Protektionismus

Können Grenzen die ArbeiterInnen schützen?

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beschränken sich nicht auf die verbale Ebene, sondern haben immer schonungslosere konkrete Auswirkungen. Müssen wir uns darauf gefasst machen, dass die protektionistischen „Versprechen“ – wenn auch nur Schritt für Schritt – umgesetzt werden? Entspricht die in Frankreich und anderenorts immer häufiger zu hörende Forderung nach einem Zurück zu Handelsschranken gewissermaßen einer realen Entwicklung des Kapitalismus, veränderten Erfordernissen von maßgeblichen Teilen der Bourgeoisie? Kann es umgekehrt einen Linksprotektionismus geben?

Yann Cézard


Die kapitalistische Globalisierung hält an


Manche Ökonomen versichern, wir erlebten heute eine Umkehr der großen wirtschaftlichen Globalisierungsbewegung, die vor 30 Jahren begonnen hat. Das behauptet beispielsweise François Lenglet, berühmt für seine Rolle als scharfer Wächter über den ökonomischen Konformismus auf dem TV-Sender France 2. Zwar ist er weder der brillanteste noch der intellektuell redlichste Ökonom, aber er ist sowas wie ein Gradmesser für die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der „bürgerlichen“ Ökonomie anerkannten Ansichten.

In seinem letzten Buch mit dem Titel „Das Ende der Globalisierung“ – ohne Fragezeichen – beteuert er: „Die Zeichen deuten immer klarer darauf hin: Die aktuelle Phase der Globalisierung kommt an ihr Ende. Die in den 80er-Jahren mit dem weltweiten Börsensystem und dem Fall der Berliner Mauer beginnende Globalisierung beruhte auf der Utopie einer durch Freihandel vereinten, von Markt und Demokratie gelenkten Welt. Doch heute erleben protektionistische Strömungen einen Wiederaufschwung (…). Wir befinden uns am Ende eines Zyklus.“

Dabei fackelt er nicht lange. Tatsächlich folgt auf eine massive und spektakuläre Entwicklung im Wachstum des Welthandels (und der internationalen Kapitalflüsse) in den letzten dreißig Jahren, die das Wachstum des globalen BIP übertrafen (der Anteil des Welthandels am globalen BIP stieg zwischen 1975 und 2002 von 7,7 auf 19,5 %), nun eine Verlangsamung … dieses Wachstums, das hinter das BIP zurückfällt. Eine Folge der Krise von 2008? Zweifellos, aber vor allem das Ergebnis des Erfolgs der kapitalistischen Globalisierung selbst, die bereits so weit vorangeschritten ist, dass sie logischerweise an eine Obergrenze stoßen muss, was sich unter anderem darin äußert, dass die Staaten bei der Aushandlung neuer Freihandelsverträge kaum vorankommen.

Denn die internationale Segmentierung der Wirtschaft lässt sich nicht unendlich ausbauen, die Dienstleistungen lassen sich nicht im gleichen Maß international organisieren wie die Industrie, China muss zwangsläufig ein auf den eigenen Binnenkonsum orientiertes Wachstumsmodell zu entwickeln versuchen und die Durchlässigkeit der Märkte der reichen Länder für Waren der Schwellenländer stößt an Grenzen. Doch eine wirkliche Umkehr in Bezug auf das globalisierte Funktionieren der Wirtschaft gibt es nicht. Keine Hinterfragung der internationalistischen Strukturierung der Multis, der Marktöffnung der reichen Länder für Industrieerzeugnisse aus armen industrialisierten Ländern, der Überflutung der armen Länder durch ausländische Lebensmittel und erst recht nicht der freien Kapitalzirkulation etc. Eine Umkehr der kapitalistischen Globalisierung findet nicht statt, wohl aber eine Verlangsamung und Neukonfigurierung.


Die Demagogen nicht beim Wort nehmen


Was ist also davon zu halten, wenn manche amerikanischen und europäischen PolitikerInnen wie Trump oder die britischen Brexit-Betreiber mit nationalistischen Äußerungen um sich schlagen, obwohl sie der Großbourgeoisie angehören? Natürlich wollen sich diese politischen Abenteurer über die Demagogie den Weg zur Macht bahnen, und sie wissen, dass der übliche Diskurs des bürgerlichen Establishments, wonach es nötig sei, sich unter Blut und Tränen der Globalisierung, dem verallgemeinerten Freihandel und der internationalen Konkurrenz anzupassen, die als unvermeidliche Naturphänomene hingestellt werden, fast nur noch Widerwillen hervorrufen. Doch wir sollten sie nicht beim Wort nehmen.

Bislang hat kein maßgeblicher Sektor der Bourgeoisie in Europa oder den Vereinigten Staaten die Absicht, den gegenwärtigen Freihandel infrage zu stellen. Denn die kapitalistische Globalisierung ist ein „Glücksfall“ oder eine „Chance“ für die herrschenden Klassen, und das aktuelle Funktionieren des seit jeher auf Freihandel und freie Zirkulation des Kapitals gestützten Systems hat ihm immense Profite beschert, indem es den Unternehmen erlaubt hat, alle Ressourcen der Welt und vor allem die Menschen besser auszubeuten und zudem die ArbeiterInnen, die Staaten und die Sozialsysteme weltweit gegeneinander auszuspielen.

Dagegen werden die Großhändler des nationalistischen Giftes nichts unternehmen. Das vertuschen die Brexit-Betreiber auch nicht. Sie haben eine Überwindung der „europäischen Gesetze“ versprochen und vor allem den Einwanderungsstopp von MigrantInnen aus Osteuropa, sich aber gleichzeitig zum Freihandel bekannt. Sie behaupten, es sei möglich, beides zu bekommen: Das Ende der Personenfreizügigkeit und den Zugang zum europäischen Markt für britische Dienstleistungen und Waren, und dass Großbritannien sogar freier wäre, neue Freihandelsverträge mit dem Rest der Welt auszuhandeln. Nicht die Hinterfragung der Tugenden des Freihandels prägte die Brexit-Kampagne, sondern Fremdenfeindlichkeit. Und wenn ein Teil des Politpersonals der britischen Bourgeoisie gegen die Empfehlungen des Großkapitals und der Hochfinanz in der City of London für den Brexit geworben hat, dann deshalb, weil der Austritt aus der Europäischen Union für den britischen Kapitalismus nicht dieselben Probleme aufwirft wie für Deutschland, Frankreich oder Spanien.

Anders liegt es beim Wahlkampf von Donald Trump: Er verspricht gleichzeitig, mexikanische MigrantInnen zu vertreiben und chinesische Produkte zu besteuern. Wetten wir, dass das erste „Versprechen“ eher Chancen hat, ansatzweise umgesetzt zu werden, als das zweite, und auch dann wird es (zum Glück) wenigstens teilweise gebrochen werden, denn die amerikanische Bourgeoisie (und selbst das Kleinbürgertum) wären nicht glücklich, ganz auf diese übermäßig ausbeutbaren Arbeitskräfte verzichten zu müssen. Davon weiß der Immobilien- und Kasinomagnat Trump ein Lied zu singen.

Trump lügt also schamlos, was ihn in unserer Klassifizierung von bürgerlichen Politmonstern in die Nähe des Front National rückt. Die rechtsextreme französische Partei verspricht ebenfalls eine sowohl protektionistische als auch fremdenfeindliche Politik und präsentiert beide stets als zwei Seiten einer Medaille, gegen die „Globalisierer“. Diese massive Infragestellung des Freihandels (und der Europäischen Union) kann sich die Partei auch deshalb erlauben, weil sie sich relativ weit weg von der Regierungsmacht sieht. Dagegen beginnt sie diese Propaganda immer mehr aufzuweichen, je mehr sie Wahlerfolge erzielt und in Umfragen gut abschneidet: Marine Le Pen spricht inzwischen von „intelligentem Protektionismus“ …


Die neuen Grenzen der kapitalistischen Globalisierung


Auch wenn die Bourgeoisie genauso wenig wie Milliardäre und Politdemagogen à la Trump drauf und dran ist, den gegenwärtigen Freihandel radikal infrage zu stellen, lässt sich dieser doch vereinbaren mit dem Errichten neuer politischer Grenzen und, wie man heute sieht, sogar mit Tausenden von Kilometern Stacheldraht und Wachtürmen. Diese traurige Feststellung macht Régis Debray in dem 2010 veröffentlichten, im Übrigen betrüblichen Büchlein „Eloge des Frontières“ (Lob der Grenzen, S. 18): „Nie zuvor wurden auf der Erdoberfläche so viele Grenzen gezogen wie in den letzten fünfzig Jahren. Seit 1991 wurden 27 000 Kilometer neue Grenzen gezogen, speziell in Europa und Eurasien. Für die nächsten Jahre sind zehntausend weitere raffinierte Mauern, Barrieren und Zäune geplant (…). Ein obszönes Fossil, diese Grenze, die sich aber wie wild gebärdet.“

Die kapitalistische Globalisierung ist mit dieser Entwicklung nicht nur nicht unvereinbar, sie leistet ihr sogar Vorschub. Der Kapitalismus, der sich weltweit überall frei entfalten kann, wie und wo er will, spaltet die Völker, vertieft Ungleichheiten, konzentriert Reichtum und Armut und verdammt Millionen dazu, dem Elend in ihrem Land zu entfliehen, um gegen die Stacheldrahtverhaue der reichen Länder anzurennen. Selbst die Europäische Union bietet innerhalb ihrer Grenzen zwischen den zugehörigen Völkern ein flagrantes Beispiel dafür. In der von der weltweiten Schwäche der ArbeiterInnenbewegung entstandenen Leere fassen natürlich auch Angehörige der herrschenden Klassen, Zuträger und Nutznießer dieses Systems, und zwar nicht nur auf der extrem rechten Seite, Fuß, um die dadurch entstandene Verunsicherung der Lohnabhängigen auszunutzen. Deshalb diese Stacheldrahtzäune gegen Flüchtlinge, die man sich gegenseitig zuschanzt; daher auch fast überall der aufkommende Mikronationalismus der Reichen.


Der Aufstieg des „linken“ Protektionismus


Soll denn die Arbeiterklasse ihrerseits von der Wiederherstellung von Handelsgrenzen träumen, nur weil die Bourgeoisie vorläufig die momentane Globalisierung sicher nicht widerrufen will? Muss man nunmehr für den Protektionismus eintreten, um „links“ zu sein? Auch wenn dieser Begriff nicht mehr (bzw. noch weniger als früher) besonders aussagekräftig ist, es sei denn, man versteht darunter, die Verteidigung der Gesamtinteressen der lohnabhängigen Bevölkerung. Ungeachtet ihrer Nationalität, übrigens.

Bekanntlich versteht sich Mélenchon als Kandidat der „französischen Unabhängigkeitsbewegung“ und Montebourg als jener des „Made in France“. François Ruffin, Herausgeber der alternativen Zeitschrift Fakir, macht sich für einen Protektionismus zur Verteidigung der ArbeiterInnen und ihrer Fabriken stark und der Ökonom Frédéric Lordon für einen Linksnationalismus. Und diese Ideen finden unter den ArbeiterInnen, insbesondere in Gewerkschaftskreisen, immer mehr Gehör.

Es geht hier nicht darum, alle über einen Kamm zu scheren. In diesem Zusammenhang sei auf den Artikel von Régine Vinon in diesem Dossier (Wider den Linksnationalismus, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017)) verwiesen, die beschreibt, welche möglichen politischen Abgründe solche Vorstellungen eines „Linksprotektionismus“ hervorbringen können: wenn Mélenchon sich am Exporterfolg der Rafale [1] berauscht, oder wenn der Ökonom Jacques Sapir, Verfasser von „La Démondialisation“ (die Entglobalisierung) – ein Titel, den in der Folge Montebourg vor fünf Jahren aufgegriffen hat –, vorschlägt, eine „Front der Fronten“ zu bilden, also eine Querfront von Front de gauche und Front national, um die nationale Souveränität wiederherzustellen und danach im wiederhergestellten nationalen Rahmen „tatsächliche Wahlmöglichkeiten“ zu schaffen etc.

Es geht auch nicht darum, diese in der Arbeiterbewegung immer lebhafter geführte Diskussion vom Tisch zu wischen, weil wir als internationalistische Revolutionäre auf keinen Fall für Grenzen an sich sein dürfen. Die Zukunft der Menschheit kann nicht in der Wiederherstellung von Grenzen vergangener Zeiten liegen und der wirtschaftliche und ökologische Fortschritt nicht in einer allgemeinen Abkapselung, selbst wenn antikapitalistische RevolutionärInnen in einer Zwangslage zunächst durchaus eine wirtschaftliche Abschottung vorsehen können, wie dies beispielsweise das revolutionäre Russland getan hat. Das zentrale Problem ist aber gerade, in dieser Frage des Protektionismus einen Klassenstandpunkt herausfiltern zu können, nämlich einen Standpunkt der ArbeiterInnenklasse, genauer gesagt, ihrer Interessen.

Offensichtlich gibt es keinen speziellen Grund für die ArbeiterInnenklasse in Frankreich und anderen Ländern, an der kapitalistischen Globalisierung und dem momentanen Freihandel zu hängen. Schon viel zu lange verspricht man uns eine „glückliche Globalisierung“ im Interesse (fast) aller etc. Wie es darum bestellt ist, wissen wir wohl, denn die Finanzgruppen und Multis haben sich hinreichend darum bemüht, diese neue Weltwirtschaft zu errichten, um die ArbeiterInnen in aller Welt immer noch mehr auszubeuten. Dasselbe lässt sich zwar nicht über „Europa“ an sich, aber über die real existierende Europäische Union sagen, ein wirtschaftlich ausgesprochen neoliberales und politisch ausgesprochen autoritäres Konstrukt, gewissermaßen das politische Verhandlungsergebnis einer gewissermaßen „heiligen Allianz“ aus kapitalistischen Großkonzernen, Banken und („deren“, wie man getrost sagen kann) nationalen Regierungen.

Noch einmal soll der bereits hinlänglich zitierte François Lenglet zu Wort kommen, der, nachdem er von einer „Ungleichheit generierenden Maschine“ in „permanenter Krise“ mit nachweislich antidemokratischen Auswüchsen spricht, feststellt: „Der Globalisierung muss man nicht nachtrauern. Trotz des unbestreitbaren Aufholeffekts in armen Ländern haben letztlich nur wenige davon profitiert.“ Wenn schon er das sagt … Wobei festzuhalten gilt, dass nicht die Globalisierung selbst für alle Übel des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden kann und es andererseits ihre kapitalistische Ausrichtung ist, die für ihre abschreckendsten Züge in sozialer und ökologischer Hinsicht verantwortlich ist. Und dass sie sogar, wie Henri Wilno im gleichen Dossier zeigt, reichlich ambivalent ist.

Trotzdem: Was würde es beispielsweise den ArbeiterInnen in Frankreich bringen, die protektionistischen Thesen zu übernehmen?


Alstom – eine erhellende Affäre


Das französische Unternehmen beschließt, seine Fabrik in Belfort zu schließen. 450 Stellen sind futsch. Ein schönes Symbol der französischen Deindustrialisierung. Marion Maréchal Le Pen (um der Einfachheit halber nur von ihr zu sprechen) ergreift die Gelegenheit, um zu fordern, die Aufträge von Bahn (SNCF) und Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) seien ausschließlich an Alstom zu vergeben. Der „nationale Vorrang“ als Monopol eines Privatunternehmens, um Stellen zu retten. Die Absurdität des Vorschlags springt ins Auge: Das kanadische Unternehmen Bombardier würde bei der Auftragsvergabe also ausgeschlossen …, obwohl es die größte Fabrik für Eisenbahnausstattungen in Frankreich betreibt? Allgemeiner gesprochen würde eine solche nationale Exklusivität von Aufträgen natürlich internationale Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen. Alstom würde im Gegenzug den Zugang zu ausländischen Märkten verlieren, deren Volumen über dem des französischen Binnenmarktes liegt.

Deshalb haben Andere realistischere Maßnahmen vorgeschlagen, wie beispielsweise ... der Gruppe durch neue Aufträge oder Einschießen von öffentlichem Kapital zu helfen, wenn nicht sogar längerfristig auf den Aufbau eines Protektionismus auf europäischer Ebene hinzuwirken: Europäische Aufträge für Eisenbahnmaterial sollten Unternehmen – ob europäisch oder nicht – vorbehalten sein, die sich verpflichten, auf europäischem Boden zu produzieren, ähnlich wie die US-amerikanische Regierung vorgegangen ist, damit (eben) Alstom den riesigen Vertrag für die Hochgeschwindigkeitsstrecke Boston–Washington bekommt, nämlich unter der Bedingung, dass die Züge an den amerikanischen Standorten des Konzerns gebaut werden.

So viel zur Schwierigkeit des Protektionismus in einer sowieso globalisierten Wirtschaft … Was aber liegt all diesen Vorschlägen gleichermaßen zugrunde? Das Eigentum und die Macht der Aktionäre der Alstom-Gruppe zu hinterfragen, davon ist nie die Rede.

Die Alstom-ArbeiterInnen tun gut daran, in erster Linie auf sich selbst zu setzen und auf die Unterstützung, die sie in der Bevölkerung gewinnen können. Das wissen sie selbst zur Genüge. Wer glaubt 2016 noch an die seinerzeitigen Versprechen der Sarkozys und Hollandes, die Stahlwerke Gandrange und Florange zu retten? Demnach müsste unabhängig von den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten des Augenblicks die Erhaltung der Arbeitsplätze durchgesetzt, also deren Finanzierung garantiert werden. Aber dafür müsste man auf die internationalen Profite der Gruppe zugreifen und sogar auf das Vermögen, das die AktionärInnen jahrzehntelang auf unsere Kosten angehäuft haben.

Langfristig müsste eine radikale Änderung des Wirtschaftsapparats durchgesetzt werden, angefangen bei der Beschlagnahmung von Alstom (oder deren Vergesellschaftung, Nationalisierung oder wie immer man es nennen mag, solange dies unter Kontrolle der ArbeiterInnen und der Bevölkerung geschieht und nicht unter Kontrolle von Regierungen, die für die Bourgeoisie arbeiten). Langfristig wäre auf alle Fälle die Vergesellschaftung des ganzen französischen Finanzsystems erforderlich, um die Produktion in den Dienst der Bevölkerung und ihrer sozialen und ökologischen Interessen zu stellen.

Ansonsten erwartet die Angestellten von Alstom eine traurige Alternative: Entweder es läuft so ab wie bei Continental, PSA, den lothringischen Stahlwerken und so vielen anderen Fabriken in Frankreich, die trotz allgemeinen Unmuts (und der hochtönenden Reden der jeweils Regierenden) letztlich geschlossen wurden; oder Hollande, wenn er bereits im Wahlkampf wäre, würde sich dazu durchringen, „keine Kosten zu scheuen“ und konkret den PrivataktionärInnen von Alstom einen kleinen Geldbetrag in Form von als Aufträge für Waggons getarnten Subventionen zukommen zu lassen, um Stellen zu sichern – für acht Monate.

Danach wäre wieder business as usual: Nach einer Übergangsphase mit „nationalem Kapital“ und „wirtschaftlicher Souveränität“, das heißt in Wirklichkeit öffentlichen Subventionen für private kapitalistische Konzerne über begrenzte Zeit, wäre der Alstom-Leitung erneut freigestellt, ihren Laden zur Generierung von Profit umzustrukturieren. Schließlich kann man die Stellen doch nicht unendlich lange am Tropf der Steuergelder hängen lassen, nicht wahr … So sieht die ganze Geschichte der französischen Industrie, allen voran des Alstom-Konzerns, aus!


Die Illusion eines nationalen Kapitalismus


Was für Alstom gilt, gilt für die gesamte Wirtschaft. Der wiedergefundene, mit „intelligentem Nationalismus“ und „wirtschaftlicher Souveränität“ gekreuzte „nationale Kapitalismus“ ist eine Falle. Das Problem ist nicht, zwischen „reinem“ Liberalismus und staatlichen Subventionen für Privatkonzerne, zwischen Freihandel und Protektionismus etc. zu wählen. Nicht darum geht es, in einen Wettlauf um die Wiederaufrüstung der Zölle einzusteigen, um Grenzen für ausländische Waren zu errichten oder zu verstärken, was zwangsläufig alle gleich machen würden, sondern darum, dem Kapital Grenzen zu setzen. Das Recht einzuschränken (oder warum nicht ganz aufheben), nach Belieben überall zirkulieren und nach Belieben entscheiden zu können, wo man produziert, Steuern und Beiträge zahlt, ArbeiterInnen und Gebiete gegeneinander ausspielt, sie ausbeutet und Profit erwirtschaftet.

Wenn PolitikerInnen, die ganz und gar hinter dem Kapitalismus und den Interessen der herrschenden Klasse stehen, protektionistische Argumente anführen, tun sie das sehr bewusst. Sie nutzen sowohl Vorurteile als auch den gut nachvollziehbaren Überdruss über das verlogene Geschwafel derer aus, die eine strahlende Zukunft in Aussicht gestellt haben, sofern man sich nur den „modernen Zeiten“ des Freihandels, der Globalisierung „anpassen würde“ etc., und verschieben das Problem dorthin, wo es keine Lösung gibt, oder zumindest nicht für die ArbeiterInnen. Genau deshalb sprechen die nationalistischen Demagogen, die an den Lippen der Bourgeoisie hängen, fast nie von dem, was doch die Hauptstütze der gegenwärtigen Globalisierung (und übrigens auch der Europäischen Union) ist: die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs.

Wenn Intellektuelle, GewerkschafterInnen und PolitikerInnen, die sich als „links“ oder als „linksradikal“ verstehen, an diesem Diskurs anknüpfen (genauer gesagt: diese Maßnahmen erwähnen, ohne eine davon untrennbare radikal antikapitalistische Politik zu fordern), tragen sie, ob naiv oder zynisch, dazu bei, dass die Probleme nicht dort angepackt werden, wo es nötig wäre, und nehmen in Kauf, dass sich das nationalistische Gift noch mehr ausbreitet. Was nicht bedeutet, dass man den beschaulichen Agnostiker spielen sollte, was den wahren Charakter der Europäischen Union betrifft, oder sich nicht für den Kampf gegen den TTIP-Vertrag interessieren sollte, der als Freihandelsabkommen die großen kapitalistischen Konzerne ja gerade von allen Sozial- und Umweltauflagen befreien soll und ein Schiedsgericht einführt, das den Multis erlauben würde, Staaten verurteilen zu lassen, wenn sie ihre Profite einschränken, indem sie so unerträgliche, so totalitäre Regeln einführen wie die Zahlung eines Minimums an Steuern oder das Verbot, Menschen allzu sehr zu vergiften …

      
Mehr dazu
Marty Hart-Landsberg: Trumps Wirtschaftspolitik ist keine Antwort auf unsere Probleme, die internationale Nr. 3/2017 (Mai/Juni 2017).
Jakob Schäfer: Protektionismus kontra Kapitallogik, die internationale Nr. 3/2017 (Mai/Juni 2017).
Henri Wilno: Freihandel als globalisierte Konkurrenz gegen die Lohnabhängigen, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017).
Henri Wilno: Entsandte Arbeiter_innen: Ausgebeutete, keine Konkurrent_innen!, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017).
Henri Wilno: Marx und Jaurès über Zollschranken, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017).
Gérard Florenson: Freihandel und Schutzzölle in der Landwirtschaft, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017).
Régine Vinon: Wider den Linksnationalismus, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017).
Jim Porter: Krise des Kapitalismus . Protektionistischer Sirenengesang, Inprekorr Nr. 450/451 (Mai/Juni 2009).
Interview mit Michel Husson und Jacques Sapir: Der Protektionismus als Mittel alternativer Politik?, Inprekorr Nr. 424/425 (März/April 2007).
 

Plan A, Plan B ...


Dabei geht es gerade aber auch um „vorausschauende“ Alternativszenarien, Plan A und Plan B, was gerade im Fall der Europäischen Union besonders krass zutage tritt. Das „linke Souveränitätsdenken“ behauptet in gewisser Weise nicht nur, dass es keine mit den aktuellen Institutionen der Europäischen Union vereinbare fortschrittliche, die ArbeiterInnen schützende Politik geben kann, was ja weitgehend zutrifft, sondern auch, dass man vorab als eine Art „übergeordnete (und vorrangige) Notmaßnahme“ zuerst aus der EU austreten müsste. Danach würde wieder alles möglich …

Ist es nicht gefährlich (und verantwortungslos), die Sachlage in dieser Weise darzustellen, wo heute unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen in Europa und den Vereinigten Staaten durch solche „Brüche“, die die „nationalen Souveränitäten“ wiederherstellen würden (die im Übrigen auch nie verschwunden waren, denkt man nur an die nationalen Regierungen, die sehr genau wissen, was sie tun, und dies mit Inbrunst verfolgen), aller Voraussicht nach reaktionäre politische Kräfte an die Macht kämen, die den ArbeiterInnen für die „Heimat“ (und den Franc) genauso viele Opfer abverlangen würden wie vorher, um sich sozusagen „der Welt (Europa, dem Euro) anzupassen“?

Ist es überdies nicht erwiesen, dass der große Fehler etwa der Regierung Syriza in Griechenland nicht nur darin bestand, angesichts der Erpressungen der anderen europäischen Regierungen und der internationalen Finanzkonzerne den Austritt aus der Europäischen Union und dem Euro nicht vorbereitet zu haben, sondern darüber hinaus nicht einmal Maßnahmen vorgesehen zu haben, um die Kontrolle über das griechische Kapital, die griechischen Banken etc. zu übernehmen? Ohne solche vorangehenden antikapitalistischen Maßnahmen war es unvermeidbar, dass die Beibehaltung des Euro wie auch die Rückkehr zur Drachme der lohnabhängigen Bevölkerung nur Blut und Tränen bringen und diese reformistische Linke zur „Ohnmacht“ verdammen musste.

Der Macht des Kapitals zumindest Grenzen zu setzen, von diesem (Klassen-)Standpunkt könnte man vernünftigerweise in der heutigen Welt den traditionellen Dreisatz des Marxismus übernehmen: Personenfreizügigkeit ja, Freizügigkeit des Kapitals nein, freie Warenzirkulation je nachdem.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die Rafale (französisch für Böe oder Windstoß) ist ein zweistrahliges Mehrzweckkampfflugzeug des französischen Herstellers Dassault Aviation (nach Wikipedia)