Hermann Dierkes
Kjell Östbergs Artikel vom 20. April 2020 [1] enthält – neben den im Großen und Ganzen zutreffenden historischen Rückblicken auf das schwedische Gesundheitswesen, in die sich allerdings auch Mythen eingeschlichen haben – aber auch etliche Aussagen und Tendenzen, die nicht unwidersprochen bleiben können.
Es beginnt schon mit den ersten beiden Sätzen: „Warum vertraut Schweden darauf, dass die Bürger*innen den Ratschlägen der Expert*innen folgen? Warum muss die Bevölkerung nicht eingesperrt und überwacht werden?“
Schweden hat derzeit sehr viel mehr Corona-Infizierte und -Tote als alle anderen skandinavischen Länder zusammen. Schweden liegt an sechster Stelle weltweit, was die Anzahl der Corona-Toten – bezogen auf 100.000 Einwohner*innen – betrifft.
Der „schwedische Sonderweg“ bestand darin, dass man die extreme Gefährlichkeit und Ausbreitungsgeschwindigkeit des Covid-19-Virus – wie in vielen anderen Ländern auch – gewaltig unterschätzt hat. Daran war erst einmal nichts Besonderes. Frühere Studien zu drohenden Pandemien wurden auch hier nicht ernst genommen. Erst als sich die Infektionswelle unübersehbar ausbreitete – zunächst insbesondere in Stockholm nach dem Ende der ersten Welle von „Sportlov“ (Winterschulferien) und der massenhaften Rückkehr von infizierten Skitourist*innen aus Österreich und Italien – erteilte man eine Reihe von Ratschlägen: Zuhause bleiben, nicht zur Arbeit gehen wenn Symptome auftreten, Abstand halten, Hände waschen, Begrenzung sozialer Kontakte, besonders wenn man über 70 Jahre alt ist, Ältere sollten nicht ihre Enkelkinder treffen, nicht notwendige Besorgungen und Reisen unterlassen usw. Regierung und Behörden sperrten nicht die Skigebiete im Norden des Landes, in die sich – im Rahmen der zweiten Welle der Schulferien viele aus West- und Südschweden hinbegaben. Etliche Betriebe (vor allem Volvo) meldeten Kurzarbeit an. Bußgelder bei Verstößen wurden – im Unterschied zu anderen Ländern – nicht verhängt.
Bis heute gibt es keine Pflicht, in der Öffentlichkeit – zumindest in den Hotspots – Masken zu tragen. Selbst in vielen Krankenhäusern und Altenheimen fehlen diese bis heute oder sind nur vollkommen unzureichend vorhanden.
Die „schwedische Linie“ wurde parteiübergreifend von allen Reichstagsfraktionen vereinbart. Ende März wurde ein abgespecktes Notstandsgesetz abgestimmt, das aber bisher nicht angewendet wurde. Federführend sind eigenständige Gesundheits- und Sozialbehörden (hälsomyndigheten, socialstyrelse, MSB usw.). Eine einheitliche Linie ist bisher nicht zustande gekommen, weil es neben den verschiedenen Zentralbehörden auch den Regionen/Bezirken überlassen wird, ihre Maßnahmen eigenverantwortlich zu konkretisieren. Dabei spielen auch finanzielle Probleme und Zwistigkeiten eine große Rolle.
Die Bevölkerung hat sich – nach einer gewissen Gewöhnungszeit – im Großen und Ganzen an die propagierten sanitären Regeln gehalten; aber es gibt immer noch viele, die der Meinung sind: „Vi klarar oss“ (in etwa: „Uns wird schon nichts passieren“).
Die Hauptkritik an der sog. schwedischen Linie sollte an folgenden Punkten festgemacht werden:
Regierung und Behörden haben die Gefahr schlicht und ergreifend unterschätzt. Frühere Studien zu potentiellen Epidemie-/Pandemiegefahren wurden nicht ernst genommen.
Vor- und Grundschulen wurden nicht geschlossen (wohl aber Gymnasien, Unis usw.).
Fahrplanausdünnungen in Stockholm führten zunächst dazu, dass die Fahrgäste dicht gedrängt fuhren.
Massenhafte Tests gibt es bis heute nicht, vielfach fehlen Testsets, Laborkapazitäten usw., um auch nur das Pflegepersonal zu testen.
Nirgendwo gab es einen Lockdown.
Es fehlen generell Abertausende von Pflegekräften und Ärzt*innen aufgrund der massiven Einschnitte im Gesundheitswesen durch all die letzten Regierungen, ob Bürgerblock oder Rosa-Grüne). Viele Krankenhäuser – vor allem in den Hotspots – arbeiten an der Grenze, das Personal befindet sich im Dauerstress. Intensivbetten, Respiratoren usw. mussten erst aufgestockt werden. Persönliche Schutzausrüstungen waren lange Zeit Mangelware und fehlen zum Teil bis heute.
Trotz der frühzeitigen Erkenntnis von „Risikogruppen“ wurden eben nicht in den Altenheimen und im ambulanten Pflegedienst systematisch getestet und das Pflegepersonal mit Schutzausrüstung ausgestattet. Folge: fast die Hälfte der Verstorbenen sind ältere Menschen. Erst ab der 16. Woche begann man die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.
Im Unterschied zu Dänemark, Norwegen und Finnland wurde der Grenzverkehr nur für Außer-EU-Reisende eingeschränkt.
Zurück zu Kjell Östbergs Eingangssatz: Mutet es nicht seltsam an, wenn er angesichts dieser Kurzdiagnose seinen Artikel mit dem Satz beginnt: „Warum vertraut Schweden darauf …“? Ich halte das für ziemlich beschönigend. Und der zweite Satz könnte aus der Agitation von rechten Parteien und Strömungen stammen, wenn entschiedene Maßnahmen als „Einsperren“ und „Überwachen“ verunglimpft werden. Er müsste wissen, dass dieser „schwedische Sonderweg“ – demagogisch – zum Berufungsfall für den Rechtsradikalismus in aller Welt geworden ist. Aber darauf geht er überhaupt nicht ein. Es gibt seit Monaten eine wachsende Zahl von Stimmen aus der Medizin, von Pflegepersonal, aus der Wissenschaft, von Medien, von gewerkschaftlicher Seite und aus Teilen der Politik, die diese „schwedische Linie“ angesichts wachsender Opferzahlen scharf kritisieren. Sie werfen der Regierung und ihren obersten Berater*innen sogar Versagen und Passivität vor. Dänemark und Norwegen lockern seit kurzem ihre strengeren sanitären Maßnahmen – über die es in Skandinavien offenbar keine Einigkeit gab, wollen aber Einreisebeschränkungen gegenüber Schweden bisher nicht aufheben!
Kjell Östberg hätte als linker Historiker im Anschluss an seine Ausführungen zur schwedischen Sozialgeschichte und zur lange Zeit vorherrschenden Ideologie auch reflektieren müssen, dass es nicht nur ein völlig verändertes Politikverständnis im Mainstream gibt – auch hier tief geprägt vom Neoliberalismus –, sondern dass sich auch die Einstellung in großen Teilen der Bevölkerung massiv geändert hat (verbreitete Migrationsfeindlichkeit, Individualismus, Ich-Zuerst-Einstellung usw.) und Vorstellungen vom alten „Volksheim“ [2] nur noch nostalgische Erinnerungen einer politisch resignierten Minderheit sind. Wie sonst will man erklären, dass die immer rechteren Sozialdemokraten massiv an Einfluss verloren haben, die Grünen derzeit an der 4 %-Sperrklausel scheitern würden und die rechten Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten, SD) von mehr Industriearbeitern gewählt werden als die Sozialdemokraten und dass die SD in Südschweden inzwischen Hochburgen haben?
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Ich nehme stark an, dass Sozialdemokraten und Grüne ihre passive Linie in Sachen Corona-Pandemie auch deshalb relativ problemlos mit dem Bürgerblock und SD abstimmen konnten, weil sie diese Veränderungen sehr wohl reflektieren und dem keinen ernsthaften Widerstand mehr entgegensetzen, weil sie Gefangene ihrer eigenen Politik sind, die jede ernsthafte Alternative vermissen lässt.
Wenn, wie Kjell Östberg meint, das Vertrauen der Schweden in staatliche Stellen und Expert*innen nach wie vor so groß ist, warum haben sich fast sämtliche Parteien auf den möglichst kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und eben nicht auf die frühestmöglichen und wirksamsten Maßnahmen? Hätte die Bevölkerung nicht auch den „dänischen“, „norwegischen“ oder „finnischen Weg“ akzeptiert? Als Linke sollten wir auch die Verantwortung der Parteien stark herausstreichen, die diesen „schwedischen Sonderweg“ mittragen.
25. Mai 2020 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 4/2020 (Juli/August 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz