David Finkel
In den kommenden Wochen wird viel über die „Stärke und Widerstandsfähigkeit der demokratischen Verfassungsinstitutionen Amerikas“ zu hören sein angesichts der hartnäckigen Bemühungen des besiegten Präsidenten, das Ergebnis der Novemberwahlen zu kippen und eines von Donald Trump angestifteten „Aufstandsversuchs“. Man kann ziemlich sicher annehmen, dass sich das Chaos bei der formellen Ratifizierung des Siegs der Wahlleute von Biden und Harris durch den Kongress bei der Amtseinführung am 20. Januar nicht wiederholen wird – sowohl weil Trump jetzt isoliert und diskreditiert ist, als auch weil Polizei und Sicherheitskräfte im Gegensatz zum gestrigen Debakel dann massiv anwesend sein werden.
Doch die Realität ist komplizierter und weit weniger rosig. Diese heiligen „Institutionen“ sind tatsächlich ziemlich anfällig für antidemokratische Manipulationen, auch weil sie überhaupt nicht als demokratisch konzipiert wurden. Das Trump-Spiel „Grand Theft Election“ [1] (Schwerer Wahldiebstahl) zerschellte aus mehreren Gründen, hätte aber unter anderen, doch durchaus denkbaren Umständen viel bedrohlicher sein können.
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Das ist keine leere Drohung. Nachdem sich der Rauch am Abend verzogen hatte, sagten einige Republikaner – wenn man ihnen genau zuhörte –in Reden, die angeblich das Wahlergebnis stützen sollten, es sei nicht Sache des Kongresses, „in das Recht der Einzelstaaten einzugreifen, ihre Wahlen abzuhalten“. Einer von ihnen war Senator Rand Paul, der vor der Stichwahl in Georgia der Meinung war, dass es „das Wahlergebnis verändern könnte“, wenn man mehr Menschen zur Stimmabgabe ermutigt. Das ist kein Scherz!
Tatsächlich wird eine strenge Bundesgesetzgebung zum Wahlrecht genau dort benötigt, wo Gesetzgeber oder Verwaltungen der Einzelstaaten – nicht nur im tiefen Süden – Säuberungen der Wählerlisten durchführen, die Wahlregistrierung behindern, Früh- oder Briefwahl einschränken, die dazu beigetragen haben, dass die Wahlbeteiligung im November mitten in der Coronavirus-Krise historisch hoch war, die Zahl der Wahllokale in schwarzen Wohngebieten offensichtlich reduzieren und Wahlkreise rassistisch motiviert zuschneiden. Es ist eine sehr wichtige Frage, ob die Biden/Harris-Regierung um das Wahlrecht kämpfen und nicht nur darüber sprechen wird. (Darüber hinaus ist die größere verfassungsrechtliche Frage die der Beseitigung der „heiligen Institution“ des Wahlkollegiums, die das nationale Abstimmungsergebnis des Volkes [2] entwertet und böswilligen Unfug in hart umkämpften Einzelstaaten ermöglicht.)
Sturm auf das Capitol |
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Als vorsätzliche und potenziell mörderische Aktion eines Mobs ist der Angriff auf das Kapitol in der Tat sehr schwerwiegend und eine ernste Bedrohung durch einen sich möglicherweise entwickelnden Rechtsterrorismus. Niemand kann den Kontrast zwischen der brutalen Reaktion auf viele Proteste von Black Lives Matter gegen die Brutalität der Polizei und der Tatsache übersehen, dass anscheinend nur wenige Eindringlinge gestern im Gebäude festgenommen wurden. (Spätere Verhaftungen erfolgten wegen Verstößen gegen die Ausgangssperre nach den Ereignissen des Tages.)
Bei seiner Kundgebung am Mittwochmorgen wiederholte Trump Lügen über seinen gestohlenen „Erdrutschsieg“ und forderte die Menge auf, „zum Kapitol zu marschieren“, damit machte deutlich, er werde bei ihnen sein. Natürlich zog er sich dann in seinen mit Fernsehern gespickten Bunker im Weißen Haus zurück. Als er die Leute aufforderte, am 6. Januar nach Washington zu kommen, hatte er gesagt, der Tag werde „wild“ werden. Abgesehen davon, dass all dies Virus-Superspreader-Ereignisse waren, war es mit Sicherheit eine Anstiftung zur Zusammenrottung.
Aber ein „Aufstand“ im Sinne eines Versuchs der Machtübernahme? So etwas erfordert mehr als halb-spontane Angriffe auf Regierungsbüros. Von links erfordern Aufstände gegen repressive Regime Massenbewegungen, die Generalstreiks führen und Spaltungen im Militärapparat erzwingen können. Von rechts können Staatsstreiche Gewalt von Mobs als Hilfsmittel einsetzen, aber die eigentliche Aktion sind Panzer auf den Straßen, Razzien und Verhaftungen sowie organisierter Terror gegen Dissidenten. Nichts davon gab es gestern in Washington DC auch nur annäherungsweise, ganz zu schweigen vom Rest des Landes. Damit soll nicht unterschätzt werden, welche wirkliche Bedrohung von rechtsextremen weißen Rassisten und den Heerscharen von Trump-Wähler*innen ausgeht, die in einem realitätsfreien ideologischen Universum leben und glauben, ihre Wahl sei „gestohlen“ worden.
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Wenn der Ausgang der Novemberwahlen knapper gewesen wären, wenn die Schritte der Trump-Bande nach der Wahl kompetenter organisiert und koordiniert worden wären, wenn die juristischen Manöver nicht in den Händen des halbtoten Rudy Giuliani gelegen hätten, wenn einige Einzelstaats- und Bundesrichter*innen genauso korrupt gewesen wären wie Trump selbst – und wenn die Gouverneursposten in Michigan, Pennsylvania und Wisconsin nach 2018 in republikanischen Händen geblieben wären –, hätten die Vereinigten Staaten möglicherweise vor einer existenziellen Bedrohung der Verfassungsinstitutionen gestanden, die ihren Eliten mehr als zwei Jahrhunderte so gut gedient haben.
Der klapprige Zustand der US-Demokratie ist ebenso anfällig für Zerstörung von innen wie seine Regierungs- und Firmencomputersysteme für russische Hackerangriffe. Würde man das Szenario des „Grand Theft Election“ bis ins Extreme treiben, könnte das Land möglicherweise auseinanderbrechen, nicht jetzt, aber irgendwann in der Zukunft. Yes, it could happen here – ja, das könnte hier passieren.
Sturm auf das Capitol |
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Zu guter Letzt stimmten auch führende Kreise der herrschenden Unternehmerklasse ein: Twitter und Facebook sperrten Trumps Zugang zu den Anhängern seines Kults, der Unternehmerverband National Association of Manufacturers forderte seine Absetzung nach dem 25. Zusatz zur Verfassung, führende Vertreter*innen der Finanzbranche wie CEO David Solomon von Goldman Sachs, Jamie Dimon und andere, die sich dank Trumps Politik obszön bereichern konnten, wandten sich gegen ihn. Er ist für sie nicht mehr nützlich.
Eine erneute Kandidatur Trumps im Jahr 2024 könnte die Republikanische Partei endgültig zerstören. Das bedeutet nicht das Ende des sogenannten Trumpismus, auch wenn der jetzt ohne Trump auskommen muss.
In diesem Zusammenhang ist die am 3. Januar in Jacobin veröffentlichte Analyse von Samuel Farber „Trumpism Will Endure“ sehr zu empfehlen. [4] Farber trifft, obwohl er diesen Artikel bereits vor der gestrigen Selbstimplosion Trumps geschrieben hat, den kritischen Punkt: „Der vielleicht nützlichste Weg, den Trumpismus zu verstehen, ist, ihn als rechtsgerichtete Antwort auf die objektiven Bedingungen des wirtschaftlichen Verfalls und eines gefühlten moralischen Verfalls zu sehen.“
In diesem Zusammenhang geht es bei dem „gefühlten moralischen Verfall“ um rechtsgerichteten Ärger darüber, dass Ansehen und Privilegien, die zu viele weiße Männer als gegeben betrachtet haben, jetzt in Frage gestellt werden. Dies erfordert eine tiefere Diskussion als hier möglich, bringt jedoch eine Realität der US-Gesellschaft und insbesondere das zentrale Problem der sozialistischen Linken auf den Punkt: Ein großer Teil der Arbeiter*innenklasse, insbesondere die weißen Arbeiter, wurde für autoritäre, rechte rassistische Politik rekrutiert.
Es bleibt abzuwarten, ob ihre Loyalität vom Trump-Kult auf einen neuen Bannerträger überführt werden kann. Dies ist jedoch zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass der „Trumpismus“ der Arbeiterklasse ein Haupthindernis für Kämpfe um ernsthafte Reformen bleiben wird, die gewonnen und gefestigt werden können.
Um zu verstehen, warum und wie dies geschehen ist, müssen wir uns mit der zweiten Realität unserer Verhältnisse auseinandersetzen: der objektiven Unermesslichkeit der Krisen, die auf Biden und die nur knapp von den Demokraten kontrollierten Häuser des Kongresses warten. Die Covid-Katastrophe, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems und das Durcheinander bei der Impfstoffeinführung; -zig Millionen arbeitender und Mittelschicht-Familien, die von Räumung, dauerhafter Arbeitslosigkeit, Insolvenz, Überschuldung und explodierende Gesundheitskosten betroffen sind; einzelstaatliche und lokale Regierungen, denen das Wasser bis zum Hals steht. Und über allem der anhaltende Klimawandel und die Umweltkatastrophen, die durch vier Jahre Trump noch schlimmer geworden sind.
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Die Situation erfordert unbedingt große Maßnahmen: groß angelegte wirtschaftliche Anreize und Erleichterungen, eine Mobilisierung der Ressourcen des Gesundheitswesens und möglicherweise des Militärs zur Durchführung von Impfungen, ein Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger in „Warp-Geschwindigkeit“ [5], ein echter „Green New Deal“ und „Medicare for All“ [6] sowie die sofortige Schließung der obszönen, profitorientierten Abschiebeknäste für Einwanderer*innen und vieles mehr. Was kann man von den bejubelten „gemäßigten“ Kräften in beiden Parteien erwarten, wenn die Demokraten noch darüber nachdenken, wie sie die ihnen übertragene Macht nutzen, und diejenigen auf republikanischer Seite noch überlegen, ob sie kooperativ oder obstruktiv sein sollen?
Für die Linke und die sozialen Bewegungen ist es umso wichtiger, aktiv zu bleiben und für das zu kämpfen, was wir brauchen, nicht für ein paar Krümel. Trumps Selbstzerstörung zu feiern, ist sicherlich in Ordnung. Linke Blütenträume darf man von Biden aber mit Sicherheit nicht erwarten.
David Finkel schrieb diesen Text am 7. Januar 2021, einen Tag nach dem Sturm auf das Kapitol, für das National Comitee der US-amerikanischen Organisation „Solidarity“. |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz