Ökosozialismus

Muss der Kampf für ein anderes System aufgeschoben werden?

Zeit ist immer ein wichtiger Faktor in Politik und Geschichte, aber nie war sie so wichtig wie in der Frage des Klimawandels.

John Molyneux

Die Warnung des Weltklimarats in seinem Bericht vom Oktober 2018, dass die Welt zwölf Jahre Zeit hat, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden, war zweifellos ein wichtiger Faktor, der eine globale Welle des Klimaaktivismus ausgelöst hat, insbesondere in Form der von Greta Thunberg angestoßenen Massenschulstreiks und der Bewegung Extinction Rebellion. Andererseits ist klar, dass diese Warnung von verschiedenen Menschen auf unterschiedliche Weise „verstanden“ oder interpretiert werden konnte und wurde. In diesem Artikel möchte ich auf einige dieser Interpretationen und ihre Implikationen eingehen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob uns noch Zeit für einen Systemwandel bleibt oder ob wir uns, weil die Zeit zu knapp dafür ist, auf Veränderungen konzentrieren, die im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden können, und uns damit bescheiden müssen.

Zunächst möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass manch ein opportunistischer Politiker diese „Zwölfjahreswarnung“ ganz anders verstanden hat als Greta und ihre Anhänger*innen. Denn für sie wären zwölf Jahre eine sehr lange Zeit: drei US-Präsidentschaftsperioden, zwei volle Legislaturperioden in Großbritannien und vielen anderen Ländern; mit anderen Worten: mehr als genug Zeit, um Eure Ansprüche umzusetzen, Euren Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern oder zumindest Eure Rente und mehrere Direktorenposten zu sichern, bevor überhaupt ernsthaft etwas unternommen werden müsste. Die einzige praktische Konsequenz dieser Zwölfjahreswarnung wäre dann die Erfordernis, verschiedene Kommissionen einzurichten, einige Aktionspläne auszuarbeiten, an einigen Konferenzen teilzunehmen und darüber hinaus ein gewisses Maß an „greenwashing“ zu betreiben. Für einen Vorstand eines großen Öl-, Gas- oder Autokonzerns würde dann genau dasselbe gelten.

Am anderen Ende des Spektrums gab es eine große Zahl von Menschen, vor allem junge Leute, die die Warnung so „verstanden“ haben, dass es buchstäblich nur zwölf Jahre gibt, um eine globale Auslöschung zu verhindern.

Diese Fehlinterpretationen dürfen nicht gleichgesetzt werden: Die erste ist äußerst zynisch und immens schädlich für Mensch und Natur gleichermaßen; die zweite ist naiv, aber gut gemeint. Aber es sind beides Fehlinterpretationen dessen, was der Bericht sagt, und dessen, was der Klimawandel ist. Der Klimawandel ist kein Ereignis, das 2030 eintreten könnte oder auch nicht, und das durch Notfallmaßnahmen in letzter Minute abgewendet werden könnte, sondern ein Prozess, der bereits im Gange ist. Jede Woche, jeder Monat oder jedes Jahr, in denen sich die Reduzierung der Kohlenstoffemissionen verzögert, verschärft das Problem und macht es schwieriger, es in den Griff zu bekommen. Umgekehrt gibt es keine absolute Frist, nach deren Ablauf es zu spät ist, etwas zu tun und wir also genauso gut den Geist aufgeben könnten.

Der Schwerpunkt des IPCC-Berichts lag nicht auf dem Aspekt der „Auslöschung“, sondern vorwiegend darauf, was erforderlich wäre, um die globale Erwärmung auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu halten, und was die wahrscheinlichen Auswirkungen wären, wenn 2 °C erreicht würden. In der Zusammenfassung für die politischen Entscheidungsträger heißt es wörtlich:

„Menschliche Aktivitäten haben etwa 1,0 °C globale Erwärmung gegenüber vorindustriellem Niveau verursacht, mit einer wahrscheinlichen Bandbreite von 0,8 °C bis 1,2 °C. Die globale Erwärmung erreicht 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052, wenn sie mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter zunimmt. […]“

Recht eindeutig heißt es dann: „Klimabedingte Risiken für Gesundheit, Lebensgrundlagen, Ernährungssicherheit und Wasserversorgung, menschliche Sicherheit und Wirtschaftswachstum werden laut Projektionen bei einer Erwärmung um 1,5 °C zunehmen und bei 2 °C noch weiter ansteigen.“ [1]

Ich zitiere diese Passagen nicht, weil ich den Bericht des Weltklimarats als sakrosankt oder als der Weisheit letzten Schluss zu diesen Fragen betrachte. Mir scheint im Gegenteil klar, dass der Bericht in seinen Vorhersagen konservativ war – was nicht überrascht, da seine Methode den Konsens von Tausenden von Wissenschaftler*innen erforderte – und dass die globale Erwärmung und, was entscheidend ist, ihre Auswirkungen in Wirklichkeit schneller voranschreiten als vom IPCC erwartet. [2]

Ich möchte vielmehr zeigen, dass wir nach dem Weltklimarat und nach jedem ernsthaften Verständnis des Klimawandels nicht vor einer Klippe stehen, von der wir alle im Jahr 2030 oder zu einem anderen genau vorhersehbaren Zeitpunkt fallen werden, sondern das es um einen rasch voranschreitenden Prozess mit zunehmend katastrophalen Auswirkungen geht. Innerhalb dieses Prozesses wird es höchstwahrscheinlich Kipp-Punkte geben, an denen sich das Tempo des Wandels sehr schnell beschleunigt und bestimmte Veränderungen unumkehrbar werden. Aber niemand weiß genau, wann das sein wird, und selbst dann werden wir immer noch von einem Prozess sprechen, der nicht zu einer sofortigen totalen Auslöschung führt.

Ein korrektes, wissenschaftlich fundiertes Verständnis dieses Prozesses ist von entscheidender Bedeutung. Sich als Aktivist*innen auf eine Art Countdown einzulassen, als gäbe es eine feste Zeitlinie – wir haben jetzt nur noch zehn Jahre, neun Jahre, acht Jahre …, um den Planeten zu retten –, ist wahrscheinlich nicht hilfreich. Wir wollen auch nicht der Panikmache geziehen werden, wenn die Welt dann doch nicht untergeht. Dieses Verständnis ist auch wichtig als Grundlage für den Umgang mit der entscheidenden Frage, ob nämlich noch die Zeit für einen Systemwechsel bleibt.

 

System change – not climate change
(Foto: Leonhard Lenz, Berlin 2019)

Das Argument, dass nicht mehr genug Zeit für einen „Systemwechsel“ bleibt, womit ich den Sturz des Kapitalismus meine, gibt es in der Umweltbewegung schon lange, auch schon lange vor der „Zwölfjahreswarnung“. Ich erinnere mich, dass es in der Kampagne gegen den Klimawandel energisch (und voller Wut) gegen einen ziemlich glücklosen Trotzkisten vorgebracht wurde, als ich mich Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal daran beteiligte. „Es ist keine Zeit, auf deine Revolution zu warten“, wurde ihm gesagt.

Nun kann dieses Argument der „fehlenden Zeit“ natürlich von Leuten, die eigentlich prokapitalistisch sind, als Vorwand benutzt werden. Aber es kann auch in gutem Glauben von Leuten vorgebracht werden, die die Abschaffung des Kapitalismus begrüßen würden, wenn sie eine praktische Chance dafür sähen. Als Beispiel dafür zitiere ich Alan Thornett, dessen lebenslanges Engagement als Sozialist außer Zweifel steht. In seinem Buch Facing the Apocalypse: Arguments for Ecosocialism schreibt Alan Thornett:

„Die Standardlösung, die von den meisten in der radikalen Linken propagiert wird …, ist der revolutionäre Sturz des globalen Kapitalismus – implizit innerhalb der nächsten zwölf Jahre, denn so lange bleibt uns nur noch …

Ein solcher Ansatz ist maximalistisch, linksradikal und nutzlos. Wir alle können als Sozialist*innen mit beiden Händen für die Abschaffung des Kapitalismus stimmen, und das ist in der Tat unser langfristiges Ziel. Aber als Antwort auf die globale Erwärmung innerhalb der nächsten 12 Jahre macht es keinen Sinn.

Es handelt sich dabei um „mangelnde Glaubwürdigkeit“: Während ein katastrophaler Klimawandel tatsächlich vor Augen steht, kann dasselbe von einer globalen sozialistischen Revolution kaum mit derselben Glaubwürdigkeit gesagt werden – es sei denn, ich habe etwas verpasst. Es mag nicht unmöglich sein, aber es ist eine viel zu ferne Perspektive, um eine Antwort auf die globale Erwärmung und den Klimawandel zu geben …

Um es ganz offen zu sagen: Wenn der Umsturz des globalen Kapitalismus in den verbleibenden 12 Jahren die einzige Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel ist, dann gibt es keine Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel.“ [3]

Alan hat hier das Argument, das ich anfechten möchte, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.

Zunächst einmal ist zu sagen, dass für ernsthafte Sozialist*innen und Marxist*innen (angefangen bei Marx, Engels und Rosa Luxemburg) der Kampf für die Revolution dem Kampf für Reformen in keiner Frage entgegensteht. Vielmehr ist Revolution etwas, das aus dem Kampf für konkrete Forderungen erwächst. [4] So wie die Marxist*innen die Überzeugung, dass die einzige Lösung für die Ausbeutung die Abschaffung des Lohnsystems ist, mit der Unterstützung des gewerkschaftlichen Kampfes für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen verbinden, so können sie für unmittelbare Forderungen wie kostenlose öffentliche Verkehrsmittel, das Belassen fossiler Brennstoffe im Boden und massive Investitionen in erneuerbare Energien kämpfen und gleichzeitig eine ökosozialistische Revolution befürworten. Auf diese Weise wird auf eine praktische Probe gestellt, ob ein ökologisch nachhaltiger Kapitalismus möglich ist.

Aber damit ist die Frage noch nicht ausreichend beantwortet. Wenn man davon ausgeht, dass eine Revolution in zu weiter Ferne liegt und sie daher als Lösung des Klimaproblems realiter kaum infrage kommt, dann sollten Klimaaktivisten in der Praxis all ihre Energien einfach darauf konzentrieren, Reformen durchzusetzen, anstatt auf eine Revolution zu setzen und sich entsprechend zu organisieren. Außerdem sollte man sich überwiegend auf die Reformen konzentrieren, die nur diese Frage betreffen. Welchen Sinn hätte es, abgesehen von einem abstrakt moralischen Standpunkt, sich auf Themen wie Recht der Arbeiter*innen auf einen Arbeitsplatz, Antirassismus, Rechte der Frauen auf den eigenen Körper, LGBTQ-Rechte etc. zu konzentrieren, wenn in den nächsten Jahren das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht?

Wenn man jedoch davon ausgeht, dass sich der Kapitalismus in dieser Hinsicht als nicht oder nur unzureichend reformierbar erweisen wird, dann ist es notwendig, ökosozialistische Kampagnen mit revolutionärem Aktivismus, Propaganda und Organisation auf breiterer Front zu verbinden und anzuerkennen, dass eine Revolution die Massenmobilisierung der arbeitenden Menschen zu unterschiedlichsten Themen und ihre Einheit angesichts der obwaltenden Strategie des Teilens und Herrschens erfordert.

Dies wirft dreierlei Fragen auf:

  1. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Klimawandel durch Reformen im Rahmen des kapitalistischen Systems aufgehalten oder eingedämmt werden kann?

  2. In welcher „Ferne“ liegt eine mögliche sozialistische Revolution?

  3. Gibt es Alternativen dazwischen?

Burn capitalism – not coal

 

Zur ersten Frage haben ich und andere Ökosozialisten (namentlich John Bellamy Foster, Ian Angus, Michael Löwy, Martin Empson, Amy Leather etc.) wiederholt und ausführlich argumentiert, dass wir von der Chance, den Klimawandel auf kapitalistischer Basis zu bewältigen, meilenweit entfernt sind, sei es in zwölf, zwanzig oder vierzig Jahren. [5] Ich will hier nicht alle Argumente wiederholen, sondern nur sagen, dass der Kapitalismus ein System ist, das von Natur aus und unaufhaltsam durch die konkurrierende Kapitalakkumulation auf einen Kollisionskurs mit der Natur getrieben wird, und die Industriezweige für fossile Brennstoffe – Öl, Gas und Kohle – bei dieser Kapitalakkumulation eine so zentrale Rolle spielen, dass es keine realistische Aussicht darauf gibt, dass sich der Kapitalismus aus seiner Abhängigkeit von ihnen befreien könnte.

Zur zweiten Frage möchte ich zugeben, dass, wenn die Zukunft, sagen wir die nächsten zwölf Jahre, der unmittelbaren Vergangenheit, sagen wir den letzten fünfzig Jahren, ähnelt, die Chance auf eine internationale sozialistische Revolution tatsächlich sehr weit entfernt erscheint. Aber allein der erkennbare Klimawandel sorgt dafür, dass das nächste Jahrzehnt ganz und gar nicht der Vergangenheit ähneln wird. Im Gegenteil, gerade die durch die globale Erwärmung verursachten Bedingungen – immer unerträglichere Hitze, Dürren, Brände, Stürme, Überschwemmungen etc. – werden das Bewusstsein der meisten Menschen verändern, nämlich dass der Kapitalismus gestürzt werden muss und eine Revolution machbar ist.

Die immer schärfere Klimakrise wird mit einer umfassenderen Umweltkrise (in einer Vielzahl von Formen), einer sich vertiefenden und wiederkehrenden Wirtschaftskrise (wie es derzeit offensichtlich ist) und verschärften internationalen geopolitischen und militärischen Spannungen (z. B. mit China und Russland) einhergehen. Diese Tendenzen werden sich durch ihre Wechselwirkungen untereinander noch verstärken.

Hier kommt die eingangs getroffene Feststellung, dass die „zwölf Jahre“ keine genaue oder endgültige Frist darstellen (können), wieder ins Spiel. Wenn, wie ich es für überaus wahrscheinlich halte, der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Erwärmung auf 1,5 °C zu halten, bedeutet dies nicht, wie Thornett annimmt, dass das Spiel vorbei und der Kampf beendet ist, sondern dass alle oben beschriebenen Bedingungen und Katastrophen sich verschärfen und dabei die Wahrscheinlichkeit einer Massenrevolte und Revolution erhöhen werden.

Viele Menschen können sich eine Revolution in einem Land vorstellen, halten es aber für wenig wahrscheinlich, dass eine Revolution auf internationaler oder globaler Ebene ausbrechen könnte. Wenn mit internationaler Revolution eine gleichzeitige, weltweit koordinierte Rebellion gemeint ist, so ist dies in der Tat äußerst unwahrscheinlich, aber dies war nie das Szenario, das sich die Anhänger einer internationalen Revolution vorgestellt haben. Vielmehr ist es so, dass sich die Revolution, die in einem Land – Brasilien oder Ägypten, Irland oder Italien – beginnt, in einer langen, aber kontinuierlichen Reihe von Kämpfen auf andere Länder ausbreiten könnte. Dies ist eine Perspektive, die durch die aufflammenden Kämpfe der letzten Zeit sogar noch plausibler geworden ist.

Da ist zunächst der arabische Frühling 2011, der zu einer Kettenreaktion von Aufständen von Tunesien bis Ägypten, Libyen, Bahrain und Syrien geführt hat und an dem sich auch kleinere, aber immer noch bedeutende Aufstände – etwa die „Empörten“ in Spanien oder Occupy Wallstreet in den USA – orientiert haben. Dann gab es 2019 eine Welle von Massenrevolten auf der ganzen Welt – die französischen Gelbwesten, Sudan, Haiti, Hongkong, Algerien, Puerto Rico, Chile, Ecuador, Irak, Libanon etc. [6] Hinzu kamen die weltweiten Schülerstreiks und, in diesem Jahr, sogar mitten in der Pandemie, die globale „Black Lives Matter“-Bewegung. Dies zeigt, dass sich in der heutigen globalisierten Welt Revolten mit erstaunlicher Reichweite und Schnelligkeit international ausbreiten können. Die internationalen Auswirkungen einer sozialistischen Revolution in irgendeinem Land wären immens. Dies gilt umso mehr, wenn die Revolution – was zwangsläufig so sein wird – an zentraler Stelle durch den Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltzerstörung motiviert ist. Denn welche Debatten über den Sozialismus in einem Land in der Vergangenheit auch immer geführt wurden, es wird überdeutlich sein, dass keine Revolution in Südafrika oder Frankreich, Indonesien oder Chile in der Lage sein wird, den Klimawandel zu bekämpfen, wenn die USA, China, Russland und Indien weitermachen wie bisher. Der Klimawandel ist ein internationales Problem wie kein anderes zuvor.

Sucht man nach anderen Alternativen, den Kapitalismus entweder nachhaltig zu machen oder ihn revolutionär zu stürzen, bieten sich zwei an: Es gibt die Perspektive bzw. Strategie, den Kapitalismus durch den Sieg bei einer Parlamentswahl in einen Sozialismus zu verwandeln – was man die Corbyn-Strategie nennen könnte; und es gibt die „Alternative“ der faschistischen/autoritären Barbarei. Die erste ist leider illusorisch; die zweite, noch bedauerlicher, ist nur allzu real.

Was ich die Corbyn-Strategie (in ihrer jüngsten Version) genannt habe, hat eine sehr lange Tradition und geht zumindest auf Karl Kautsky und die deutsche Sozialdemokratische Partei vor dem Ersten Weltkrieg zurück. In der Praxis hat sie stets zu katastrophalen Folgen geführt, sei es in Deutschland selbst, in Italien während der „Roten Jahre“,  [7] in Chile 1970–73 oder unter Syriza in Griechenland oder auch mit Corbyn (außer dass es ihm nicht gelang, die dafür erforderlichen Parlamentswahlen zu gewinnen).

Oberflächlich betrachtet erscheint diese Strategie enorm praktischer und plausibler als eine Revolution, aber in Wirklichkeit ist sie grundlegend falsch. Die gegenwärtig herrschende kapitalistische Klasse wird weder in einem Land noch international aufgrund eines Wahlsieges der Sozialist*innen abtreten, d. h. ihre Macht aufgeben. Im Gegenteil, sie wird ihre gesamte wirtschaftliche Macht (durch Investitionsstreiks, Kapitalflucht, Währungsangriffe etc.), ihre soziale und ideologische Hegemonie, insbesondere über die Medien, und, was entscheidend ist, ihre Kontrolle über den Staat einsetzen, um eine potentielle sozialistische Regierung gefügig zu machen oder, falls nötig, zu zerstören. [8] Eine solche Sabotage könnte nur durch die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse bekämpft und überwunden werden. Deshalb ist diese Option bei all ihren fortschrittlichen Absichten eine Illusion; sie wird entweder zur Revolution werden, die sie eigentlich vermeiden wollte, oder sie wird sich in Luft auflösen.

Was die faschistische/autoritäre Option anlangt, wissen wir aus bitterer Erfahrung, etwa in Italien, Deutschland, Spanien, Portugal, Chile und anderen Ländern, dass dies eine reale Möglichkeit ist, die in vielerlei Hinsicht die Kehrseite der Medaille des Scheiterns der reformistischen Option darstellt. Und wenn wir heute auf der Welt das kapitalistische System betrachten, das in einer multidimensionalen Krise steckt, sehen wir eine wachsende politische Polarisierung, in der sich die Kräfte der extremen Rechten in vielen verschiedenen Ländern zusammenrotten. Es ist bittere Tatsache, dass drei große Länder (die USA, Brasilien und Indien) unter rechtsextremer, wenn nicht sogar vollständig faschistischer Kontrolle stehen und dass eine beträchtliche Anzahl anderer Länder von höchst autoritären Regimen regiert wird.

      
Mehr dazu
Daniel Tanuro: Der Klimawandel lässt sich nur auf der Straße bekämpfen, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Kai Hasse: Partei DIE LINKE: Welcher Kurs in der Klimapolitik?, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Daniel Tanuro: Von COP zu COP kommt die Katastrophe näher, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online)
Nationale Leitung der Gauche anticapitaliste: Ökosozialistische Revolution oder Klimakatastrophe, die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019). Auch bei intersoz.org
Ökologie-Kommission der Vierten Internationale: Unser Planet, unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
Alan Thornett: Daniel Tanuro über „grünen Kapitalismus“, Inprekorr Nr. 6/2014 (November/Dezember 2014)
 

In dem Maße, wie die Klimakrise und mit ihr die Zahl der Klimaflüchtlinge zunimmt, wird die autoritär-faschistische Option für die in Panik geratene herrschende Klasse und einige ihrer Anhänger*innen aus der Mittelschicht immer attraktiver erscheinen. Auf lange Sicht wird der Faschismus die globale Erwärmung nicht aufhalten, aber dies würde sich erst zeigen, wenn wir zuvor die finsteren Jahre einer Barbarei durchlebt haben.

Um auf die Frage zurückzukommen, ob noch die Zeit für einen Systemwandel bleibt: Niemand kann die Zukunft genau vorhersagen, [9] aber das bei weitem wahrscheinlichste Szenario ist, dass die sich beschleunigende Klima- und Umweltkrise den Klassenkampf und die politische Polarisierung auf allen Ebenen verschärfen wird. Dieser Prozess wird zunehmen, wenn sich die Welt auf die 1,5 °C-Schwelle zubewegt, und sich fortsetzen, nachdem sie überschritten ist. Die Bewegung wird sich nicht nur damit befassen müssen, wie wir den Klimawandel abwenden oder stoppen können, sondern auch damit, wie wir mit seinen verheerenden Auswirkungen umgehen: mit Barbarei oder Solidarität?

Der Kapitalismus in all seinen Formen wird sich zunehmend in Barbarei verwandeln. Nur ein Systemwandel, die Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus, kann eine Alternative anbieten, die auf der Solidarität der Arbeiterklasse und der Menschen beruht.

John Molyneux ist Chefredakteur der irischen Marxist Review und Mitglied des leitenden Komitees von Global Ecosocialist Network (GEN).
Aus: Climate & Capitalism vom 25.8.2020
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung, 2018.

[2] Siehe John Molyneux, „How fast is the climate changing?“, Climate & Capitalism, 2. August 2019.

[3] Alan Thornett, Facing the Apocalypse: Arguments for Ecosocialism, (Resistance Books, London. 2019), S. 95

[4] Das schlagendste Beispiel hierfür ist die Russische Revolution, die aus der Forderung nach Brot, Land und Frieden heraus entstanden ist. Dasselbe gilt natürlich für praktisch alle Massenrevolutionen.

[5] Siehe etwa John Molyneux, „Apocalypse Now! Climate change, capitalism and revolution“, Irish Marxist Review 25, 2019.

[6] John Molyneux, „A New Wave of Global Revolt?“ Rebel, 6. November 2019.

[7] Das Biennio rosso 1919/20, in dem Norditalien eine revolutionäre Welle erlebt hat, wurde vom Biennio nero der Jahre 1921 und 1922 abgelöst, das im Marsch auf Rom der Fasci und der Machtübernahme Mussolinis gipfelte. Siehe auch den Artikel "Es wie in Russland machen": Die zwei roten Jahre in Italien, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020)

[8] Näheres hierzu in „Understanding Left Reformism“, Irish Marxist Review 6, 2013; und in Lenin for Today, (Bookmarks, London, 2017), Kapitel 3.

[9] „In Wirklichkeit kann man nur den Kampf „wissenschaftlich“ vorhersehen, aber nicht seine konkreten Momente …“, Antonio Gramsci, Gefängnishefte 11, § 15, S. 1400