Die „Brexit“-Entscheidung [1], die EU zu verlassen, ist ein Sieg für die rechten Fremdenfeinde und eine Katastrophe für den Kampf gegen die Sparpolitik in Großbritannien. Sie ist ein Sieg für Rassismus und ein Mandat, die Grenzen von Großbritannien gegen Migration stärker zu sichern.
Erklärung von Socialist Resistance
Wenn wir sagen, dass es eine Katastrophe ist; dann nicht, weil wir die geringsten Illusionen in dir EU oder ihre Institutionen hätten – wir betrachten sie als einen neoliberalen Club der Bosse. Auch nicht, weil wir irgendetwas übrig hätten für die reaktionäre offizielle „Remain“-Kampagne von Cameron, der mit seinem sogenannten Neuverhandlungen darauf aus war, die Bedingungen der Arbeitenden in diesem Land, einschließlich der Migrantinnen und Migranten, zu verschlechtern. Nein, vielmehr weil ein Austritt aus der EU zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise die politische Situation in Großbritannien scharf nach rechts verschieben und den Kampf gegen die Sparpolitik schwächen würde. Er wird auch eine Katastrophe für jeden Migranten, Flüchtling und alle Minderheiten im Lande sein.
Es ist interessant, dass Cameron in seiner Rücktrittsrede sagte, dass es im Status der EU-Bürger in diesem Land keine Änderung geben werde – „zum jetzigen Zeitpunkt“.
Die Millionen, die für den Brexit gestimmt haben, taten dies, weil sie dem Argument Glauben schenkten, dass die Verschlechterung des Lebensstandards und der öffentlichen Dienste durch die Einwanderung verursacht würden und nicht durch die Sparpolitik der Regierung in Westminster. Genauso wenig benannte das „Remain“-Lager die Schuld des britischen Bank- und Finanzsektors an der Wirtschaftskrise 2008.
Wie Left Unity in ihrer Erklärung feststellt: „Dieses Referendum kam auf Druck der extremen Rechten – angetrieben von einwanderungsfeindlichen Gefühlen und befeuert vom Rassismus. Dies war die reaktionärste nationale Kampagne in der politischen Geschichte Großbritanniens, und sie führte zu einem offenen Auftreten der extremen Rechten.“
Das ist absolut richtig. Die Atmosphäre war vergiftet, Hass wurde aufgepeitscht, und eine Parlamentsabgeordnete wurde von einem Faschisten ermordet, der „Großbritannien zuerst“ rief, eines der wichtigsten Themen der offiziellen Exit-Kampagne.
Die Ermordung von Jo Cox war ein zutiefst tragisches Ereignis, aber auch direkte Folge des Aufgalopps der Reaktion, der durch den Referendumswahlkampf ausgelöst wurde. Jo Cox war eine Verteidigerin von Flüchtlingen und Unterstützerin der „Remain“-Kampagne. Gift und Galle, die von der offiziellen Exit-Kampagne unterstützt durch die Masse der Medien und rechte Politikerinnen und Politiker verspritzt wurden, haben nicht nur Großbritannien bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit um Jahrzehnte zurückgeworfen, sondern sie schufen auch die Voraussetzungen für einen rechten Fanatiker mit Verbindungen zu weißen Suprematisten, sie auf offener Straße niederzuschießen.
Das Referendum hat Rassismus und Fremdenfeindlichkeit legitimiert wie nie zuvor. Abscheuliche Aussagen mit Echo vom rassistischen Tory-Abgeordneten Enoch Powell konnten ungestraft verspritzt werden und wurden von den Medien als eine Art fairer Kommentar akzeptiert. Powells berüchtigte „Rivers of Blood“-Rede 1968 führte dazu, dass er vom Tory-Chef Ted Heath rausgeworfen und Powell zu einem politischen Pariah wurde – Farages rassistisches Plakat „Breaking Point“ [2] löste nur etwas milde und verspätete Kritik aus, und das erst nach der Ermordung von Jo Cox. Ähnliche Bilder wurden mehrfach ohne Kommentar oder Gegenrede in den Zeitungen veröffentlicht. Gegen den Daily Express wurde eine Beschwerde eingereicht, weil er das Thema Migration 17 Tage in Folge auf der Titelseite hatte.
Einige Teile der Linken und der Arbeiterbewegung haben diese Gefahren erkannt. Die Gründung von „Another Europe is Possible“ [3] (Ein anderes Europa ist möglich) war ein wichtiger Schritt. Corbyn und McDonnell, Momentum, Left Unity und Ken Loach, die meisten Grünen und vor allem Caroline Lucas arbeiteten hart, um dem rassistischen Gift Einhalt zu gebieten. Die Mehrheit der Gewerkschaftsführungen nahm die richtige Haltung ein; UNITE und UNISON gaben wichtiges Material gegen den Rassismus und zur Verteidigung ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter heraus.. Matt Wrack von der FBU und Manuel Cortez von TSSA [4] spielten eine besonders wichtige Rolle. Das muss man ihnen hoch anrechnen.
Der Großteil der radikalen Linken unterstützte jedoch eine Exit-Stimmabgabe und die so genannte Lexit-Kampagne, die keinerlei Einfluss auf das Referendum insgesamt hatte. Es wurde die Illusion verbreitet, ein linker Exit sei eine Option, obwohl er es nicht war, und es wurde fälschlicherweise behauptet, dass es neue Möglichkeiten für die Linke eröffnen würde, wenn Cameron verjagt würde. Sogar jetzt, nach einem Sieg für Farage und die Tory-Rechte, behaupten Lexit-Befürworter wie die SWP, dass es eine „Revolte gegen die Reichen und Mächtigen“ gewesen und die Gefahr von Rassismus „alles andere als unvermeidlich“ sei.
Sie haben die Gefahren, die von der von rechten Fremdenfeinden geführten offiziellen Exit-Kampagne ausging, nicht erkannt. Sie waren sich nicht bewusst, in welchem Ausmaß Rassismus und Hass von ihr erzeugt und welche reaktionären Auswirkungen dies auf die politische Situation und das Gleichgewicht der Klassenkräfte haben würde und über die Gefahren, mit ihnen in irgendeiner Weise in Verbindung gebracht zu werden – vor allem im Falle eines Exit-Siegs.
Sie zogen es vor (selbst wenn sie direkt darauf angesprochen wurden), die schädlichen Folgen zu ignorieren, die ein Exit-Sieg für die die 2,2 Millionen EU-Bürger haben würde, die in diesem Land leben und deren Status als direkte Folge bedroht wäre. Und das obwohl es Organisationen sind, die sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit während ihrer ganzen Existenz immer entgegengestellt haben. „Rock Against Racism“ [in Deutschland „Rock gegen Rechts“] war ein massiver Schlag gegen Rassismus, für den die SWP große Anerkennung verdient.
Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses tauchte [der Chef der rechtspopulistischen UKIP] Farage auf den Bildschirmen auf und krähte etwas von einem historischen Sieg für die Befreiung Großbritanniens und skizzierte seine reaktionäre Vision für ein neues Großbritannien. Er wurde als der Anführer der Gewinnerseite behandelt. Er sagte, dass Cameron unverzüglich zurücktreten müsse – was er ein paar Stunden später tat – und dass der neue Tory-Premierminister ein Brexiter sein müsse, um das Mandat des Referendums umzusetzen.
Eine Leitungswahl wird nun in der Tory-Partei beginnen, um noch vor dem nächsten Parteitag abgeschlossen zu sein. Wir können annehmen, dass kurz danach zu allgemeinen Wahlen aufgerufen wird mit einem Wahlprogramm, das das umzusetzen soll, was als Mandat des Referendums beansprucht wird: der Einwanderung einen Riegel vorschieben, eine Stärkung der Grenzen und zweifellos eine Einschränkung des Status der im Land lebenden EU-Bürger.
Eine Wahl am Ende des Jahres unter den Bedingungen einer sich nach rechts entwickelnden politischen Lage ist sehr gefährlich. Die Linke muss sich schnell darauf vorbereiten, und ebenso die Labour Party.
Jeremy Corbyn [linker Labour-Chef] spielte eine prinzipienfeste Rolle im Referendumswahlkampf -- er rief auf, für den Verbleib zu stimmen, aber ohne Illusionen in die EU oder ihre Organe. Sein Interview auf Sky TV in der letzten Woche vor der Abstimmung beispielsweise war von Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit, Privatisierung und Sparpolitik vor einem überwiegend jungen und aktiven Publikum geprägt. Schatten-Finanzminister John McDonnell hielt eine radikale Rede gegen Sparpolitik und Rassismus auf einer großen Kundgebung von „Another Europe is Possible“ in London mit Matt Wrack von der FBU, Caroline Lucas und Yannis Varoufakis.
Aber die etablierten Medien stellen das Referendum seit Monaten überwiegend als Schlacht zwischen den beiden Flügeln der Konservativen Partei dar. Viele Labour-Abgeordnete, die Corbyn ablehnen, unterstützten das und erschienen auf Plattformen, als wären sie Teil der Tories. Dreizehn Jahre Sparpolitik der Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown und fünf Jahre unwirksamer Opposition unter Ed Miliband haben ihren Beitrag bei der Desillusionierung der Labour-Wählerschaft geleistet. Seit Jahrzehnten regierende Labour-Ortsverbände haben es versäumt, für die lokale Bevölkerung einzustehen, wenn sie angegriffen wurde. Ablehnung des Baus von bezahlbarem Wohnraum, Verschlechterung der lokalen Gesundheitsdienste, Kürzungen bei den Schulhaushalten – all das wurde den Rechten erlaubt, in ihre fremdenfeindliche Kampagne gegen Migranten umzubiegen.
In einigen Teilen des Landes – oft dort, wo Labour und die Linke am besten organisiert sind – schwenkte die Labour-Wählerschaft zu Remain: in London z.B. in Lambeth, Schauplatz der jüngsten heftigen Kämpfe gegen Bibliothekskürzungen, stimmten 79 % für Remain; in Bristol, wo sich ein Corbyn-Unterstützer nur sieben Wochen zuvor dramatisch den Bürgermeistersessel geschnappt hatte, gab es eine Remain-Mehrheit; auch in einigen der größten Städte im Norden – Manchester, Liverpool und Newcastle – erhielt Remain die Mehrheit. Aber in der großen Mehrheit der Labour-Hochburgen in England und Wales, wo lokale Labour-Strukturen seit Jahrzehnten eingeschlafen sind und der Parteiapparat fest in der Hand des rechten Flügels der Partei ist, protestierte die Labour-Wählerschaft gegen ihre Situation, indem sie für Leave stimmte.
Die ehemaligen Labour-Hochburgen in Schottland, die die unionistische Position [5] der Partei ablehnen, sind jetzt zur eher links gefärbten Scottish National Party geschwenkt, und jeder einzelne der 32 lokalen Bezirke in Schottland stimmte für Remain, was auch eine Verfassungskrise auslöste, die zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum führen könnte.
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Jetzt steht Corbyn vor Anschuldigungen aus der weitgehend feindlichen Labour-Parlamentsfraktion wegen seines angeblichen Unvermögens, ausreichend für die Abstimmung zu mobilisieren. Doch es waren die von der Parteirechten kontrollierten Gebiete, wo die Labour-Wählerschaft nicht für eine Remain-Stimmabgabe gegen Sparpolitik und Fremdenfeindlichkeit begeistert werden konnte. Die Basis der Labour Party und die Gewerkschaften werden stark kämpfen müssen, um Corbyn gegen die Parlamentsfraktion und alle Bestrebungen zu seinem Sturz zu verteidigen.
Wenn Labour eine vermutlich Ende des Jahres zu erwartende Wahl gegen eine Tory-Partei unter neuer und nach rechts driftender Führung unter Boris Johnson / Michael Gove mit einem Programm zur Einwanderungsbegrenzung, das behauptet, den Willen des Referendums zu verkörpern, gewinnen will, so kann dies nur mit einem radikalen linken Programm gelingen, das Sparpolitik in allen ihren Formen ablehnt und die Rechte von Migranten und allen Arbeitenden unterstützt..
Wenn Corbyn bereit ist, auf einer solchen Plattform zu kämpfen, was wir von ihm erwarten, sollte die Linke voll und ganz hinter ihm stehen.
Übersetzung und Anmerkungen: Björn Mertens Socialist Resistance ist eine ökosozialistische, feministische, revolutionäre Organisation und britische Sektion der IV. Internationale |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz