Dieser Beitrag befasst sich mit der Dynamik der Selbstverwaltung im und gegen den Kapitalismus, hin zu einer anderen Gesellschaft. Er wurde am 4. Oktober 2009 bei einer vom Antikapitalistischen Kollektiv von Besançon organisierten Diskussion eingebracht.
Catherine Samary
Ich möchte kurz auf die aufgeworfenen Fragen eingehen, indem ich meine Antwort in zwei Teile gliedere:
Da sich Begriffe auf verschiedene Realitäten und Interpretationen beziehen können, müssen wir zuerst klären, wovon wir sprechen. Nur so können wir falsche Debatten vermeiden und tiefgreifende Überlegungen anstellen. Es gilt, zwei Ebenen zu unterscheiden:
Einerseits ist die Selbstverwaltung ein Prinzip, das jeder Person das Recht gibt, in Verbindung mit einem radikalen emanzipatorischen Projekt alles, was sie betrifft, zu verwalten (dafür verantwortlich zu sein). Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, wie dieses grundlegende Recht konkret umgesetzt wird. Klar ist nur, dass es ein allgemeines Menschenrecht ist und zwangsläufig im Widerspruch zur Ausbeutung der Lohnabhängigen steht. Diese haben überhaupt keine Möglichkeit, ihre Arbeit selbst zu verwalten, weil die Wirtschaft auf den privaten Eigentumsrechten des Kapitals basiert. Daher wird die Selbstverwaltung auch mit dem Sozialismus in Verbindung gebracht. Diesen kann man in erster Linie als System „lesen“, das die volle und universelle Verantwortung der Menschen über ihre Arbeit und über die Art der Bedürfnisbefriedigung auf die Tagesordnung setzt. Doch das liefert immer noch keine konkrete Antwort zur Frage der Organisation der Wirtschaft und der Demokratie, der Verwendung des Geldes, der Planung und des Markts oder der möglichen Eigentumsformen.
Andererseits aber wird die Selbstverwaltung im Denken konkretisiert: zum Beispiel im anarchistischen Konzept von Selbstverwaltung, Unternehmen für Unternehmen, verbunden durch einen Markt. Oder sie wird in der Praxis konkretisiert: zum Beispiel in den verschiedenen jugoslawischen Systemen von Selbstverwaltung, die Plan, Markt, Selbstverwaltung sowie die Rolle der Partei und der Gewerkschaften unterschiedlich kombinieren, usw. In diesem Fall ist die Selbstverwaltung an einen bestimmten historischen Kontext und ein „institutionelles System“ – von Plan, Markt, Eigentum, verfassungsmäßigen Rechten usw. – gebunden. Ein solches System ist gemäß den vereinbarten Rechten und der Bilanz zu beurteilen.
Selbstverwaltung jetzt!, Foto: Brian Z |
Wir müssen uns also auf die Bewertungskriterien für die Bilanzen einigen (dies fällt unter die erste Dimension der Selbstverwaltung): Es braucht einen Konsens über die genauen Ziele und Grundrechte. Wenn wir dann analysieren, welche Mechanismen eine Kluft zwischen den Zielen und der Realität (zweite Dimension) erzeugen, können wir auf den richtigen Kurs einschwenken. Niemand sollte als „Lehrmeister“ oder roter Lehrer auftreten und ein am Schreibtisch erarbeitetes „Modell“ vorschreiben. Die zahlreichen neuen Kampfformen, die verschiedenen Erwartungen, das aufgrund der Vergangenheit entstandene Misstrauen oder die erlebten Dilemmas und Zwänge dürfen nicht ignoriert oder verächtlich abgetan werden.
Auf der Grundlage expliziter Bewertungskriterien können wir aus den Erfahrungen und den Debatten, insbesondere zwischen marxistischen und anarchistischen Strömungen, wichtige „Hinweise“ zur Beantwortung der Frage ableiten, welche verschiedenen Varianten von „Selbstverwaltungssystemen“ [1] es gibt und was die Voraussetzungen für die Nachhaltigkeit eines solchen Systems sein könnten. Ich werde im Folgenden nur ein paar Denkanstöße geben (die also noch zu diskutieren sind). Sie stützen sich auf meine Studien über die jugoslawischen Erfahrungen [2]:
Der Status und die Rechte der Selbstverwaltung konkretisieren sich am Arbeitsplatz, was immer auch diese Arbeit ist (Ausbildung, industrielle, landwirtschaftliche Produktion, Dienstleistungen usw.); sie sollten sich aber nicht auf diesen Rahmen beschränken. Das Recht, über Prioritäten, Verteilungskriterien oder die Finanzierung der Selbstverwaltung zu entscheiden, muss unabhängig von der konkret besetzten Arbeitsstelle und aus der doppelten Perspektive Arbeitende/Nutzende diskutiert und umgesetzt werden. Wieso sollten die Menschen, die in den Krankenhäusern arbeiten, die Einzigen sein, die über die Finanzierung, die Verwaltung und die Prioritäten des Gesundheitswesens entscheiden? Warum sollten die Arbeiter*innen in einem Bergwerk ihre Rechte verlieren, wenn der Betrieb aus ökologischen Gründen geschlossen wird? Dieses Konzept geht also über die anarchosyndikalistische Vision der Selbstverwaltung (Unternehmen für Unternehmen) hinaus.
Wenn das Selbstverwaltungssystem funktionieren und unter Einhaltung der vereinbarten Rechte wirksam werden soll, ist ein zentralistisches und bürokratisches Planungssystem natürlich zu hinterfragen; wir müssen aber auch über den begrenzten Horizont des Unternehmens und des Marktes hinausgehen, denn dieser setzt die Angestellten in Konkurrenz zueinander und verhindert, dass die Selbstverwaltungsrechte auf horizontaler „politischer“ Ebene, unabhängig vom Arbeitsplatz, entfaltet werden können.
Formen der „selbstverwalteten Planung“ (und Selbstverwaltungsorgane zur Überwachung der Umsetzung) lassen sich mit allen Arten von „selbstverwalteten Interessengemeinschaften“ auf verschiedenen räumlichen Ebenen kombinieren, sodass sie Arbeitende und Nutzende, Männer und Frauen verbinden – in den Betrieben, auf lokaler Ebene, in den Branchen, auf regionaler, nationaler, kontinentaler und auch auf internationaler Ebene. Die Eigentumsformen können vielfältig sein (individuell, kooperativ, große selbstverwaltete soziale Unternehmen oder sogar private Betriebe, sofern sie die Selbstverwaltungsrechte und die geplanten Ziele respektieren). Welche Ebene und welche Art der Kontrolle und der Finanzierung angemessen sind, hängt von den konkreten Bedürfnissen ab: So ist zum Beispiel die Koordinierung der Schienenverkehrspolitik auf kontinentaler Ebene anzusetzen; die Gesundheitspolitik kann dezentrale Einrichtungen mit solidarischen Finanzierungen auf nationaler und internationaler Ebene kombinieren; die Umweltfragen erfordern Entscheidungen auf allen Ebenen, von lokal bis global; usw.
Der Kampf gegen Prozesse der Bürokratisierung und der Reproduktion von Ungleichheiten (Geschlecht, sozial, kulturell, Herkunft usw.) ist entschieden voranzutreiben. Er muss von der Bilanzierung des Systems ausgehen und erfordert Kontrollmaßnahmen (-institutionen), das Recht auf Selbstorganisation, Mittel (Medien, Finanzen, lebenslanges Lernen), eine freiwillige Teilung undankbarer Aufgaben, eine Rotation der Verantwortlichkeiten usw. Bildung, auch im Bereich der Verwaltung, und die radikale Reduzierung und Aufteilung der Arbeitszeit sind in diesem Kampf von wesentlicher Bedeutung.
Der Kampf gegen Bürokratismus und Etatismus wie auch die Kritik und die Hinterfragung der Institutionen des Kapitalismus bedeuten nicht, dass wir auf Institutionen verzichten können. Die verschiedenen Formen der direkten und repräsentativen Demokratie sind auf Institutionen angewiesen (gewählte Kammern, administrative und wirtschaftliche Dienstleistungen, politische Organisationen, Vereinigungen usw.). Erfahrungen und Debatten werden zeigen, welche Institutionen wir aufgeben, „erfinden“ oder verändern müssen und welche von Menschen in Selbstverwaltung beurteilt oder einer sozialen und pluralistischen Kontrolle und kritischen Analyse unterzogen werden müssen, und zwar auf Grundlage der angestrebten Kriterien und Bestimmungszwecke, durch Vergleichen von Wirkungen und Zielen und mit periodischen Anpassungen.
In Anbetracht der angestrebten Rechte und Stellung des Menschen lässt sich die Selbstverwaltung nur verwirklichen, wenn die privaten Eigentumsrechte des Kapitals und der Status des auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Lohnempfängers radikal infrage gestellt werden – was den Sturz des Kapitalismus bedeutet. Viele genossenschaftliche Erfahrungen (Unternehmen, Banken oder fairer Handel und verschiedene Versuche der Solidarwirtschaft) wurden entweder erstickt (vgl. Lip in Frankreich 1973–1976; siehe unbedingt auch den Film „Les Lip“!) oder haben ihre ursprüngliche „Seele“ der Selbstverwaltung in einem bedrohlichen kapitalistischen Umfeld verloren, auch wenn es vielleicht noch einige Überbleibsel gibt.
Gleichzeitig entstehen aber innerhalb des Systems und im Widerspruch zu dessen vorherrschenden Regeln Bestrebungen, „anders zu produzieren und zu leben“. [3] Gerade in der Privatisierungsphase wird uns am deutlichsten bewusst, dass die öffentlichen Dienste und die soziale Sicherheit fragile Errungenschaften aus vergangenen Kämpfen sind. In Zeiten der Krise des kapitalistischen Systems, einhergehend mit Betriebsschließungen, massiven Entlassungen und sozialer Prekarisierung, können „selbstverwaltete“ Formen des Widerstands entstehen, wie in Argentinien im Jahr 2000, als Hunderte von Unternehmen, die die Eigentümer*innen aufgegeben hatten, von den Angestellten auf unterschiedliche Weise übernommen wurden: Die Arbeiter*innen des Unternehmens Zanon, das in genossenschaftlicher Form zu FaSinPa (Fabrik ohne Chef) wurde, haben vor Kurzem einen Rechtsstreit um die Anerkennung der Enteignung des ehemaligen Chefs gewonnen; aber da sie die Marktlogik ablehnen, fordern sie die Übernahme des Unternehmens durch den Staat und wollen gleichzeitig das Recht auf die Leitung des Unternehmens behalten (eine Form der „Verstaatlichung unter Kontrolle der Belegschaft“). Hierbei handelt es sich um konfliktträchtige Übergangssituationen, in denen sich zwei Rechtslogiken gegenüberstehen: die Rechte, die der krisengeschüttelte Kapitalismus noch schützt, und die Rechte (der Selbstverwaltung), die die Arbeiter*innen einfordern, die sie aber ohne einen Systemwechsel nicht vollständig verwirklichen können.
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Der Widerstand der Zanon-Leute kann Schule machen … oder verschwinden. Man kann das System nicht ändern, ohne zuerst darin bzw. dagegen zu kämpfen, ohne die Erwartung, dass auch andere zum Kampf bereit sind, aber in der Hoffnung, ihnen Mut zu machen. Gleichzeitig geht es darum, die Ungerechtigkeit der herrschenden Maßstäbe und Rechte aufzuzeigen und auf ideologischer Ebene eine „Hegemonie“ zu erlangen, die Teil eines Kräfteverhältnisses ist, das sich in der Selbstorganisation und der Entwicklung eines „Solidaritätsgefüges“ festigt; es geht aber auch darum, sich auf die Verwirklichung eines anderen Systems vorzubereiten und dessen bürokratische Degenerierung zu verhindern.
Träumen wir ein bisschen: Auf der Grundlage einer Dialektik von Kämpfen und Wahlergebnissen, soweit sie Ausdruck des Widerstands gegen den Kapitalismus sind, könnte man sich vorstellen, dass in einer Region verschiedene Selbstverwaltungsformen entstehen: für die Planung der öffentlichen Mittel, für solidarische Unternehmensführung, für Vereinigungen zur Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft (AMAP) oder für kollektive Versorgungsdienste; Nutzer*innen und Arbeiter*innen setzen sich für einen Genossenschaftsfonds zur Finanzierung dieser Projekte ein; Nutzer*innen und Arbeiter*innen beteiligen sich an Debatten und Budget-Entscheiden; freie Radios und andere Medien berichten über diese Erfahrungen; eine nationale und internationaler Solidarität entsteht rund um diese Entwicklung … Wer weiß?
Die Schwierigkeiten und Grenzen, auf die Selbstverwaltungsexperimente innerhalb des Systems stoßen, müssen in allen Phasen öffentlich und pluralistisch diskutiert werden. Doch das politische Ziel der Schaffung und Ausweitung aller Formen öffentlicher, sozialer Kontrolle über die Produktion und Verwaltung von Gütern und Dienstleistungen bereitet eine andere, selbstverwaltete Gesellschaft vor. Diese kann nicht „in einem einzelnen Unternehmen“, einer einzelnen Gemeinde oder Region entstehen und überleben, sondern erfordert eine globale Infragestellung jenes Systems, das eine selbstverwaltete Gesellschaft verhindert. Allerdings wäre es eine Sackgasse, nur auf den Großen Abend zu warten. Wir müssen darauf setzen, die Kämpfe und die Solidarität zu verbreiten und international auszuweiten: Die praktischen Versuche, „anders zu produzieren und zu leben“, inklusive historischer Rückblicke und Analysen der Misserfolge, machen andere Wege und Maßstäbe glaubhaft.
Catherine Samary ist Ökonomin, Balkan- und Osteuropaspezialistin sowie Mitglied der NPA und des Leitungsgremiums der IV. Internationale. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz