Warum vertraut Schweden darauf, dass die Bürger*innen den Ratschlägen der Expert*innen folgen? Warum muss die Bevölkerung nicht eingesperrt und überwacht werden? Als Zeitgeschichtler könnte ich eine Antwort vorschlagen: Hier spiegelt sich trotz seiner jahrzehntelangen Erosion das tiefe Vertrauen in den schwedischen Sozialstaat wider, und nicht zuletzt gegenüber seinen Verwaltern - den Sozialingenieuren.
Kjell Östberg
Yvonne Hirdman hat den Aufstieg der Sozialingenieur*innen [1] anschaulich beschrieben. [2] Als die Sozialdemokratie in den 1930er Jahren ihre lange Regierungszeit begann, bestand ein dringender Bedarf an intellektueller und praktischer Unterstützung für die neue Politik. Eine Gruppe radikaler Intellektueller bot ihre Dienste an. Wissenschaft, Rationalität und Objektivität; der Wille, Dinge zu erledigen und Vertrauen in den guten Staat, so fasst Hirdman deren Programm zusammen. Das Ziel war es, den Menschen zu befreien.
Es wurde eine Erfolgsgeschichte. Die Gruppe um Gunnar und Alva Myrdal vereinigte die Rollen von Wissenschaftler*innen, Agitator*innen, politischen Akteur*innen, Forscher*innen und Regierungsbeamt*innen. Und nicht zuletzt stand die öffentliche Gesundheit im Mittelpunkt.
Als der Sozialstaat nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, stieg der Bedarf an zuverlässigen Wohlfahrtsbürokrat*innen. Die Bildungsrevolution produzierte Student*innen mit einem anderen Hintergrund als dem der traditionellen Beamt*innen. Die Ministerien und Behörden waren voll von jungen Männern und Frauen mit gesellschaftsverändernden Ambitionen. Viele hatten ihre Karriere mit Kaffeekochen oder Kopieren im [sozialdemokratischen Jugendverband] SSU begonnen.
Diese Generation spielte, oft in enger Zusammenarbeit mit alten und neuen sozialen Bewegungen, eine entscheidende Rolle beim Aufbau des Sozialstaats, der in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt fand.
Unter dem Druck der neuen Frauenbewegung bekamen wir feministische Bürokratinnen, Femokraten, innerhalb der Arbeitsmarktverwaltung und des Sozialministeriums, die kontinuierlich Reformen zur Gleichstellung der Geschlechter vorantrieben.
Die öffentliche Gesundheit stand wieder im Mittelpunkt. Das Gesundheitswesen war in öffentlichem Besitz und wurde öffentlich finanziert und betrieben. Die Apotheken wurden verstaatlicht. Vorbeugung und Information, oft in Zusammenarbeit mit Volksbewegungen, waren wichtig.
Sicherlich lebte der Behördenstaat noch. Sicherlich erlebten die Bürger Rechtsverletzungen und Übergriffe, aber unter dem Druck der sozialen Bewegungen in geringerem Maße. Das schwedische Amt für Gesundheit und Wohlfahrt bezeichnete nicht länger Homosexualität als Krankheit. Frauen bekamen das Recht, selbst über Abtreibungen zu entscheiden. Zwangssterilisationen wurden abgeschafft.
Die neoliberale Konterrevolution hat alles verändert. Jetzt waren nicht länger Sozialingenieur*innen gefragt, um den Sozialstaat zu entwickeln. Stattdessen sollten Ökonom*innen ihn abspecken und für die Privatisierung öffnen (und die Sozialingenieur*innen durften auf bürgerlichen Kultur- und Leitartikelseiten Spießruten laufen). Das Ergebnis sehen wir heute. Der kollektive Sozialstaat wird ausverkauft. Apotheken werden privatisiert. Das Gesundheitswesen wird von Bostoner Ökonomen gestaltet, nicht von den eigenen Fachleuten.
Doch gleichzeitig ist die Unterstützung der Bevölkerung für die Idee des solidarischen Sozialstaats in vielerlei Hinsicht ungebrochen. Das SOM-Institut [3] hat kürzlich gezeigt, dass der Widerstand gegen Gewinne im Sozialwesen - der Motor der Privatisierungswellen - bis weit in die bürgerlichen Kerntruppen hinein massiv bleibt. Das Gesundheitswesen, die schwedische Steuerbehörde und das Alkoholmonopol (Systembolaget) sind die Unternehmen, denen wir am meisten vertrauen. Mehr als 99 Prozent aller Eltern bringen ihre Kinder immer noch zur Kindergesundheitspflege, obwohl dies freiwillig ist.
Jetzt, da die neoliberale Weltordnung vor unseren Augen zusammenbricht, können wir sogar hören, wie bürgerliche Privatisierungsfanatiker*innen die Folgen der Privatisierungen beklagen.
Ich denke, es ist ein Spiegelbild der Idee des solidarischen Sozialstaats, das wir im Vertrauen in Anders Tegnell und in der Unterstützung der Empfehlungen der Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten) sehen.
Aber der Sozialstaat unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Staat, der seit Jahrzehnten von Neoliberalismus und New Public Management geprägt ist. Und die heutigen Expert*innen haben keine erkennbare Sympathie für Sozialreformprogramme.
Die Zerschlagung des solidarischen Sozialstaats läuft seit langem. Parteien und Bewegungen, die ihn aufgebaut haben, sind geschwächt oder haben ihre Ideale gewechselt.
Lange Zeit waren es große Gruppen junger radikaler Gesellschaftverbesserer*innen, die zur Sozialdemokratie zogen, um ihre Ideen zu verwirklichen. Aber die Generation, die jetzt regiert, wurde bereits beim SSU geschult, eine Politik zu verteidigen, die tiefere soziale Spaltungen verursacht, als wir es ein halbes Jahrhundert lang kannten.
Doch die jetzt entstandene Situation bietet sich für kollektive Lösungen an. Für gemeinsames demokratisches Eigentum. Für Bedürfnisse statt Profitjagd.
Oder wie Annie Ernaux in ihrem Brief an Emmanuel Macron schreibt: „Herr Präsident, achten Sie auf die Folgen dieser Zeit der Ausgangssperre, dieser Umkehrung des Laufs der Dinge. Die Zeit ist günstig, Dinge infrage zu stellen. Eine Zeit, um sich eine neue Welt zu wünschen. Nicht die Ihre! Nicht die Welt [...], deren eklatante Ungleichheiten die Epidemie enthüllt.“ [4]
Doch die Kraft, dorthin zu gelangen, wird nicht durch Neuaushandlung der Januar-Vereinbarungen [5] oder durch bedingungsloses Ausschütten von Milliarden über die Wallenberg-Unternehmen gewonnen. Sie liegt in den Erfahrungen des kämpfenden Gesundheitspersonals; der Bewegungen, die den Sozialstaat hartnäckig verteidigen und Privatisierungen und Mietspekulationen bekämpfen; in der Solidarität der Flüchtlingsbewegung; im Engagement junger Klimaaktivist*innen.
Kjell Östberg ist Historiker und Professor an der Hochschule Södertörn. Er ist aktiv in der Organisation „Socialistisk Politik“ (IV. Internationale). Übersetzung und Anmerkungen: Björn Mertens |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz