Wie steht es um den Volksaufstand in Nicaragua? Was hat den Aufstand ausgelöst? Wer ist in den Aufstand involviert? Welche sind die wichtigsten nationalen und internationalen Akteure? Und welcher Art ist die Debatte der Linken in puncto Nicaragua?
Dan La Botz
Präsident Daniel Ortegas Regierung hat es nach vier Monaten massivster Unterdrückung (einschließlich durch Polizei- und paramilitärische Kräfte erfolgter Ermordungen, Entführungen und Folter von Regierungsgegnern) geschafft, den Volksaufstand in Nicaragua zu stoppen – bis auf Weiteres.
Im Juni und Juli hat die Ortega-Regierung Polizei- und paramilitärische Kräfte mit dem Auftrag losgeschickt, die Universitätsgelände, Klein- und Großstädte wie Masaya sowie Stadtviertel von Managua, die von der Opposition beherrscht waren, zu übernehmen. Dabei wurden Dutzende von Menschen getötet, andere wurden entführt, es gab zahlreiche Verletzte. Viele wurden verhaftet und gefoltert. Plausible Schätzungen besagen, dass 300 Personen getötet und Tausende verletzt wurden; belastbare Zahlen liegen zurzeit nicht vor. Ortegas erneute Offensive gegen die zum größten Teil zunächst friedlichen Demonstrant*innen hat es für den Augenblick zwar geschafft, die Opposition zu lähmen, im Land brodelt es jedoch trotz allem weiter.
Neben Gewalt setzte Ortega in den letzten paar Monaten auf verschiedene weitere Taktiken, um die Bewegung niederzuschlagen. Ortega, der während seiner drei Amtszeiten als Präsident keinerlei Interesse an einer Landreform gezeigt hatte, forderte im Kampf gegen die „Business Class“, mit der er seit den 1990er-Jahren zusammenarbeitete, seine Anhänger dazu auf, Ländereien zu besetzen, die bislang im Besitz seiner wohlhabenden Gegner*innen waren, von denen die meisten in der Landwirtschaft ihr Geld verdienen. Außerdem holte Ortega zu einem Schlag gegen die Hierarchie der katholischen Kirche aus, die er viele Jahre lang zu seinen Verbündeten zahlte, die jetzt aber auf seiner Feindesliste steht, da sie die Opposition unterstützt. Er geißelte katholische Führungsfiguren in Nicaragua als Mitverschwörer in einem „Putsch“, der zu seinem Sturz führen solle.
Einfache Bürger*innen und Werktätige, die sich den demokratischen Protesten angeschlossen hatten, Protesten, die dann zu einem friedlichen Volksaufstand wurden, verloren ihre Arbeitsplätze im Staatsdienst, etliche wurden verhaftet, des „Terrorismus“ angeklagt und ins Gefängnis geworfen. So wurden z. B. Ärztinnen und Ärzte und Professor*innen für Medizin an öffentlichen Universitäten und Krankenhäusern als Reaktion auf ihre Teilnahme an Protesten gegen die Regierung gefeuert. Die Studierenden, die unter den Ersten waren, die protestierten, hatten am stärksten unter der Gewalt zu leiden, Dutzende wurden getötet, verletzt oder gefoltert. Mit den Worten des einstigen Sandinisten Oscar Rene Vargas: „Die Regierung versucht, die sozialen Bewegungen zu enthaupten, indem sie die lokalen Anführer sowie jeden verhaftet, der die Gewalt [der Regierung] gegen das Volk kritisiert. Wir befinden uns in der „Pinochet-Phase des Regimes“, sagte er mit Blick auf die Militärdiktatur General Augusto Pinochets in Chile von 1973 bis 1990, der Hunderte von Linken einkerkerte und ermordete, die in Verbindung mit der früheren Regierung von Salvador Allende standen, der im Jahr 1973 durch einen von Pinochet angeführten Putsch gestürzt wurde. Eine stärkere Verurteilung einer Regierung durch einen lateinamerikanischen Linken ist kaum vorstellbar.
Nach den Monaten der Gewalt und der Unterdrückung der Opposition und während die „Aufräumarbeiten“ der Regierung unter ihren Gegnern weiterliefen, nutzte Ortega die Feiern am 19. Juli zu Ehren der 1979er Revolution gegen die Diktatur der Somoza-Dynastie zur Mobilisierung seiner Anhänger*innen. Viele nahmen jedoch nur aus Angst, aus dem Staatsdienst entlassen zu werden, oder aus Furcht vor Angriffen seiner paramilitärischen Kräfte daran teil. In Wirklichkeit sind Ortegas maskierte paramilitärische Schlägertrupps (die er als „freiwillige Polizeikräfte“ bezeichnet) langst zu seiner Hauptmachtbasis geworden. Wie so viele andere Teile der Welt haben wir jetzt eine aus einem Diktator und seinen Handlangern bestehende Regierung. Allerdings scheinen die meisten Nicaraguaner*innen Ortega und der von der Regierung initiierten Unterdrückung des Aufstands ablehnend gegenüberzustehen. Die jüngsten Ereignisse haben eine ganze Reihe von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen (Störung der landwirtschaftlichen Produktion, Zusammenbruch des Tourismus, internationale Verurteilung des Regimes) nach sich gezogen, die sich nicht einfach werden losen lassen. Der Volksaufstand war vielleicht lediglich ein Probelauf für eine Revolution, aber das kann nur die Zukunft zeigen.
Wie kam es zu dieser Zuspitzung? Wie ich in meinem Buch What Went Wrong? The Nicaraguan Revolution: A Marxist Analysis dargelegt habe, hat die Regierung von Daniel Ortega ihre Wurzeln in der Revolution von 1979, mit der die Somoza-Dynastie gestürzt wurde. Ortega und die anderen Anführer der sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), die die Somoza-Diktatur stürzten, orientierten sich an Fidel Castro, Che Guevara und der kubanischen Revolution. Sie wollten einen neuen Einparteienstaat aufbauen, der sowohl die Politik als auch die nationale Wirtschaft völlig kontrollierte. Durch den von den USA unterstützten Krieg der Contras, der gegen die FSLN-Regierung geführt wurde, sowie Spaltungen innerhalb der nicaraguanischen Gesellschaft wurde dies jedoch verhindert.
Die Gefahr eines andauernden Krieges, die von den USA ausging, veranlasste die Nicaraguaner im Jahr 1990, für die Oppositionskoalition unter Violeta Chamorro zu stimmen. Chamorro wurde daraufhin Präsidentin. Daniel Ortega ging zunächst eine Allianz mit Chamorros Schwiegersohn, Antonio Lacayo, ein. Dann schloss er nach und nach Frieden mit Nicaraguas korrupten liberalen und konservativen Parteien und baute eine faktische Partnerschaft mit ihnen, mit der kapitalistischen Klasse des Landes und mit Miguel Obando y Bravo, dem rechtsgerichteten Oberhaupt der katholischen Hierarchie, auf. Von der Wahl im Jahr 1990 an bis 2006 verkörperten Daniel Ortega und seine konservativen Verbündeten die „graue Eminenz“ hinter dem Thron, die während der Amtszeiten der rechtsradikalen Präsidenten Arnoldo Aleman und Enrique Bolanos über ungeheure Macht verfügte.
2006 gelang es Ortega schließlich, erneut die Präsidentschaftswahl für sich zu entscheiden (während des Krieges in den 1980er-Jahren hatte er das Präsidentenamt schon einmal inne). Er beherrschte die Regierung mit eiserner Faust und übernahm nicht nur das Präsidentenamt, sondern auch die Kontrolle über die Legislative und den obersten Gerichtshof, er überwachte soziale Organisationen sowie NGOs und kaufte Fernsehsender auf. Ortega setzte eine neoliberale Wirtschaftspolitik durch, die einheimische, US-amerikanische sowie andere ausländische Investoren anziehen und bei der Stange halten sollte, indem er Gewerkschaften in der Zuliefer- und Montageindustrie amerikanischer Konzerne unterdrückte und dafür sorgte, dass das niedrige Niveau der Löhne erhalten blieb. Nicaragua wurde in die von den USA dominierte nordamerikanische Wirtschaft integriert und verkaufte die Hälfte seiner Produkte in die USA. Gleichzeitig baute Ortega eine Partnerschaft mit der US-Regierung auf, kollaborierte mit dem amerikanischen Militär, der amerikanischen Marine und der DEA, der amerikanischen Behörde zur Bekämpfung des Drogenhandels. Nicaragua war dabei weiterhin auf Hilfe aus den USA, Venezuela und anderen Landern angewiesen und blieb eines der ärmsten Lander Lateinamerikas. 2011 wurde die Verfassung geändert, damit sich Ortega für eine dritte Amtszeit in Folge bewerben konnte, und mithilfe von Drohungen und Gefälligkeiten, den traditionellen politischen Instrumenten, gewann er die Wahl im Jahr 2011 und nochmals im Jahr 2016, als seineEhefrau, Rosario Murillo, als Vizepräsidentschaftskandidatin antrat.
Ortega schikanierte seine politischen Gegner über viele Jahre hinweg; wenn sie gegen seine Partei kämpften, schickte er seine FSLN-Schlägertrupps aus, sie zu verprügeln. Des Weiteren setzte er alles daran, unabhängige soziale Bewegungen, vor allem die feministische Bewegung, zu diffamieren und zu vernichten. Widerstand gegen Ortega begann sich 2014 auf breiter Basis zu rühren, als sein Plan bekannt wurde, einen durch einen chinesischen Kapitalisten finanzierten interozeanischen Kanal [als Verbindung des Atlantiks mit dem Pazifik quer durch Nicaragua, Anm. d. Red.] zu bauen. Bauern und Umweltschützer*innen protestierten gegen den Kanal, mehrmals stellte sich ihnen die Polizei entgegen und verprügelte einige der Demonstrant*innen. Als Ortega im April dieses Jahres eine Reform des Sozialsystems ankündigte, legten sowohl Geschäftsleute als auch Rentner*innen dagegen Widerspruch ein, die Rentner*innen gingen aus Protest auf die Straße. Als die betagten Demonstrant*innen von der Polizei herumgeschubst wurden, schlossen sich Studierende ihrem Protest an. Ortegas Polizeikräfte erschossen daraufhin einige, und als wenige Wochen später trauernde Mütter am Muttertag eine Demonstration anführten, eröffneten Ortegas Polizei- und paramilitärische Kräfte auch auf sie das Feuer. Die katholische Kirche versuchte, einen nationalen Dialog zu organisieren, aber Ortega verweigerte sich den Gesprächen, während die Opposition nun kompromisslos darauf bestand, dass er und seine Frau, die Vizepräsidentin, zurücktreten müssten.
Der nicaraguanische Volksaufstand im Frühjahr und Sommer dieses Jahres entwickelte sich als breite, klassenübergreifende Bewegung aus Studierenden, Rentner*innen, Bauern, Werktätigen und Geschäftsleuten, Ordensleuten und Laien – es war eine breite demokratische Bewegung, der allerdings ein gemeinsames politisches Programm fehlte. Die stärkste Organisation mit den klarsten politischen Ideen – vorrangig konservative, prokapitalistische Ideen – ist der COSEP (Consejo Superior de la Empresa Privada en Nicaragua), die führende Unternehmensorganisation. Die katholische Kirche verfügt zwar ebenfalls über viel Macht, ist jedoch historisch gespalten in erstens die konservative Hierarchie, zweitens eine von Universitätsprofessoren und Gemeindepfarrern angeführte Strömung der Befreiungstheologie und drittens die Masse der frommen Gläubigen. Studierende haben mehrere Organisationen ins Leben gerufen, deren Existenz jedoch auf wackeligen Füßen steht, da die Regierung studentische Aktivist*innen verfolgt. Inzwischen sieht es so aus, als ob sich einige Studierende politisch festgelegt hätten und eine studentische „Linke“ entstehen konnte. Was genau ihre Ausrichtung ist, ist jedoch noch immer nicht klar. Die Bewegung der Bauern hat sich im Großen und Ganzen auf diejenigen beschränkt, die dafür kämpfen, Gebiete zu verteidigen, die von dem geplanten transozeanischen Kanal direkt betroffen sind.
Soziale Bewegungen – Umweltschützer*innen und Feminist*innen – existieren zwar in der gebildeten Mittelschicht, doch aufgrund der Verfolgung durch die Regierung während der letzten zehn oder mehr Jahre bleiben sie klein und existieren nur als Randerscheinung in der Gesamtgesellschaft. Da Ortegas FSLN die Industrie- und Bauerngewerkschaften beherrschte, gibt es so gut wie keine unabhängige Gewerkschaftsbewegung. Aber auch wenn es keine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse gibt, waren die Werktätigen doch äußerst aktiv in der Oppositionsbewegung. Es gibt zwei linke Oppositionsbewegungen mit sozialdemokratischer Politik, die „Bewegung der sandinistischen Erneuerung“ (MRS) und die „Bewegung für die Rettung des Sandinismus“ (MPRS). Beide hatten sich vor Jahren von Ortega und der FSLN losgesagt, schafften es jedoch nie, unter der zunehmend entfremdeten und politisch resignierten Öffentlichkeit eine gewisse Anhängerschaft zu finden. Und da Ortegas FSLN die Idee des Sozialismus diskreditiert und konkurrierende demokratische sozialistische Strömungen unterdrückt hat, ist es kein Wunder, dass es mit Ausnahme von MRS und MPRS in der Bewegung keine nennenswerte Linke gibt. Das Ergebnis ist, dass der Volksaufstand eine demokratische Bewegung war, die gegen eine Diktatur kämpfte, deren Mitgliedern es jedoch nicht gelang, klare politische Programme zu schaffen. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass der demokratische Kampf einen sozialen Kampf auslösen könnte, der vielleicht eine neue Linke entstehen lässt. Auf jeden Fall glauben viele, dass selbst ein etwas demokratischeres, bürgerliches Regime besser als Ortegas Diktatur wäre.
Die Aktivist*innen des Volksaufstandes besetzten Universitätsgelände, verbarrikadierten sich in Stadtvierteln von Managua und befestigten ihre Dörfer und Städte. Regierungsgegner*innen errichteten im ganzen Land etwa 150 Straßensperren und brachten damit die Wirtschaft fast völlig zum Stillstand. Sie organisiertenaußerdem mindesten zwei Generalstreiks, die das Land für einen Tag oder länger lahmlegten. Wann immer möglich, gingen sie erneut mit massiven Demonstrationen gegen die Regierung auf die Straße, marschierten sogar noch, als Scharfschützen auf sie feuerten und Dutzende töteten. Aufgrund der Angriffe durch Polizei- und paramilitärische Kräfte bastelten sich einige der Gegner Waffen oder nahmen welche der Polizei ab und richteten sie gegen ihre Unterdrücker. Diese Gewalt hielt an, bis es Ortegas Polizei- und paramilitärischen Kräften schließlich gelang, den zum größten Teil friedlichen Aufstand zu stoppen, wenn auch nicht komplett auszulöschen.
Der Volksaufstand und seine gewaltsame Unterdrückung, die sich auf sämtliche Wirtschaften Zentralamerikas negativ auswirkten und das Schreckgespenst einer Revolution oder reaktionären Wendung umgehen ließen, riefen internationale Akteure auf den Plan. Die Regierungen der Vereinigten Staaten, die die Karibik und Zentralamerika seit 1900 und auch schon davor dominiert hatten, waren bis vor Kurzem eigentlich recht zufrieden mit Ortega. Amerikanische Organisationen wie USAID, National Endowment for Democracy (NED) und zweifellos die CIA waren schon seit Jahrzehnten in Nicaragua aktiv – wie überall auf der Welt. Es dauerte ein paar Monate, bis Donald Trumps Außenministerium die Rebellion gegen Ortega als Gelegenheit begriff, eine möglicherweise noch gefügigere Regierung an die Macht zu bringen, was es dann aber doch nur Schritt für Schritt und mit aller Vorsicht tat.
Im Mai verurteilte Vizepräsident Mike Pence per Twitter die von der nicaraguanischen Regierung ausgehende Gewalt, forderte dabei jedoch nur, dass die Regierung von Ortega die Bürger*innen und deren Rechte schützen sollte. Bei einer Ansprache am 4. Juni vor der Organisation der amerikanischen Staaten (OAS) sagte der Außenminister der Vereinigten Staaten, Mike Pompeo:
„In Nicaragua haben Polizei und von der Regierung gesteuerte bewaffnete Gruppen Dutzende Menschen getötet, als diese lediglich friedlich demonstrierten. In diesem Zusammenhang wiederhole ich, was Vizepräsident Pence am 7. Mai hier in diesem Gebäude sagte: ‚Gemeinsam mit anderen Nationen weltweit fordern wir, dass die Regierung Ortega auf die Forderungen des nicaraguanischen Volkes [eingeht], das demokratische Reformen verlangt, und dass sie jene zur Rechenschaft zieht, die für die Gewalt verantwortlich sind.‘ Die Vereinigten Staaten unterstützen die Arbeit der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IAKMR) und was sie in Nicaragua tut und fordern die Regierung Nicaraguas mit allem Nachdruck auf, die von der Kommission am 21. Mai herausgegebenen Empfehlungen umzusetzen.“
Es gab aber noch immer keine allgemeine Verurteilung der Ortega-Regierung, nur einen Aufruf zu Reformen. Die USA schienen die Forderung der nicaraguanischen Wirtschaft und der Kirche nach vorgezogenen Wahlen zu unterstützen.
Ironischerweise benimmt sich die Trump-Administration, als wäre sie eine Verfechterin von Demokratie und Freiheit. Trumps Regierung veröffentlichte erst Ende Juli eine allgemeine Verurteilung des Regimes und rief selbst dann lediglich zu einem Ende der Gewalt, zu Dialog und fairen Wahlen auf:
„Die Vereinigten Staaten verurteilen entschieden die anhaltende Gewalt in Nicaragua und die vom Ortega- Regime als Reaktion auf Proteste verübten Menschenrechtsverletzungen. Nach vielen Jahren, in denen Wahlen gefälscht wurden und das Regime nicht nur die Gesetze Nicaraguas manipulierte, sondern auch die Zivilgesellschaft, Oppositionsparteien und unabhängige Medien unterdrückte, ist die nicaraguanische Bevölkerung auf die Straße gegangen, um demokratische Reformen zu fordern. Diese Forderungen wurden mit willkürlicher Gewalt beantwortet, durch die mehr als 350 Menschen starben, Tausende verletzt und Hunderte von Bürger*innen fälschlicherweise als „Putschisten“ und „Terroristen“ bezeichnet wurden, die dann verhaftet und gefoltert wurden oder spurlos verschwanden. Präsident Ortega und Vizepräsidentin Murillo sind verantwortlich für die regierungsnahen paramilitärischen Polizeikräfte, die ihre eigenen Landsleute brutal misshandelt haben.
Die Vereinigten Staaten stehen an der Seite der Bürger*innen von Nicaragua, einschließlich Mitgliedern der Sandinistischen Partei, die demokratische Reformen und ein Ende der Gewalt fordern. Freie, faire und transparente Wahlen sind die einzige Möglichkeit, die Demokratie in Nicaragua wiederherzustellen. Wir unterstützen den von der katholischen Kirche angeführten nationalen Dialogprozess für vertrauensvolle Verhandlungen.“
Die Trump-Administration beschränkte ihre Sanktionen auf persönliche Sanktionen gegen Ortega, Murillo und Francisco Diaz, Leiter der nationalen Polizei, und auf einen Widerruf der für nicaraguanische Regierungsmitglieder und deren Familien ausgestellten Visa. Während die öffentlichen Verlautbarungen derTrump-Administration weiterhin eher mild klangen, besteht kein Zweifel daran, dass das amerikanische Außenministerium, republikanische Senator*innen und Repräsentant*innen sowie rechtsextreme Organisationen ihre Kontakte mit konservativen Elementen in Nicaragua vertieften und politische Alternativen zur Fortsetzung der Herrschaft Ortegas ausloteten. Die Republikaner brachten eine Resolution ein, die die Ortega-Regierung kritisierte und vom amerikanischen Repräsentantenhaus verabschiedet wurde. Republikanische Kongressmitglieder luden nicaraguanische Studierende zu einem Treffen in Washington ein, als diese sich gerade dort aufhielten, um vor internationalen Organisationen und Menschenrechtsgruppen zu sprechen. All dies ist freilich gängige Praxis der amerikanischen Regierung, die überall in den Staaten des amerikanischen Kontinents (und was das betrifft, in der ganzen Welt) aktiv ist, um internationale Entwicklungen mitzugestalten, selbst wenn sie sie nicht initiiert hat und sie nicht steuern kann.
Als Antwort auf den Druck der amerikanischen Regierung gab Daniel Ortega Fox News ein Interview, dem Fernsehsender, aus dem Donald Trump seine Informationen bezieht. Ganz sicher war es sein Ziel, auf diese Weise direkt zum amerikanischen Präsidenten zu sprechen. Ortega bestritt jegliche Unterdrückung seiner Bürger durch seine Regierung. Er behauptete, dass ganz im Gegenteil der Volksaufstand für den Ausbruch der Gewalt und Angriffe auf „sandinistische Familien“ verantwortlich sei. Der Historiker Alejandro Bendana vermutet, dass Ortega Trump auf diese Weise einreden wollte, dass Nicaragua im Chaos versinken würde und möglicherweise noch mehr Migrant*innen in die USA strömen würden, sollte seine Regierung fallen. Trump twitterte jedoch keine Antwort auf Ortegas Äußerungen.
Die Organisation der amerikanischen Staaten (OAS) debattierte über Nicaragua und verabschiedete eine von den Vereinigten Staaten und mehreren lateinamerikanischen Staaten unterstützte Resolution, die ebenfalls die Regierung aufforderte, ihre Bürger zu schützen, in einen Dialog einzutreten und vorgezogene Wahlen abzuhalten. Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte verurteilte die nicaraguanische Regierung am 17. Juni aufs Schärfste, nannte dabei auch bestimmte Details von Verstößen gegen die Menschenrechte, und forderte sie auf, sich an internationale Gesetze zu halten und ihre Bürger*innen zu schützen. (Ich bitte die Leser*innen nachdrücklich, sich dieses Statement – auf Englisch im Internet zu finden unter https://tinyurl.com/y97tmryc – genau anzusehen. D. La Botz) Mitglieder des Europäischen Parlaments verabschiedeten am 31. Mai eine Resolution, in der „der Verfall der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit in Nicaragua während der letzten zehn Jahre sowie die Zunahme der Korruption, die oft mit Verwandten von Präsident Daniel Ortega in Verbindung gebracht wird“ angeprangert wurden. Die Resolution wurde mit 536 Stimmen bei 39 Gegenstimmen und 53 Enthaltungen angenommen.
Die USA arbeiteten daran, die internationalen Reaktionen auf die Krise in Nicaragua zu koordinieren, ihr hauptsächliches Ziel schien jedoch zu sein, durch vorgezogene Wahlen einen schrittweisen Übergang zu erreichen. Vorgezogene Wahlen würden den Vereinigten Staaten die nötige Zeit verschaffen, mit konservativen Parteien und Unternehmensgruppen in Nicaragua am Aufbau einer politischen Koalition zu arbeiten und einen konservativen Kandidaten für das Präsidentenamt zu finden, der den Interessen der USA dient. Die Ziele der nicaraguanischen Geschäftswelt, der kirchlichen Hierarchie und der amerikanischen Regierung sind zwar die gleichen, sie repräsentieren jedoch nicht die Interessen der Student*innen, Rentner*innen, Bauerinnen und Bauern, Umweltschützer*innen, Feminist*innen und Werktätigen, die für die Demokratie kämpfen.
Der Volksaufstand in Nicaragua wurde zwischen der demokratischen Linken, die ihn unterstützte, und der neostalinistischen Linken, die den Diktator Ortega unterstützte, heftig debattiert. Kevin Zeese und Max Blumenthal schrieben viele Artikel, verschickten viele Tweets und gaben viele Interviews, in denen sie unterstellten, dass die USA einen Putschversuch in Nicaragua inszenierten. Als Beweise nannten sie und andere Autoren die lange Liste der Interventionen des amerikanischen Imperialismus in Lateinamerika (die unbestreitbar ist) sowie die signifikante und seit langem wohlbekannte Rolle von amerikanischen Einrichtungen wie USAID und NED mit ihren Bemühungen, konservative Kräfte zu starken. Des Weiteren zitierten sie Aussagen von rechtsextremen republikanischen Repräsentanten und unterstellten ohne tatsächliche Beweise die Existenz einer Verschwörung der CIA. Was sie nicht diskutierten, war die wirkliche Natur der Ortega- Regierung und ihrer autoritären und konservativen Politik. Genau genommen schienen sie nur wenig über die jüngsten Entwicklungen in Nicaragua zu wissen.
Viele Angehörige meiner Generation, der Generation von 1968, die die nicaraguanische Revolution im Jahr 1979 unterstützten (so wie ich), mögen sich durch diese Argumente angesprochen gefühlt haben, wenn sie über die Situation vor 40 Jahren nachdachten. Diese Argumente verfügen jedoch über nur wenig faktischen oder logischen Wert, sondern basieren auf einer fadenscheinigen Beweisführung, die einfache Bürger verunglimpft und Diktatoren vergöttert. Solche Argumente gehen von drei grundsätzlichen Annahmen aus:
Nicaraguaner und andere Lateinamerikaner können keine berechtigten Beschwerden gegen „linke“ Regierungen haben und wären ohnehin unfähig, eine eigene Regierung aufzubauen, daher müssen sie offensichtlich von anderen Kräften manipuliert werden.
Die USA steuern und kontrollieren alle politischen Entwicklungen in Lateinamerika von Argentinien und Brasilien über Venezuela bis nach Nicaragua und sind die wahre Macht hinter jeglichem scheinbar von der Bevölkerung ausgehenden Widerstand.
Existierende „antiimperialistische“ Regierungen (Russland, Syrien, Nicaragua) müssen, ganz gleich, welchen Charakters sie sind, gegen die einzige imperialistische Nation auf der ganzen Welt, die USA, unterstützt werden.
Diese Argumente können nur auf jene Eindruck machen, die die Komplexität internationaler politischer Entwicklungen einer Welt nicht verstehen, in der sich z. B. Menschen selbst organisieren können, in der eine Linke kritische Meinungen zu einer sogenannten linken Regierung entwickeln kann und in der die Vereinigten Staaten, mögen sie auch noch so mächtig sein, nicht immer das Sagen haben. Dass diese Autoren auf schändliche Weise eine autoritäre, kapitalistische Regierung, die Hunderte ihrer Bürger*innen ermordet und Tausende verletzt, unterstützen, kann nicht überraschen angesichts ihrer Unterstützung für Wladimir Putins Regime in Russland, für die theokratische Diktatur des Irans und Assads Diktatur in Syrien. Zeese und Blumenthal repräsentieren, was der Schriftsteller Rohini Hensman als eine neostalinistische Strömung bezeichnet, die zwar aus der Linken heraus entstand, inzwischen aber nur noch sehr wenig aufweist, was auch nur im Geringsten links ist.
Glücklicherweise ist sich die internationale demokratische Linke darin einig, den Aufstand der nicaraguanischen Bevölkerung zu verteidigen. Noam Chomsky erhob seine Stimme in Democracy Now gegen Ortegas „autoritäre“ Regierung. Dutzende linker Intellektueller und politischer Aktivist*innen vor allem aus Europa und Lateinamerika unterzeichneten eine Erklärung, die die Ortega-Regierung aufs Schärfste verurteilt und folgende Forderungen enthält:
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„Bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen; Übermittlung von Informationen seitens der Behörden an Menschenrechtsorganisationen bezüglich der wahren Lage von als vermisst gemeldeten Personen; Entwaffnung der von Ortega und seiner Regierung aufgestellten paramilitärischen Armee; eine unabhängige, internationale Untersuchung der diversen Formen und Facetten der Unterdrückung mit entsprechenden Sanktionen; die Konstituierung einer Übergangsregierung mit eingeschränktem Mandat, die den Weg zu freien Wahlen ebnet; das Ende der Ortega-Murillo-Regierung.“
Die internationale demokratische und revolutionäre Linke teilt im Großen und Ganzen die in diesem Artikel dargelegte Ansicht, dass Nicaragua einen Volksaufstand gegen einen Diktator erlebt hat und dass die Ortega- Regierung verurteilt und die Volksbewegung unterstützt werden sollte.
[...] Die erste Phase des nicaraguanischen Volksaufstands von 2018 ist beendet. Ob es eine zweite Stufe geben wird oder nicht, hängt von zahlreichen Faktoren ab: von Ortegas Fähigkeit, die Bewegung klein zu halten; von der Fähigkeit der Bewegung, sich neu zu gruppieren und neu zu organisieren; von der Rolle der amerikanischen Regierung bei dem Versuch, eine ihr genehme, neue Regierung zu formen; von unserer Fähigkeit, Solidarität mit der nicaraguanischen Volksbewegung zu zeigen. Unsere Positionen sollten klar sein:
Ortega muss verschwinden. Die USA müssen sich heraushalten. Die Volksbewegung muss unterstützt werden.
01. August 2018 Daniel H. La Botz ist Historiker, langjähriger Gewerkschaftsaktivist und Mitglied von Solidarity, sympathisierende Organisation der IV. Internationale in den USA. Quelle: http://newpol.org/blogs/dan-la-botz, dort sind die Belege wie auch die Quellenangaben für die Zitate zu finden. Übersetzung: Antje Hink |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz