüllen kann. Dies hat sich zerschlagen: die EU-Partner haben ihm klar gemacht, dass es kein Geld umsonst gäbe.“
Tatsächlich fordern die europäischen Spitzen einstimmig, dass die griechische Regierung zügig die Verpflichtungen umsetzt, die sie in dem Schreiben vom 18. Februar von Finanzminister Varoufakis an den Eurogruppenchef übernommen hat. Was genau besagt dieser Text?
Einerseits werden Ziele festgeschrieben, die unstrittig sind: Bekämpfung von Steuerflucht und -betrug sowie von Korruption oder Schmuggel. Eine Reihe anderer Verpflichtungen jedoch entsprechen exakt dem Credo neoliberaler Austeritätspolitik. Beispielweise nimmt sich die Regierung vor, die Ausgaben in den Bereichen Erziehung und Bildung, Transport, Sozialleistungen und Gesundheitswesen – freilich auch Verteidigung – „in Zusammenarbeit mit den europäischen und internationalen Behörden zu überprüfen und einzudämmen“. Die „exzessiv hohe Frühverrentungsrate, besonders im öffentlichen und Bankensektor, die das Rentensystem belastet“, soll eliminiert werden. Einkommen, die nicht lohnbezogen sind, sollen „in Übereinstimmung mit den bewährten Praktiken der EU geprüft werden“ und der öffentliche Sektor soll „reformiert werden, ohne dass dabei die Gesamtlohnkosten steigen“. Dies kann nur heißen, dass die Löhne, Renten und Sozialleistungen unter Beschuss geraten.
Die griechische Regierung „verpflichtet sich, bereits vollzogene Privatisierungen nicht zurückzunehmen“ und „Privatisierungen, die noch nicht vollzogen sind, zu überprüfen, um für den Staat langfristig bessere Bedingungen und Einnahmen zu erzielen und die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern“.
Dieses Ziel wurde von Vizepremier Dragasakis und Außenminister Kotzias nochmals bestätigt, als sie bei ihrer Peking-Reise „darauf verwiesen, dass die griechische Regierung den Sorgen Chinas über die Privatisierung des Hafens von Piräus entgegentreten will, die aufgrund widersprüchlicher Äußerungen verschiedener griechischer Minister entstanden sind, und dabei ein neues Privatisierungsmodell anstrebt, das die Interessen des griechischen Staates wahrt“, wie die Tageszeitung Ta Nea vom 24. März schreibt. Denn der chinesische Konzern Cosco sollte 67 % des Hafens übernehmen, was nach den Wahlen vom 20. Januar ins Stocken geraten war. In der Reformliste von Varoufakis heißt es dazu, dass „der Schwerpunkt auf langfristigen Vermietungen, Joint Ventures (ÖPP) und Verträgen liegen soll, die nicht nur die Staatseinnahmen sondern auch die künftigen Grundlagen privater Investitionen verbessern sollen“. Kurzum, eine Win-win-Situation im besten neoliberalen Sinne …
Zugleich soll „die Handhabung der Mehrwertsteuer vereinfacht werden, um die Staatseinnahmen zu erhöhen, indem sinnlose Befreiungen und Nachlässe begrenzt werden“, was mit anderen Worten heißt, dass die Preise erhöht werden sollen. „Der Arbeitsmarkt soll gesetzgeberisch umfassend und entlang der guten Gepflogenheiten in der EU reformiert werden“, will heißen dereguliert und seiner Schutzfunktion entkleidet werden. „Das Tarifrecht soll in „intelligenter“ Weise so gehandhabt werden, dass es zugleich den Erfordernissen der Flexibilität wie der Gerechtigkeit genügt“, d. h. die durch die Memoranden abgeschafften Tarifverträge sollen nicht wiederhergestellt werden. „Wettbewerbshindernisse sollen entlang der Empfehlungen der OECD entfallen“ und „die Regulierung der Gas- und Strommärkte der bewährten Praxis der EU angepasst werden“ – ein Kommentar erübrigt sich.
Weiterhin wird sichergestellt, „dass die Bekämpfung der humanitären Krise keine negativen Auswirkungen auf den Haushalt haben darf“. Man darf raten, dass hierdurch das (bereits auf 2016 vertagte) Wahlversprechen, den Mindestlohn wieder auf das alte Niveau von 751 Euro anzuheben ad acta gelegt wird, denn „das Ausmaß und der Zeitpunkt für Veränderungen beim Mindestlohn werden in Absprache mit … den europäischen und internationalen Institutionen bestimmt.“ Antonis Ntavanellos von der DEA meinte hierzu bereits am 7. Februar: „Der Mindestlohn beeinflusst die Einkommen auf allen Ebenen. Nimmt er zu, steigen auch die darüber liegenden Löhne. Insofern handelt es sich um eine äußerst wichtige Frage und ich bin sicher, dass die herrschende Klasse auf Tsipras Druck ausüben wird, damit er dies aufschiebt und nachgibt.“
Man muss nicht eigens erwähnen, dass das Schreiben in keiner Zeile von einer Annullierung oder Umstrukturierung oder auch nur Neuverhandlung der Schulden spricht.
Die Strategie seitens der EU und der Troika ist eindeutig. Romaric Godin beschreibt dies in der Online-Zeitung La Tribune als „Schlinge, die man immer mehr zuzieht, bis der Betroffene alles zugesteht, was man von ihm will“; insofern verwendet man „Zuckerbrot und Peitsche“, bloß damit „die Syriza-Regierung Reformen hinnimmt, die ihr vor dem 25. Januar noch inakzeptabel erschienen“. […]
Auf die Frage, wie sich die Regierung Tsipras unter diesem Druck entscheiden wird und welche Ziele sie verfolgt, gibt es zwei mögliche Antworten.
Auf die eine davon gründet die Linke Strömung von Syriza ihre Strategie, […] die sich so zusammenfassen lässt: Das Problem liegt darin, dass die Leitungsmehrheit von Syriza mit einer falschen Strategie in die Verhandlungen gegangen und dadurch in eine Falle getappt ist; sie dachte, Widersprüche zwischen einzelnen EU-Regierungen ausspielen zu können, aber dies hat nicht funktioniert; inzwischen wird ihr bewusst, dass ihr nur eine konfrontative Strategie offen bleibt, wenn sie ihren Wählerauftrag respektieren und nicht selbst untergehen will; dieser Weg ist zwar noch nicht beschritten, bleibt aber weiter offen und daher muss man dorthin drängen.
Der Kommentar eines hochrangigen EU-Diplomaten weist in die zweite Richtung: „Tsipras betreibt ein innenpolitisches Spiel: Er will seinen Wählern zeigen, dass er zwar guten Willens ist, die anderen jedoch die Bösen sind“. Bei diesem Spiel wollen die griechischen Regierungsspitzen „die eine oder andere Reform ablehnen können, um ihre Entschlossenheit zu zeigen“, ohne aber jemals mit der EU und den anderen internationalen Behörden zu brechen, was darauf hinausläuft, ihre Vorgaben im Wesentlichen zu akzeptieren. Das Ziel dabei ist, ein paar Konzessionen durchzusetzen, um bei der griechischen Bevölkerung eine Akzeptanz zu erzeugen, das Gros der Wahlversprechen nicht umzusetzen. In diese Lesart fügen sich die beiden Gesetze zur humanitären Notlage (Care- Pakete und kostenloser Strom für die ärmsten Haushalte) und zu den Steuerschulden (Stundung auf 100 Teilzahlungen mit Obergrenze), die als erste nach dem Regierungsantritt verabschiedet wurden.
Auch wenn es den Anhängern von Tsipras nicht passt, erscheint diese zweite Hypothese doch stichhaltiger, denn sie erklärt die bisher getroffenen Verlautbarungen und Entscheidungen: das unbedingte Festhalten am Verbleib in der Euro-Zone und somit auch in der EU; die in dem o. g. Reformbrief zitierten erheblichen Zugeständnisse; Varoufakis’ Erklärungen, dass die Regierung „Blut aus Steinen quetschen“ wird, um den Zahlungsverpflichtungen an den IWF nachzukommen; die Politik von Syriza innerhalb der bürgerlichen Institutionen in Griechenland, nämlich die Koalition mit der Anel, die Wahl des rechten Pavlopoulos zum Staatspräsidenten etc.
Wie stark die Opposition innerhalb von Syriza ist, davon zeugen die 41 % der Stimmen, die der Antrag der Linken Plattform auf der ZK-Sitzung Ende Februar/Anfang März gegen das Abkommen mit der Eurogruppe erhalten hat. Hierbei haben nicht nur die Mitglieder der Linken Plattform dafür gestimmt, sondern auch Teile der Mehrheitsströmung, die maoistische KOE und die Gruppe um John Milios, dem zurückgetretenen Chefökonomen der Partei.
Auch wenn dies ein wichtiger und ermutigender Ansatzpunkt ist, darf man dessen Tragweite nicht überschätzen oder die Widersprüche übersehen. So richtete sich der Antrag nicht gegen das Abkommen vom 20. Februar. Seine Autoren betonen, nachdem sie sich „von dem Abkommen und der Reformliste distanziert haben, dass Syriza in absehbarer Zeit und trotz der Abkommen mit der Eurogruppe seine Verpflichtungen und das in den generellen politischen Richtlinien angekündigte Programm umsetzen sollte. Für diesen Schritt müssen wir uns auf die Mobilisierung der Bevölkerung und der Lohnabhängigen stützen und diese wieder vorantreiben, um durch zunehmenden Rückhalt im Volk jeder Form von Erpressung zu widerstehen. Wir müssen uns für eine Alternative stark machen, die die volle Umsetzung unserer radikalen Ziele beinhaltet.“
Der Grund für diese relativ gemäßigte Aussage ist einfach: Die Linke Strömung ist selbst mit vier Ministern in der Regierung vertreten, darunter Panagiotis Lafazanis als Ressortchef für Strukturreformen, Energie und Umwelt. Gegenüber der eigenen Regierung kann man zwar einen Dissens bekunden und (eher vage) Alternativen vorschlagen, aber nicht die getroffenen Entscheidungen wieder infrage stellen.
Wohl trifft zu, dass DEA die einzige Strömung innerhalb von Syriza ist, die ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung behauptet hat. Antonis Ntavanellos formuliert dies so: „Ich habe vorhin gesagt, dass der Rest der Linken in Syriza, anders als DEA, akzeptiert hat, sich an der Regierung zu beteiligen. Wir haben beschlossen, uns nicht zu beteiligen – weder an der Regierung noch am Staatsapparat. Wir wollen weiterhin als eine Kraft in den sozialen Bewegungen in der Linken Plattform innerhalb von Syriza wirken.“
Die Linke Strömung hat, davon abgesehen, die Entscheidung mitgetragen, mit der (fremdenfeindlichen, homophoben etc.) Anel zu koalieren. Die Gründe dafür benennt Costas Lapavitsas: „Anel ist im Prinzip das, was wir in Griechenland eine rechte Volkspartei nennen, die traditionell staatsinterventionistisch, den Großkonzernen gegenüber kritisch, nationalistisch und gemäßigt konservativ ist. Natürlich sind sie keine genuinen Bündnispartner für die radikale Linke. Aber unter den gegebenen Umständen war die Entscheidung klar: Entweder gar keine Regierung bilden – was zu Neuwahlen, Chaos etc. führt – oder eine Regierung mit Leuten bilden, die wenigstens konsequent gegen die „Rettungsprogramme“ aufgetreten sind und für die Arbeiter, kleinen und mittelständischen Unternehmen etc. …Nach Lage der Dinge war dies keine schlechte Entscheidung, weil Syriza dadurch ihren Rückhalt unter den Ärmsten der Bevölkerung gestärkt hat, die sich traditionell an der konservativen Rechten orientiert haben und mit einem Mal eine Regierung der radikalen Linken unterstützen. …Das Wichtigste ist – und darin liegt die wahre Bedeutung – dass Syriza beschlossen hat, die Verhandlungen der letzten Wochen zu führen und die kommenden Herausforderungen auf einer politischen Linie anzugehen, die sie seit Jahren vertritt und derentwegen sie die Wahlen gewonnen hat.“ Innerhalb von Syriza hat sich lediglich DEA als organisierte Kraft gegen die Koalition mit der Anel gestellt.
Was die Wahl eines Spitzenvertreters der Nea Dimokratia zum Staatspräsidenten angeht, hat die Linke Strömung zwar zunächst ihre Gegenstimme angekündigt, dann aber doch aus Loyalität mit der Regierung dafür gestimmt. Auch da wieder war die einzige von 149 Abgeordneten von Syriza, die dagegen gestimmt hat, Ioanna Gaitani, die einzige Parlamentsabgeordnete von DEA.
Generell geht es hier um grundlegende strategische Probleme, die hierin zutage treten. Die Linke Strömung entstammt – wie auch ein Gutteil der Leitungsmehrheit – einer linken, eurokommunistischen Tradition und hält daher an der vom Stalinismus übernommenen Etappentheorie im Kampf für den Sozialismus fest. In der ersten Etappe, bei der es darum geht, die Mittel für eine unabhängige nationale Entwicklung zu erzielen – was heute den Austritt aus der Euro-Zone bedeutet – kommen daher auch Sektoren des „nationalen“ Kapitals als Bündnispartner infrage.
In dem oben zitierten Interview meint Lapavitsas, dass „manche im Unternehmerlager in keiner Weise durch den Austritt [aus der Euro-Zone] in Panik geraten werden, sondern sich offen und direkt damit auseinandersetzen und daraus vielmehr Entwicklungschancen erwarten.“
Eine andere einflussreiche Theorie, die auf Nicos Poulantzas zurückgeht, besagt, dass sich die Errichtung eines „demokratischen Sozialismus“ auf die demokratischen Errungenschaften stützen, die in den Institutionen des bürgerlichen Staates wurzeln, und daher eine Intervention innerhalb des Staates mit einer Mobilisierung der Arbeiter- und einfachen Bevölkerungsschichten außerhalb kombinieren müsste. Kouvelakis bezieht sich darauf, wenn er sagt, dass „es natürlich Risiken bei dieser Strategie gibt.
…Für die Partei [Syriza] liegt das Risiko darin, dass sie durch den Staat verändert wird, wenn sie nicht selbst den Staat verändert. Und der Staat ist keine neutrale Angelegenheit …“
Das zeigt, wie schwierig es ist, eine politische Alternative zur Leitungsmehrheit von Syriza aufzubauen und dass es einer Zusammenarbeit zwischen antikapitalistischen und revolutionären Strömungen bedarf, die zwangsläufig über die Reihen von Syriza hinausgehen und besonders Antarsya oder Teile davon einschließen muss.
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Das Programm von Thessaloniki, auf dem Syriza gewählt wurde, war ein Minimalprogramm, das sehr beschränkt und alles andere als revolutionär war. Das gleiche gilt für die Maßnahmen, die jetzt zwingend geboten sind, um es umzusetzen: Schuldenschnitt, Kontrolle der Kapitalbewegungen und der Banken. Dieses Programm stößt jedoch auf hartnäckigen Widerstand der griechischen und europäischen Bourgeoisie. Daher lautet die einzige Alternative: Kapitulation, also weiter so wie seit dem 20. Februar, oder auf die Dynamik einer Konfrontation und eines Bruchs mit der EU setzen.
Dass derlei Maßnahmen an sich keineswegs revolutionär sind, zeigt sich besonders daran, dass sie größtenteils 2002 in Argentinien ergriffen wurden – wohlgemerkt unter rechten Regierungen –, als das Land in höchster Krise steckte, die in manchen Zügen an die heutige Lage in Griechenland erinnert. Damals wurden das Einfrieren der Bankendepots und der Zahlungsstopp von einer starken Abwertung der Landeswährung nach vorhergehender Entkoppelung von der Dollarparität begleitet. Anschließend durchlebte das Land einen gewissen Aufschwung, bevor die Krise des Kapitalismus erneut zuschlug.
Aber davor gab es im Dezember 2001 Massenrevolten mit Straßengefechten, die zum Rücktritt des Präsidenten mit anschließender Flucht im Hubschrauber führten. Damit war eine zutiefst instabile Situation entstanden, in der es ständig zu Mobilisierungen kam und eine autonome Organisierung der Bevölkerung entstand. Darin liegt der zweite und entscheidende Faktor, an dem es in Griechenland noch fehlt.
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online).