Expert*innen und Beamt*innen machen die Ideologie unsichtbar. Aber die Verantwortung trägt die Politik.
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In Not erkennt man seine Freunde, sagt das Sprichwort. Ein Ausdruck, der davon ausgeht, dass wir erst in der Not wissen, wes Geistes Kind jemand wirklich ist. In guten Zeiten ist es leicht, Freund zu sein, aber in schlechten Zeiten trennt sich die Spreu vom Weizen. Das kann natürlich leicht auf die gesellschaftliche Ebene übertragen werden: In der Krise wird das System auf die Probe gestellt. Das heißt, wenn es nicht in Bewegung ist, dann sehen wir am deutlichsten die wahre Natur der Gesellschaft; welche Werte vor anderen geschützt werden und wessen Interessen an erste Stelle gesetzt werden.
Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass dies vielleicht vor allem ein systemkritischer, sozialistischer Blick auf die Gesellschaft ist. Für ein allgemeineres politisches Bewusstsein ist die Ausnahme einfach nur eine Ausnahme. Deshalb schreit die Rechte derzeit mit einer Stimme: „Wenn die Krise vorbei ist, wird alles wieder so weitergehen wie vorher!“ Die meisten Menschen denken in erster Linie daran, wie schön es wäre, Menschen wiederzusehen und das Leben wieder aufzunehmen. Politisch bedeutet es etwas völlig anderes, dass wir alles, was wir jetzt lernen, ebenso schnell wieder vergessen sollen. Alle Maßnahmen, die notwendig sind, um auf die Krise zu reagieren, sollen so schnell wie möglich aufgehoben werden, und alles soll zu der Ordnung zurückkehren, die vorher bestand.
Das sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Dinge, aber überall und immer werden sie zu einem zusammengebacken. Das nennt man Ideologie. Am stärksten wirkt die Ideologie, wenn sie überhaupt nicht erwähnt wird, in angeblich unpolitischer Rhetorik. Wie bei der Veröffentlichung von Zahlen, die zeigen, wie stark überrepräsentiert im Ausland geborene Menschen unter den Corona-Infizierten in offiziellen Statistiken sind, und der Antwort der Gesundheitsbehörde, man könne die betroffenen Gruppen nicht mit Informationen erreichen. Wie amtlich und unpolitisch das klingt! Das schafft Platz für wilde Spekulationen über „kulturelle Besonderheiten“, „geringes Vertrauen in den Staat“, „mangelnde Fähigkeit, sich Wissen anzueignen“, „Familienstrukturen, die von der schwedischen Norm abweichen“. Alles klingt so objektiv und unideologisch, dass wir Stopp rufen und das Band zurückspulen müssen, um Zeit zu haben darüber nachzudenken, was wirklich gesagt wird.
Ist die Überbelegung rund um das Järvafältet [1] wirklich eine Frage der Familienstrukturen? Ist sie nicht im Gegenteil das Ergebnis einer sehr systematisch durchgeführten Wohnungspolitik? Ist es ein Mangel an Informationen und ein geringes Vertrauen in die Gesellschaft, der dazu führt, dass im Ausland geborene Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie infiziert sind oder riskieren sich anzustecken? Ist es nicht eher das Ergebnis einer Arbeitsmarktpolitik, die auf prekären Beschäftigungsverhältnissen, Zeitarbeit und SMS-Jobs basiert? Hinter jeder neunmalklugen Erklärung kultureller Unterschiede steht eine sehr klare politische Priorität. Die Krise gibt uns eine Brille, mit der wir alle Mechanismen der Ideologie sehen, aber dieser Blick überträgt sich nicht automatisch auf das allgemeine Bewusstsein.
Niemals tritt die Ideologie so deutlich hervor, wie wenn sie unsichtbar ist – und am unsichtbarsten ist sie in den Redewendungen der Expert*innen und Beamt*innen. Man sagt oft, wir würden in einer Expertengesellschaft leben. Gleichzeitig stellen wir fest, dass das Vertrauen in dieses Fachwissen in einer Krise steckt. Es scheint ein Paradox zu sein, dass wir Zugang zu so viel Wissen haben und ihm dennoch misstrauen. Von den sozialen Medien bis zu russischen Trollen wird alles für diesen Zustand verantwortlich gemacht, aber eigentlich ist es nicht wirklich seltsam, dass diese beiden Dinge miteinander verbunden sind. Wir können beispielhaft zeigen, wie Schwedens bekanntester Mann, Anders Tegnell [2], nicht nur für die schwedische Strategie gegen die Corona-Ausbreitung, sondern auch für alles vom mangelnden Lagerbestand medizinischer Ausrüstung bis hin zu demografischen Mustern bei der Ausbreitung von Infektionen Rede und Antwort steht.
Es ist eigentlich nicht Sache eines Staatsepidemiologen, über Klassenstrukturen und die inhärente Verwundbarkeit des Just-in-Time-Kapitalismus zu sprechen. Es ist Sache der Politik, aber die Politik ist einen Schritt zurück aus dem Rampenlicht getreten und versteckt sich vor der Verantwortung. In Ermangelung politischer Antworten werden die Experten plötzlich (mehr oder weniger) unfreiwillige Apologeten der Klassengesellschaft.
Wir müssen die Politik zurück auf die Bühne zwingen, denn dann wird die Notwendigkeit sozialistischer Lösungen sichtbar. Die Ausbreitung von Infektionen ist Sache der Wissenschaft. Notfallbestände, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Wohnungspolitik und die Schaffung der Voraussetzungen für die Arbeit des Gesundheitspersonals sind allesamt politische Themen. Deshalb haben Sozialist*innen eine pädagogische Herausforderung, wenn die Krise die Gesellschaft lähmt.
Dieser Beitrag erschien am 16. April 2020 als ungezeichneter Leitartikel in der schwedischen Zeitung "Internationalen" |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz