Die heutige Realität des Welthandels weicht in seinen Formen weit von der traditionellen Vorstellung ab, nach der ein Land A einem Land B die Produkte abkauft, die ihm fehlen oder die dieses zu besseren Bedingungen herstellen kann: Seine Formen werden immer vielfältiger und komplexer.
Henri Wilno
Der internationale Warenverkehr beruht immer weniger auf Gütern, die nicht oder nur unvollständig auf dem Gebiet der beteiligten Nationalstaaten hergestellt werden können. Zunehmend werden einander ähnliche Güter ausgetauscht (Frankreich beispielsweise importiert und exportiert Autos – die Ökonomen sprechen von einem substitutiven oder brancheninternen Handel); oder es werden Komponenten gekauft bzw. verkauft, die in einem bestimmten Land zusammengebaut werden, aber ausgehend von Gütern, die anderswo hergestellt werden. Überdies sind oft gerade Herstellerfirmen die treibenden Kräfte der Einfuhr und der Ausfuhr (die ihre Produktion ganz oder teilweise auslagern: Nike und Apple haben diesen Prozess bis zum Äußersten getrieben), oder Handelsfirmen, die im Ausland die Güter für ihre Regale unter ihrer Kontrolle fabrizieren lassen (so gehören H&M, Zara und Carrefour zu den Auftraggebern in Bangladesch).
Die internationalen Kapitalbewegungen sind seit den 1980er-Jahren liberalisiert worden und seither beträchtlich angewachsen. Kapitalbewegungen und Warenbewegungen lassen sich nicht völlig voneinander trennen: Die aktiven französischen Auslandsinvestitionen (oder die passiven Auslandsinvestitionen in Frankreich) zum Zwecke der Produktion (im Unterschied zu Portfolioinvestitionen) sind Kapitalbewegungen, die Warenbewegungen auslösen werden (Einfuhren in Frankreich im Fall von Auslagerungen), oder sie werden frühere Warenbewegungen ersetzen (wie beispielsweise die Erstellung einer Produktionseinheit in China, die Güter für den chinesischen Markt produzieren soll, die früher vom Mutterunternehmen importiert wurden).
Die Herausbildung von multinationalen Firmen ist die Frucht solcher internationalen Investitionen. Diese Firmen spielen fortan eine sehr wichtige Rolle: Der Handel innerhalb der Unternehmen (zwischen den Filialen der gleichen Firma) beträgt zwischen 30 und 50 % (diese Zahl ist schwierig zu ermitteln) des internationalen Handels, wo die Rechnungsstellung aufgrund von „Transferpreisen“ und nicht aufgrund von „Marktpreisen“ erfolgt (auch wenn dieser Begriff nicht immer einen Sinn ergibt). Dieser Transferpreis erlaubt es, die Gewinne in denjenigen Staaten zu verrechnen, wo sie am wenigsten besteuert werden.
Alles in allem aber sind die Kapitalbewegungen nur zu einem kleinen Teil an die reellen Warenbewegungen gebunden: Die Finanzmärkte haben überall ihre Knospen getrieben.
Und schließlich haben auch die internationalen Wanderungsbewegungen der Arbeitskräfte neue Formen angenommen. Der Rückgriff auf illegale Einwanderer ohne gültige Ausweispapiere spielt in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine wichtige Rolle, so wie in China die inneren Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften, die für die großen Städte keine gültigen Niederlassungsbewilligungen besitzen. Dazu kommt in Europa noch eine spezielle gesetzliche Regelung der Illegalität für „entsandte Arbeitskräfte“ (Entsandte Arbeiter_innen: Ausgebeutete, keine Konkurrent_innen!, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017)), die es den Unternehmern erlaubt, die reduzierten Sozialabgaben des Heimatlandes der Lohnabhängigen zu bezahlen.
Die großen kapitalistischen Unternehmen nutzen im Alltag das gesamte Spektrum dieser Elemente aus. Die kapitalistische Welt lebt vom Schwung der Liberalisierungsmaßnahmen des Waren- und Kapitalverkehrs, die vom GATT und später von der WTO und vom IWF im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts angestoßen wurden. Regionale Wirtschaftsabkommen wie NAFTA (USA-Kanada, Mexiko) ergänzen und verstärken diese, während die Europäische Union (EU) eine umfassende Freihandelszone aufgezogen hat.
Die neuerlichen internationalen Freihandels-Verhandlungen der EU wie der transatlantische Freihandelsvertrag mit den USA (TTIP) sowie CETA (Freihandelsvertrag mit Kanada) betreffen die Zollrechte nur am Rande. Diese sind im Allgemeinen für industrielle Erzeugnisse bereits schwach, selbst wenn sektorielle Ungleichheiten vorhanden sind. Es geht dabei im Wesentlichen um Normen, die juristische, finanzielle, kulturelle, ökologische, gesundheitliche etc. Fragen betreffen. Allgemein gesprochen betreffen diese Normen die Merkmale der hergestellten Produkte und die Bedingungen ihrer Vermarktung. Es geht nicht darum, diese Regelungen zu idealisieren, denn die Lobbys der Unternehmer haben auf ihre Festlegung großen Einfluss ausgeübt; sie sind aber in mancher Hinsicht, gerade im Bereich der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel (etwa in der Frage der gentechnisch veränderten Organismen) in den USA weniger strikt.
Bei diesen Verhandlungen geht es auch um den Abbau von Schiefergas, die öffentlichen Dienstleistungen, die Reglementierung der Finanzmärkte, das Versicherungswesen etc. Gegenwärtig (und vielleicht nur vorläufig) hat das TTIP Startschwierigkeiten: Hollande hat eine Aussetzung der wegen der US-Wahlen ohnehin derzeit ruhenden Verhandlungen gefordert, CETA könnte aber demnächst ratifiziert werden. Es beruht auf denselben Grundsätzen wie das TTIP, insbesondere der Einrichtung eines privaten Schiedsgerichtes, das den kanadischen Multis (und der Mehrheit derjenigen US-amerikanischen Firmen, die in Kanada Niederlassungen betreiben) erlaubt, die europäischen Staaten zu belangen, sofern diese eine Politik betreiben, die die Rentabilität ihrer Investitionen gefährdet; dazu kommen Zollsenkungen für landwirtschaftliche Produkte, die Absenkung der Umweltstandards, der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen usw.
Die Globalisierung „mit menschlichem Angesicht“ hat sich als abgekartetes Spiel herausgestellt. Die Lohnabhängigen wissen sehr wohl, dass diese letztlich nur darauf hinausläuft, sie untereinander in Konkurrenz zu setzen, um die Profite zu maximieren. Es erstaunt daher nicht, dass die protektionistischen Forderungen wie in anderen Epochen des Kapitalismus ein breites Echo finden, das durch verschiedene Politiker und Politikerinnen nur noch verstärkt wird, in Frankreich von Le Pen bis zu Mélenchon. Sie teilen alle die Ansicht, dass die ausländische Konkurrenz an der Zerstörung der Arbeitsplätze und an der Schließung von Fabriken schuld sei.
Zunächst jedoch muss klargestellt werden, dass eine Vielzahl von Arbeitsplätzen nicht oder nur marginal der ausländischen Konkurrenz unterworfen ist; dies gilt für die öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Verwaltung, Gesundheit, Banken, usw.) wie auch für den Bausektor bei öffentlichen Aufträgen. Wenn in diesen Bereichen die Beschäftigung zurückgeht, dann haben dies die öffentlichen oder privaten Arbeitgeber zu verantworten, genauso wie die Beschäftigung von entsandten Lohnabhängigen oder SchwarzarbeiterInnen. Was die Auswirkungen des Außenhandels auf die Beschäftigung angeht, sind vor allem die Industrie und bestimmte Dienstleistungen, die auslagerbare Bereiche beinhalten, wie Callcenter, Informatik-Dienstleitungen usw., betroffen. Sicher werden die Verluste von Arbeitsplätzen schlussendlich alle Bereiche betreffen, da ein abgebauter Arbeitsplatz in der Industrie mindestens einen Arbeitsplatz anderswo gefährdet.
Sämtliche ernsthaften ökonomischen Untersuchungen zeigen, dass die Standortverlagerungen nur einen beschränkten Teil der abgebauten industriellen Arbeitsplätze erklären: höchstens 20 % im Zeitraum von 1995 bis 2001, als sich der wirtschaftliche Aufstieg von China und den zentral- und osteuropäischen Ländern (die mittlerweile Mitglieder der EU sind) vollzog. Einer Studie der französischen Zentralbank zufolge haben die Importe aus China zwischen 2001 (als China der WTO beitrat) und 2007 in der französischen Industrie zur Zerstörung von 90 000 Arbeitsplätzen geführt, was 13 % der insgesamt abgebauten industriellen Arbeitsplätze entspricht.
Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklung einzelne Bereiche nicht erheblich getroffen hätte (Textil-, Schuhindustrie etc.), vor allem, wenn man die Billigimporte durch die Supermarktketten berücksichtigt. Diese Arbeitsplatzverluste haben für die betroffenen Lohnabhängigen oft dramatische Auswirkungen. Grundsätzlich jedoch drückt das hemmungslose Streben des Kapitals nach Produktivitätsgewinnen angesichts schwindender Absätze auf dem Binnenmarkt infolge des Lohndumpings viel schwerer auf die Arbeitsplätze.
Die „Deindustrialisierung“ und das Außenhandelsdefizit verweisen zudem auch auf die Schwächen der industriellen Struktur Frankreichs. Diese Schwächen sind ihrerseits Folgen staatlicher Entscheidungen (Überbetonung der atomar-militärischen Sektoren, Mängel im Kreditsystem, Subventionierung der privatwirtschaftlichen Forschung, die im Großen und Ganzen einer zusätzlichen Subvention für die Unternehmer gleichkommt) und/oder Konsequenz von Unternehmensentscheidungen, die in Verbindung mit dem Druck der Aktionäre von einer kurzfristigen Logik geprägt sind; es sei an die Tatsache erinnert, dass die Großunternehmen, beispielsweise in der Automobilindustrie, ihre Standortwahl treffen, ohne sich um ihre Nationalität zu kümmern, sich aber sehr wohl daran erinnern, wenn sie Hilfe brauchen.
Jede fortschrittliche – und erst recht jede antikapitalistische – Position zum internationalen Freihandel sollte zwei Aspekte berücksichtigen:
Sowohl im Norden wie im Süden haben die Lohnabhängigen andere Interessen als ihre Bourgeoisie.
Die Völker des Südens müssen ihren Weg selbst bestimmen und die Ketten des Kapitalismus abschütteln. Die Länder des Nordens, die die Weltwirtschaft lange beherrscht haben – und dies im Großen und Ganzen weiterhin tun –, haben kein Recht, den Ländern des Südens die Bedingungen ihrer Entwicklung zu diktieren.
Daraus resultiert, dass das Prinzip des Protektionismus abzulehnen ist, zumindest in den imperialistischen Ländern wie Frankreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts unterstrich Jaurès, dass der Protektionismus die falsche Lösung ist, die nur „der Minderheit der Großagrarier nützen kann“. Die nichtstalinistische Tradition des Marxismus betrachtet in diesem Sinne alle protektionistischen Maßnahmen der dominierenden Staaten im Kapitalismus mit Misstrauen. Zumal die Industrialisierung in den dominierten Ländern, selbst wenn sie barbarische Formen annimmt, diese aus der Abhängigkeit von der Landwirtschaft herausführt, wohingegen ihre Landwirtschaft weiterhin gegen die Produkte aus den reichen Ländern konkurrieren muss.
Marx hat indessen die Ungleichheit zwischen den Ländern („ein Land kann sich auf Kosten des anderen bereichern“) und die strategische Wichtigkeit bestimmter Industriezweige betont, „welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt sichern“.
Auch wenn wir jede Solidarität mit den Unternehmern ablehnen, sollten wir auch die nachteiligen Folgen des Freihandels beachten. Zunächst die Folgen für die Arbeitsbedingungen und die Löhne in den Ländern des Nordens. Die direkten Auswirkungen der Standortverlagerungen und des Handels mit den Billiglohnländern auf die Beschäftigung in den Ländern des Nordens sind sicher begrenzt; aber das Lohndumping ist auch eine Waffe der Konkurrenz zwischen entwickelten kapitalistischen Ländern: In der Europäischen Union begaben sich der deutsche Staat und die deutschen Unternehmer zu Beginn der 2000er-Jahre mit Nachdruck daran, das Lohnniveau zu senken.
Der Druck auf die Löhne ist in den Ländern des Südens ebenfalls stark. Die Drohung, die Produktion in Gebiete zu verlagern, wo die Lohnabhängigen gezwungen sind, zu noch härteren Bedingungen oder zu noch geringeren Löhnen zu arbeiten, ist andauernd vorhanden. Die Sektoren in den Entwicklungsländern, die nicht in der Lage sind, den Normen des Welthandels zu genügen, werden beiseite gedrängt; am deutlichsten wird dies in der sogenannten traditionellen Landwirtschaft.
Schlussendlich hat der verallgemeinerte Freihandel zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt. Die Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise wird von massiven Strömen industrieller und landwirtschaftlicher Produkte begleitet, die teilweise mit den natürlichen Gegebenheiten der Länder in keinerlei Beziehung stehen. So werden zahlreiche Waren oder teilgefertigte Waren zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Länder, unnötigerweise über weite Strecken transportiert, mit all den nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt.
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In Frankreich konzentriert sich die Debatte im Wesentlichen auf den Handel mit Niedriglohnländern und, in diesem Rahmen, auf die Einfuhren und die Standortverlagerungen. Dieser Akzent auf den Warenhandel geht einesteils auf die unmittelbaren Sorgen der Lohnabhängigen in der Industrie zurück, die in ihrem Alltag der Erpressung der Unternehmer mittels der Konkurrenz der Niedriglohnländer ausgesetzt sind. Er entspringt aber auch einer falschen Analyse oder der Absicht, sich vor einer großen Hürde drücken zu wollen, die der freie Kapitalverkehr für jedwede Politik bedeutet, die die Gesellschaft ernsthaft transformieren will.
Die Ablehnung des Protektionismus bedeutet keinesfalls die Einwilligung in die zwischen den kapitalistischen Industrieländern ausgehandelten Freihandelsverträge wie TTIP oder CETA, die den Gesundheitsschutz untergraben oder die öffentlichen Dienstleistungen gefährden. Diese Verhandlungen werden oft als ein Interessenkonflikt zwischen der EU und den USA dargestellt. In Tat und Wahrheit geht es um ein Instrument der neoliberalen Offensive, das auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt wurde, und die multinationalen Konzerne zielen ebenso auf bestimmte US-amerikanische Bestimmungen, speziell auf die Aufträge der öffentlichen Hand. US-amerikanische Gewerkschaften verweisen übrigens darauf, dass die US-amerikanischen Lohnabhängigen in keiner Weise davon profitieren können, wenn die stärkeren europäischen Schutzklauseln infrage gestellt werden.
Die Kapitalbewegungen spielen ihrerseits – wegen der Spekulation gegen die internationale Verschuldung und gegen die Währungen – eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung der Austeritätspolitik. Der freie Kapitalverkehr verstärkt überall den Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen, da er überall den maximalen Profit herauspressen will. Dadurch können die großen Kapitalgruppen ihre Gewinne der Versteuerung entziehen. Insofern ist es Pflicht jeder antikapitalistischen Politik, gegen den freien Kapitalverkehr zu kämpfen.
Quelle: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA, N°80, Oktober 2016. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz