Griechenland/Türkei
Für eine internationalistische Antikriegsbewegung gegen nationale Mythen
Zum aktuellen griechisch-türkischen Konflikt im Mittelmeer
Erklärung von OKDE-Spartakos
Die derzeitige griechisch-türkische Krise im Mittelmeerraum ist nicht das Ergebnis einer angeblichen einseitigen Aggression und Provokation durch die Türkei. Ebenso wenig ist sie das Ergebnis der Verschärfung imperialistischer Rivalitäten oder der rivalisierenden Ansprüche der Bourgeoisien Griechenlands und der Türkei. Der konkrete Grund für die Krise war die Vereinbarung der griechischen Regierung mit dem ägyptischen Diktator im Rahmen einer Politik der griechischen Bourgeoisie, die darauf abzielt, die türkische Bourgeoisie vom Zugang zu den - immer noch umstrittenen - wohlstandsproduzierenden Ressourcen des südöstlichen Mittelmeers auszuschließen. Allgemeine pazifistische Propaganda, so notwendig sie auch sein mag, reicht in einer Zeit gefährlicher Kriegsspiele nicht aus. Die gefährliche Kriegslust des griechischen Staates, die die arbeitende Klasse und das Volk der Gefahr eines katastrophalen Krieges für die Interessen der Kapitalisten aussetzt, muss verurteilt werden.
Griechenlands wichtigste Waffe bei seinem Versuch, die Türkei vom Mittelmeer auszuschließen, ist die relative Gunst, die es derzeit innerhalb des westlichen kapitalistischen Blocks seitens der USA und der großen EU-Mächte (Frankreich usw.) genießt, hauptsächlich wegen der teilweisen diplomatischen Wende der Türkei zu Russland. Griechenlands klares Ziel ist eine durchgehende AWZ (Ausschließliche Wirtschaftszone [1]) zwischen Griechenland und Zypern, die an die AWZ ihrer Verbündeten Israel und Ägypten im Osten und Italien im Westen grenzt; das wäre eine Seekarte, auf der die Türkei keinen Platz haben wird.
Die griechische Regierung hat den von Deutschland vermittelten Dialog seit der Julikrise abgebrochen und ein bilaterales Abkommen mit Ägypten über eine teilweise Abgrenzung der AWZ beider Länder angekündigt, zu dem auch die von der Türkei und Libyen beanspruchten Meeresgebiete gehören. Die neuen seismischen Untersuchungen der Türkei sind eine Antwort auf diese einseitige Aktion Griechenlands.
Die seismischen Untersuchungen der „Oruç Reis“ [2] werden in sehr großer Entfernung von den griechischen Inseln durchgeführt (es ist bezeichnend, dass sie 90 % der AWZ, die von Griechenland für die winzige Insel Kastelorizo beansprucht wird, unberührt lassen). Entgegen der nationalistischen Kritik an der „angeblichen Weichheit“ von Mitsotakis hat die griechische Regierung aggressiv und gefährlich auf die türkischen Untersuchungen reagiert und nicht nur die diplomatische Isolation der Türkei angestrebt, sondern auch den internationalen Luftraum über dem Gebiet für die Ausbildung der Luftwaffe und die Vorbereitung einer gemeinsamen Militärübung mit der US-Luftwaffe blockiert, nachdem sie zuvor bereits eine gemeinsame Übung mit der französischen Marine durchgeführt hatte. Gleichzeitig demonstriert die Regierung ihre Entschlossenheit, indem sie die Ausdehnung der Hoheitsgewässer Griechenlands im Ionischen Meer ankündigt, eine Ankündigung, die auch Kotzias, damals Außenminister von SYRIZA, vor zwei Jahren gemacht hatte.
Gleichzeitig setzt die griechische Regierung Flüchtlinge auf ganz vulgäre Art ein. Sobald die Türkei die Frage der sicheren Schifffahrt und damit der Rechte auf See angesprochen hat, war die griechische Regierung zynisch genug, die jüngste Medienshow mit der „Belästigung“ griechischer Schiffe durch türkische Schiffe während der Flüchtlingsrettungsaktion in Chalki loszutreten, nur wenige Tage nachdem Griechenland internationale Empörung wegen seine kriminellen illegalen Rückführungen von Bootsflüchtlingen ausgelöst hat.
Die griechische Regierung polemisiert zusammen mit den Parlamentsparteien und den Medien gegen das türkisch-libysche Memorandum zur Abgrenzung der AWZ zwischen den beiden Staaten aus dem vergangenen Jahr und prangert das einseitige Vorgehen der Erdogan-Regierung an. Sie verschweigt natürlich die langen und systematischen aggressiven Maßnahmen der griechischen Regierungen: die seismischen Untersuchungen, die Griechenland bereits 2008 in dem umstrittenen Gebiet durchgeführt hat, in dem die aktuellen türkischen Messungen jetzt durchgeführt werden; die Kontakte mit Zypern und Israel für eine durchgehende AWZ der drei Staaten, die die Türkei ausschließen würde; die Verhandlungen mit der Gaddafi-Regierung über eine Grenzziehung mit Libyen, die türkische Ansprüche ignoriert; die Beteiligung Griechenlands an der imperialistischen Intervention in Libyen und die Gespräche mit der neuen Regierung, die auf den Sturz Gaddafis mit Hilfe der Imperialisten folgten und vieles mehr.
Wie in diesen Fällen üblich, gewinnt die Opposition in einer Zeit, in der die Regierung die aggressiven Ziele der Bourgeoisie durch entsprechende Manöver umsetzt, durch Nationalismus und Bigotterie an Boden. Dazu gehört auch die parlamentarische Linke. SYRIZA spielt eindeutig das Spiel, das [Ministerpräsident] Mitsotakis im Fall des imperialistischen Prespa-Abkommens gegen sie gespielt hat: vorzugeben, dem pragmatischen Nationalismus der Regierung nicht zuzustimmen, und zu versuchen, die schlimmsten nationalistischen Reflexe in der Gesellschaft auszunutzen, indem sie die ND [3]-Regierung dafür kritisiert, dass sie einen reduzierten Festlandsockel im Abkommen mit Ägypten akzeptiere, und für eine angeblich kleinlaute Reaktion auf die seismischen Messungen. Die KKE prangert die angebliche Aufgabe souveräner Rechte an, vergiftet die Arbeiterklasse mit Nationalismus und Feindseligkeit gegen das türkische Volk und zeigt, wie heuchlerisch und hohl ihre linke Rhetorik ist - in diesem kritischen Moment passt sich die KKE den Bestrebungen der griechischen Bourgeoisie an. Sogar Varoufakis vergaß seine Aussage vor den Wahlen, dass die Kohlenwasserstoffe [4] im Boden des Mittelmeers bleiben sollten, und forderte eine Pause der bilateralen Verhandlungen mit der Türkei und notfalls die einseitige Erklärung einer AWZ. Die parlamentarische Linke kritisiert die Rechtsregierung von einem reaktionären Standpunkt aus.
Die Behauptung, dass die „Oruç Reis“ auf dem „griechischen Festlandsockel“ operiere, ist eine grobe Ungenauigkeit. In der Region gibt es weder einen griechischen noch einen türkischen Festlandsockel oder eine AWZ, da nach internationalen Abkommen bei Interessenkonflikten deren Abgrenzung eine Vereinbarung zwischen den beiden Parteien voraussetzt. Eine solche Vereinbarung gibt es nicht. Somit gibt es keinen griechischen Festlandsockel und keine AWZ, sondern ein von beiden Ländern beanspruchtes Seegebiet. Wenn also US-Beamt*innen von „umstrittenen Gebieten“ sprechen, so ist dies nur eine realistische Beschreibung der Situation und kein angeblicher Schritt gegen die nationalen Interessen Griechenlands, wie uns viele weismachen wollen, die den beliebten Mythos verbreiten, die USA wollten „uns ausrauben“, in dem Versuch, die griechischen Bestrebungen mit einem falschen antiimperialistischen Heiligenschein zu umgeben.
Es ist auch ein Mythos, dass das Völkerrecht in diesem Streit auf der Seite Griechenlands stehe. Griechenland beansprucht einen vollen Festlandsockel und eine AWZ von 200 Seemeilen um alle seine Inseln, einschließlich nicht nur von Kastelorizo, einer Insel mit einigen hundert Einwohnern, die gegenüber türkischen Städten mit Hunderttausenden Menschen liegt, sondern auch der unbewohnten Insel Strongyli (die notwendig ist, um einen durchgehenden Festlandsockel inklusive AWZ mit Zypern zu erreichen). Die griechischen Regierungen haben lange Zeit argumentiert, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (Montego Bay Convention) die griechischen Positionen rechtfertige, sie verschweigen jedoch, dass die Türkei den Vertrag nie unterzeichnet hat und daher nicht daran gebunden ist (dies ist das gleiche Abkommen, das das „berühmte“ Recht vorsieht, die griechischen Hoheitsgewässer auf 12 Meilen auszudehnen). Selbst wenn die Türkei akzeptieren müsste, dass die Inseln normalerweise einen Festlandsockel und eine AWZ haben, ist das Ausmaß dieser Zonen jedoch weder selbstverständlich, noch ergibt es sich aus dem Vertrag. Griechenland fordert eine Abgrenzung nach dem „Äquidistanz-Prinzip“ (Mittellinie), das Griechenland erheblich begünstigt. [5] Die internationale Praxis sowie das Übereinkommen selbst sehen jedoch das „Gerechtigkeitsprinzip“ vor, wonach das, was im Allgemeinen gerecht ist, von Fall zu Fall entschieden werden sollte - ist es gerecht, wenn eine unbewohnte Insel oder eine Insel mit einer kleinen Bevölkerung Hunderte von Kilometern dicht besiedelter Küste und praktisch einen ganzen Staat mit 80 Millionen Einwohnern ausschließt? Jedenfalls zeigen internationale Erfahrungen, dass in Fällen, in denen kleine Inseln vor der Küste großer Küstenländer liegen, ihnen im Allgemeinen ein stark reduzierter Festlandsockel und AWZ gewährt wird (Streit zwischen Frankreich und Kanada um Saint-Pierre und Miquelon, Streit zwischen Frankreich und Großbritannien um die Kanalinseln, Streit zwischen Deutschland, Dänemark und den Niederlanden um die Nordseeinseln). Um es deutlich auszusprechen: Basierend auf dem Völkerrecht, das durch die von Griechenland angeführten imperialistischen Übereinkommen geschmiedet wurde, wäre es „gerecht“, den griechischen Inseln im Mittelmeer nur eine stark reduzierte AWZ zuzuweisen.
Wenn wir die rechtlichen Aspekte betonen, dann nicht, weil sie wirklich wichtig wären, sondern nur um zu zeigen, dass es kein wirkliches Gesetz gibt, das Griechenland auf seiner Seite hat. In der Krise geht es um einen regionalen imperialistischen Konflikt, und es ist bekannt, dass in diesen Konflikten jeder das kapitalistische „Gesetz“ so anwendet, wie er es sieht und es ihm passt. In diesem Streit sind die Forderungen Griechenlands nicht „gerecht“. Sie sind unverschämt.
Die arbeitende Klasse Griechenlands (wie auch die der Türkei) hat nichts von einer AWZ zu gewinnen, die ausschließlich von lokalen Kapitalisten oder multinationalen Unternehmen ausgenutzt wird. Die Tatsache, dass der Löwenanteil der möglichen Kohlenwasserstoffförderung von ausländischen Kapitalisten übernommen würde, ist zweitrangig, weil die Interessen aller Kapitalisten, unabhängig von ihrer Nationalität, den Arbeitern fremd sind. Griechische und türkische Arbeiter*innen hingegen haben durch einen möglichen Krieg alles zu verlieren. Ein griechisch-türkischer Krieg wäre ein Blutbad für die Arbeiter*innen beider Länder allein für die Interessen ihrer Bosse. Aber auch ohne Krieg stärkt die Rivalität der arbeitenden Klassen der beiden Länder ihre jeweiligen Bourgeoisien und Regierungen, mit der Macht der „nationalen Einheit“ gegen den vermeintlichen gemeinsamen äußeren Feind. Es ist allgemein bekannt, dass angesichts der „Bedrohung der Nation“ jeder Anspruch und jede Forderung der arbeitenden Klasse im Interesse des so genannten Gemeinwohls fallengelassen werden soll.
Die arbeitenden Klassen beider Länder können durch die Verwandlung der Ägäis und des östlichen Mittelmeers in ein Meer von Bohrinseln innerhalb der Logik eines absoluten Festhaltens an der weitgehend erschöpften Kohlenwasserstoffwirtschaft nur verlieren, eine Zukunft, die die bereits geschädigte natürliche Umwelt weiter zerstören und Luft und Wasser noch mehr vergiften wird.
Es ist zu erwarten, dass die arbeitende Klasse von patriotischen Mythen und nationalistischer Hysterie beeinflusst wird. Nationale Vorurteile sind sehr schwer abzubauen. Trotzdem müssen wir klar Position beziehen und die Wahrheit aussprechen, auch wenn wir am Anfang unweigerlich in der Minderheit sein werden. Wenn das, was wir heute sagen, nicht populär ist, werden die Erfahrungen der Arbeiter*innen und der Armen bald zeigen, dass die souveränen Rechte Griechenlands, die wir wahren sollen, nur im Interesse der Kapitalisten liegen - und unserer eigenen Zerstörung.
Die Halbwahrheiten, mit denen bestimmte Teile der außerparlamentarischen Linken oder sogar der Anarchist*innen reagieren, leisten der arbeitenden Klasse und den Unterdrückten keinen guten Dienst. Linke Patriot*innen oder sogar „antiimperialistische“ Anarchist*innen sprechen von türkischen „Provokationen“ und akzeptieren die nationalen Mythen entweder direkt oder durch verwinkeltere Argumentationen. Für die direkte oder indirekte Unterstützung der griechischen Seite werden verschiedene Vorwände herangezogen:
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Der autoritäre oder sogar „faschistische“ Charakter des Erdogan-Regimes, als ob die Verbündeten Griechenlands (der Diktator von Ägypten Sisi, der Metzger der Palästinenser*innen Netanjahu oder die Monarchien von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten) sowie die griechische Regierung selbst anderen Interessen als das Erdogan-Regime gedient hätten, nämlich den Interessen der Kapitalisten ihrer jeweiligen Länder.
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Das angebliche wirtschaftliche Übergewicht der Türkei gegenüber Griechenland, als ob die Türkei nicht seit einiger Zeit in einer tiefen Wirtschaftskrise stecken würde - auf die Erdogan mit Versprechungen auf Gasvorkommen im Schwarzen Meer und möglicherweise im Mittelmeerraum zu reagieren versucht, unter anderem als panische Antwort auf die dramatische Abwertung der Landeswährung.
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Die revisionistische Rolle der Türkei, die als einzige die Verträge und den Status quo in der Region in Frage stellen würde und die Grenzen neu zu ordnen droht, als wäre es nicht Griechenland, das beispielsweise als erstes historisch einseitig seine Küstengewässer auf 6 Seemeilen und seinen Luftraum auf 10 Seemeilen erweitert und Militär auf den entmilitarisierten Inseln stationiert hat.
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Die angebliche langfristige Vorliebe der Imperialisten für die Türkei – zu einem Zeitpunkt, an dem die größten imperialistischen Mächte mit Trump und der EU an der Spitze an der Seite Griechenlands stehen und neue Sanktionen gegen die Türkei zugunsten Griechenlands und Zyperns ankündigen.
All dies sind schändliche Vorwände und linke Phrasen, um sich dem Nationalismus anschließen, der die Arbeiter auf die Seite ihrer Bosse zieht.
In solchen kritischen Situationen reicht auch eine allgemeine pazifistische bilaterale Verurteilung der griechisch-türkischen Rivalität, bei der „beide Seiten reaktionär“ sind, nicht aus. Natürlich ist die Rivalität auf beiden Seiten reaktionär, und wir haben keinen Zweifel daran, dass Erdogan in erster Linie ein Feind der arbeitenden Klasse und der in seinem eigenen Land lebenden Menschen ist. Doch es ist Sache der Arbeiterbewegung der Völker der Türkei, gegen ihn vorzugehen, und sie tut es auch bereits, ohne die Hilfe griechischer Patriot*innen zu benötigen. Die Aufgabe der arbeitenden Klasse hier besteht in erster Linie darin, die Kapitalisten ihres Landes mit ihren Regierungen, ihrem Staat, ihren imperialistischen Bestrebungen und ihren Kriegsplänen zu bekämpfen. Es kann kein Vertrauen in die Verhandlungen zwischen den Regierungen, den imperialistischen „internationalen Faktor“ und das sogenannte Völkerrecht geben. Wir brauchen eine Antikriegsbewegung, und das sofort. Um all dies zu erreichen, muss die arbeitende Klasse sich vom patriotischen und nationalistischen Gift befreien. Und genau hier liegt die Hauptaufgabe der antikapitalistischen Linken: dabei zu helfen, indem sie die nationalen Mythen aufdeckt.
Nein zur griechischen Aggression im östlichen Mittelmeer
Nein zu Bohrungen und Förderung im Mittelmeerraum
Erhebt Euch gegen die Kriegspläne - für eine Massenbewegung innerhalb und außerhalb der Armee
Solidarität und Zusammenarbeit zwischen griechischen und türkischen, ortsansässigen, geflüchteten und migrierten Arbeiter*innen
6. September 2020 OKDE-Spartakos ist die griechische Sektion der Vierten Internationale. Übersetzung aus dem Englischen und Anmerkungen: Björn Mertens
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020).
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[1] Ausschließliche Wirtschaftszone: die nach dem Seerecht vorgesehene Zone von 200 Seemeilen (370 km), in der Küstenstaaten das alleinige Recht der wirtschaftlichen Ausbeutung haben (Fischfang, Bodenschätze).
[2] Von der Marine begleitetes türkisches Forschungsschiff, das in den umstrittenen Seegebieten nach Erdgasvorkommen sucht
[3] Nea Dimokratia (Neue Demokratie) ist die derzeit regierende, liberal-konservative Partei in Griechenland
[4] Oberbegriff für Erdöl und Erdgas
[5] Würde Helgoland heute noch zu Großbritannien gehören, wäre bei diesem Prinzip der Zugang zur Nordsee für Deutschland im Wesentlichen auf die Elbmündung beschränkt.