In der radikalen Linken macht sich zunehmend ein nationalistischer Unterton breit, bspw. bei Jean-Luc Mélenchon, Frédéric Lordon oder Jacques Nikonoff, dem ehemaligen Kodirektor von Attac. Angeblich gäbe es in Frankreich ein Problem, wieder zur nationalen Souveränität zu finden – nicht im Sinne des Front national, sondern von einer linken, antikapitalistischen Warte aus.
Régine Vinon
Die Herrschaft Deutschlands über Europa und besonders über Griechenland führt angeblich dazu, dass wir unseren freien Willen aufgegeben und uns den Befehlen der EU, konkret dem Hegemon Deutschland untergeordnet haben. Mag diese Argumentation auch nicht neu sein, scheint sie nach der Krise in Griechenland doch stärker auf und manche behaupten gar, dass Stimmverluste des Front de gauche an den Front national auf uneindeutige Positionen zu Freihandel, EU und nationaler Souveränität zurückzuführen seien und dass wir unsere nationale Souveränität wiedererlangen müssten. Das kapitalistische System steckt in einer tiefen und lang anhaltenden Krise, die eigentlich nach einem Sturz des alten und seiner Ersetzung durch ein neues System schreit, und da kommen Leute daher, die uns die alte Leier der Volkssouveränität als fortschrittlich Idee verkaufen wollen, die uns aus der Misere rettet.
Da sind sich die Befürworter uneinig. Laut F. Lordon muss man auf die Französische Revolution zurückgehen und sich auf die souveräne Nation von 1789 beziehen, die „für alle Bürger gilt und insofern links ist. Und nur, weil sich die Linke unverständlicherweise von dieser Idee verabschiedet hat, gilt sie inzwischen als ausschließlich rechtes Gedankengut.“ Lordon folgert daraus, dass man sich die Idee wieder zu eigen machen müsse und sie nicht der Rechten überlassen dürfe.
Die „Deglobalisierungspartei“ (Pardem) [1] des ehemaligen PCF-Mitglieds Nikonoff meint: „Die nationale Souveränität gehört dem Volk als res publica, direkt oder über seine Vertreter, die Abgeordneten. Mit dem neuen Arbeitsgesetz (loi El Khomri) geht diese Souveränität in die Hände des Unternehmerverbandes Medef über […] und die Abgeordneten haben das Volk, das sie gewählt hat, mit ihrer Zustimmung zu dem Gesetz verraten.“ Hier wird die Illusion verbreitet, dass das Volk durch das Parlament an der Macht sei und diese Volksvertreter ihre Verpflichtungen verraten hätten. Also bräuchte man nur sein Kreuz an der richtigen Stelle zu machen und man hätte sich die gestohlene Macht wieder zurückerobert.
Mélenchon hingegen hat sich ganz und gar auf Deutschland eingeschossen. Am 23. August erklärte er in Journal du Dimanche: „Wenn es gilt, zwischen dem Euro und der nationalen Souveränität zu wählen, dann wähle ich die nationale Souveränität. Es gibt letztlich keinen Grund, weswegen wir Franzosen den Deutschen nachgeben sollten.“ Er bedient damit wieder einmal alle abgelutschten Klischees über Deutschland, seinen bevorzugten Sündenbock, der ihm dazu dient, nicht nach dem Naheliegenden zu sehen, nämlich den französischen Kapitalisten, die ja außen vor bleiben, da der Bösewicht allein der Deutsche ist. Dies weckt eher peinliche Erinnerungen an einen hemmungslosen Nationalismus.
Alle Linksnationalisten prügeln aus Leibeskräften auf Deutschland ein, weil dies angeblich allen anderen seine Gesetze aufzwingt. Da jedoch kein Krieg herrscht, müssen wundersame Mächte am Werk sein. Wie sollte denn ein Land alle anderen beherrschen? Darüber hüllen sich die Verfechter dieser These in Schweigen.
Dabei liegt die Erklärung auf der Hand, wenn man die allseits zugänglichen ökonomischen Rahmendaten ein wenig zu Rate zieht: Der deutsche Imperialismus beherrscht Europa auf wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland liegt in seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit weit vor Frankreich und der Abstand nimmt weiter zu, wie die folgenden Beispiele zeigen. Der Gesamtbestand an Ausrüstungsmaschinen, die jünger als 15 Jahre sind, hat sich in Frankreich um 10 000 Stück verringert, während er sich im selben Zeitraum in Deutschland von einem ohnehin besseren Ausgangsniveau aus um 95 000 Stück erhöht hat. Der französische Produktionsapparat veraltet zusehends. Im Vergleich zu Deutschland liegt Frankreich 5–7 Jahre zurück, was die Modernisierung der Industrieanlagen betrifft, sagt der Maschinenbauunternehmerverband. Die Gründe für die Deindustrialisierung Frankreichs und sein hohes Außenhandelsdefizit liegen in der Schwäche seiner Industrie, die wiederum auf staatliche und unternehmenspolitische Entscheidungen zurückzuführen ist, wonach eher die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktionäre (shareholder value) bedient werden, anstatt langfristige produktive Investitionen zu tätigen.
Dieser ökonomische Rückstand Frankreichs ist für die Vorherrschaft Deutschlands in Europa mitverantwortlich. Die unstillbare Gier der französischen Großkonzerne nach der „schnellen Mark“ veranlasst sie, auf Teufel komm raus und zum Schaden der Industrie des Landes die Produktion auf neue Standorte in jedem beliebigen Land zu verlagern. Das sog. „Vaterland“ spielt dabei keine Rolle.
So einfach ist das. Aber wer nicht sehen will, der sieht nicht. Mélenchon liefert dazu eine für ihn typische Erklärung. In seinem Buch Der Bismarckhering schreibt er, dass die Mehrzahl der französischen Politiker durch die deutsche Wirtschaftsdoktrin infiziert und handlungsunfähig geworden ist. Ausgerechnet die Politiker, die mit Haut und Haaren die Interessen der Kapitalkonzerne verteidigen? Von wegen! Die französischen Kapitalisten glauben, dass ein Austritt aus dem Euro ihnen viel mehr Nachteile als Vorteile bringen würde, da ihre multinationalen Konzerne vom europäischen Binnenmarkt stark profitiert haben und dies noch immer tun. Und die deutsche Vormachtstellung kommt ihnen gut zupass, weil sie sich so hinter der EU verschanzen können, wenn sie zur Mehrung ihrer Profite den französischen „Proleten“ ans Leder gehen und deren hart erkämpfte soziale Errungenschaften kassieren wollen.
Dieses Phänomen gilt für den Kapitalismus weltweit und die französischen Eliten brauchen darin keinerlei Nachhilfe seitens Deutschlands. Und die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den französischen und deutschen Großkonzernen hindert sie keineswegs daran, in gegenseitigem Einverständnis dem gemeinen Volk die Krisenlasten aufzudrücken. Bestens veranschaulichen dies die Ein-Euro- Jobs und die wachsende Armut von großen Teilen der deutschen Bevölkerung. Die deutschen und die französischen Kapitalisten mögen sich gegenseitig bekriegen, aber in erster Linie geht es bei beiden gegen die Arbeiterklasse in diesen Ländern. Die Austeritätsmaßnahmen gleichen sich überall in Europa und auf der Welt.
Frédéric Lordon bemüht die Französische Revolution als Vorbild und geht dabei ganz locker über den Klassencharakter dieser Revolution hinweg. Sich heute darauf zu beziehen, ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Gesellschaft damals radikal umgewälzt wurde und das alte Regime mit aller Konsequenz verjagt wurde. Dasselbe gilt auch für die Revolutionäre der Arbeiterbewegung, von Marx bis Lenin oder Trotzki, die sehr wohl verstanden hatten, wie die Nationen geschichtlich entstanden sind und dass sie gegenüber dem Feudalismus und der damals herrschenden Kleinstaaterei sehr wohl einen Fortschritt darstellten und dass der Kampf für die nationale Souveränität von einer Bourgeoisie geführt wurde, die im Aufstieg begriffen war.
Zugleich aber wurden diese vereinigten Nationen durch die Bourgeoisie kontrolliert, die ihre Eigeninteressen als solche der ganzen Nation ausgaben. Daher berief sich auch die republikanische Bourgeoisie auf die Volkssouveränität, als sie das Proletariat während der Revolutionen von 1830 und 1848 auf die Barrikaden schickte, um sie anschließend wieder zu entmachten. Aus bitterer Erfahrung begriff die Arbeiterbewegung rasch, dass sie ihre eigenen Interessen von denen der Bourgeoisie zu trennen hatte, auch wenn diese damals noch in ihrer revolutionären Phase steckte. Ebenso verstanden sie, dass mit den Begriffen „Volk“, „Nation“ und „nationale Souveränität“ nur die Klassengegensätze verkleistert werden sollten. Und wenn heute jemand diese Begriffe hoch hält, dann bedeutet dies schlichtweg, sich über deren Klassencharakter hinwegzusetzen.
Marx schrieb bereits 1848: „Die neue französische Revolution ist gezwungen, sofort den nationalen Boden zu verlassen und das europäische Terrain zu erobern, auf dem allein die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts sich durchführen kann.“ [2] Wenn dies 1848 zutraf, dann erst recht heute im Zeitalter der Globalisierung. Die nationale Souveränität hat schon längst jede fortschrittliche Seite verloren, auch wenn sie mit dem Prädikat „links“ versehen wird, was ohnehin wenig besagt, wenn eine sog. „sozialistische“ Regierung eine rücksichtlose neoliberale Politik im Land betreibt.
Es gibt keine linke oder rechte Nation, sondern nur einen Staat in den Händen der Kapitalisten, in dem die Bevölkerung außen vor ist, selbst wenn sie ihr Wahlrecht ausübt. Und sollte sie protestieren, wie dies in den vergangenen Monaten gegen das Arbeitsgesetz der Fall war, wird deutlich, wem sie gegenübersteht, nämlich der Polizei, die im Bedarfsfall das letzte Bollwerk der bürgerlichen nationalen Souveränität darstellt.
Dass die Bourgeois auch in den Zeiten der multinationalen Konzerne und der Globalisierung von Handel und Produktion noch immer ihren jeweiligen Nationalstaat brauchen, liegt daran, dass sie mit dessen Hilfe neue Märkte erobern wollen. Zudem waren es diese Staaten, die nach der Krise von 2008 Milliarden in die Wirtschaft gepumpt und die Automobilkonzerne und andere Wirtschaftszweige subventioniert haben, ohne die Aktionäre nur im Geringsten zu belasten. Die Folgen waren Haushaltskürzungen für alle öffentlichen Dienste und eine repressivere Politik gegen alle Aufmüpfigen. Und so schließt sich der Kreis zwischen Staat und Nation.
Volkssouveränität und Rückbesinnung auf die Nation sind Begriffe, die nicht links sein können, zumindest wenn man unter links nicht die „Linke“ an der Regierung versteht, sondern ein soziales Lager, nämlich das der Ausgebeuteten. Hinter der „Nation“ verbergen sich die Klassenunterschiede, die inzwischen gravierender denn je sind. Wir sollen bloß glauben gemacht werden, dass wir mit unseren Ausbeutern gemeinsame Interessen haben und dass – wie Mélenchon meint – nicht die eigene Bourgeoisie im Land unser Feind ist, sondern die konkurrierenden Staaten, d. h. die anderen Imperialisten. Indem er sich jedoch stets auf den Kapitalismus „im Ausland“, ob deutsch oder US-amerikanisch, kapriziert, stimmt Mélenchon in das nationalistische Alarmgeheul ein. Er wischt die Klassenunterschiede beiseite, schiebt den „vaterlandslosen Finanzhaien“ die Verantwortung für die Krise und die Austeritätspolitik in die Schuhe und wäscht en passant die französischen Kapitalisten und ihre politischen Handlanger rein.
Frédéric Lordon prügelt ausdrücklich auf den sog. „Scheininternationalismus“ ein, nämlich „gewisse revolutionäre Internationalisten, die von vornherein jeden Lösungsansatz in einem einzelnen Land verdammen und stattdessen Gewehr bei Fuß darauf warten, dass sich die ganze Welt zugleich erhebt, bevor sie irgendeine Initiative ergreifen“. Indem er die internationalistischen Positionen ins Lächerliche zieht, will er bloß eine Politik salonfähig machen, die sich in erster Linie auf den Rahmen der Nation beschränkt. Dabei wissen die von ihm dergestalt geschmähten Revolutionäre in Frankreich sehr wohl, dass der Kampf zunächst im eigenen Land beginnt, aber auch, dass sie darüber hinauswachsen müssen, wenn sie die Macht der Herrschenden wirklich brechen wollen. Wir verstehen unter Internationalismus, dass unsere natürlichen Verbündeten die Ausgebeuteten aller Länder sind und nicht unsere eigene Bourgeoisie. „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena“, schrieb Trotzki zu Recht in Die permanente Revolution. Und Marx unterstrich bereits 1848, dass man den Staat nicht von den Kapitalisten übernehmen kann, sondern dass er zerstört werden muss. Das aber scheinen die „Entglobalisierer“ der Pardem nicht verstanden zu haben. Ihr Ehrgeiz liegt darin, „den Staat zu repolitisieren, um ihn wieder in die Hände des Volks übergehen zu lassen“ – eine völlige Ignoranz gegenüber den jahrzehntelangen Kämpfen der ArbeiterInnen, die sich dabei auch stets mit dem Staat auseinandersetzen mussten, wie die Mobilisierungen gegen das Arbeitsgesetz wieder einmal gezeigt haben.
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Das Programm des „Linksnationalismus“ ist insofern reformistisch, als es nicht die Grundlagen der wirtschaftlichen Macht der Kapitalisten infrage stellt. Indem sie auf die Finanzialisierung der Wirtschaft, die internationalen Verträge und die supranationalen Organisationen einprügeln – mit oftmals guten Gründen, aber in völliger Ignoranz gegenüber dem Wesen des Kapitalismus – nehmen sie zugleich die real existierenden Kapitalisten aus der Schusslinie. Mélenchon wird nicht müde, zu betonen, dass seine „Bürgerrevolution“ keine sozialistische ist, und Lordon pflichtet ihm eifrig bei, indem er alle möglichen Szenarien für die Eurozone entwirft, aber niemals die Frage konkret stellt, welche Klasse in der Gesellschaft herrschen soll. Damit wird die sog. „Volkssouveränität“, auf die Mélenchon und Lordon so versessen sind, jeglichen Inhalts beraubt. Denn solange eine kleine Minderheit von Ausbeutern die Wirtschaft zum Nachteil der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung kontrolliert, solange wird die „Volkssouveränität“ bestenfalls ein süßer Traum bleiben, wenn nicht gar ein Schwindel. Es kann keine reale Entscheidungsgewalt der Bevölkerung geben, wenn nicht die arbeitende Bevölkerung die Kontrolle über die Wirtschaft, den Staat und die ganze Gesellschaft übernommen hat.
Die Probleme der griechischen wie auch der französischen, spanischen, deutschen, italienischen etc. Volksmassen werden sich nicht im Rahmen des Kapitalismus lösen lassen, weder inner- noch außerhalb der Eurozone. Und die heutigen Führer der sog. „radikalen Linken“ sind von dieser Erkenntnis weit entfernt. Das Scheitern des Reformismus in Griechenland hat mit dem Linksnationalismus einen Reformismus in neuer Gestalt befördert, einen Homunculus, der durchaus radikaler daherkommen mag.
Die Losung „nationale Interessen sind die Interessen des Kapitals“ ist noch immer gültig, und dem Linksnationalismus stellen wir unbeirrt den internationalen Kampf der Ausgebeuteten in der ganzen Welt gegenüber. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ hat auch heute noch sehr viel mehr Gültigkeit als „Linksnationalisten aller Länder, vereinigt Euch!“, ganz zu schweigen von dem böswilligen Wortspiel des Front national, wonach man „inter-nationalistisch“ (man beachte den Bindestrich!) sein müsse..
Überlassen wir daher den Begriff der Volkssouveränität getrost jenen, die ihn zu Recht für sich reklamieren, d. h. den Rechten und Rechtsextremisten. Denn wenn man sich auf dieses Terrain begibt, könnte man früher oder später wie Jacques Sapir enden, der als Linksnationalist startete, um sich nunmehr immer weiter dem Front national anzunähern.
Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz