Die USA nach den Wahlen vom 3. November 2020
Redaktionskollektiv von „Against the Current“ (USA)
Die Wahl ist gelaufen, abgesehen von einigen Nachzählungen, von Klagen, die sich als nichtig erweisen werden, und von zwei Stichwahlen für den Senat von Georgia. Der größte Teil Amerikas – und der Welt – feiert zu Recht das Ende der Trump-Pence-Präsidentschaft und das Schreckgespenst weiterer vier Jahre eines nationalen und internationalen Alptraums.
Dank der frühen massenhaften Briefwahlbeteiligung der Wähler*innen der Demokraten, insbesondere der beeindruckenden Mobilisierungen der afroamerikanischen und Teile der lateinamerikanischen Communities, ist das Ergebnis, obwohl knapper als erwartet, am Donnerstag, dem 5. November, erreicht worden.
Die (für US-Verhältnisse) außergewöhnliche Wahlbeteiligung von 71 Prozent – mit mehr als 74 Millionen Stimmen für Biden/Harris und 70 Millionen für Trump/Pence – könnte ein Vorbote für künftige Wahlen sein. Beiden kapitalistischen Parteien könnten wegen ihres Versagens, entscheidende Präsidentschafts- und Kongresssiege zu erringen, interne strategische Machtkämpfe bevorstehen.
Mit der Bekanntgabe von Joe Bidens Wahlsieg im „Electoral College“ am Samstag, dem 7. November, scheint der weithin gefürchtete Schachzug der „Grand Theft Election“, der Legende von der „geklauten Wahl“, die das Team Trump und rechtsgerichtete Landesparlamente verbreitet haben, nicht aufzugehen. Die katastrophale Schimpftirade des großen Trottels am Donnerstag im Fernsehen und die relativ kleinen, wenn auch bedrohlichen rechten Proteste unter dem Motto „stop the count“ (Stoppt die Auszählung) fanden bei dem größten Teil der Führung der Republicans keine Resonanz, und die Klagen der Kampagne sind vor Gerichten der Einzelstaaten verpufft.
In Michigan, wo die Republikaner über eine zurechtmanipulierte Mehrheit in der Legislative des Bundesstaates verfügen, leitet ein Aufsichtskomitee eine „Untersuchung“ der Stimmenauszählung im Bundesstaat ein. Unter bestimmten Umständen könnte dies eine chaotische Kettenreaktion auslösen, aber in der gegenwärtigen Situation scheint dies unwahrscheinlich zu sein. Nach jeder rationalen Berechnung wäre der Versuch, Trump im Amt zu halten – nach einer Wahl, die er landesweit mit mehr als vier Millionen Stimmen verloren hat – kaum das Risiko wert, die Legitimität des neuen Obersten Gerichtshofs mit rechtsgerichteter Mehrheit und der Kerninstitutionen der bürgerlichen US-Politik völlig zu erschüttern.
Was als nächstes kommen könnte, gibt wenig Anlass zur Euphorie. Zuallererst wird der sich verschlimmernde Coronavirus-Notstand uns täglich mehr als 100 000 Fälle in den USA bescheren und womöglich wird sich dieser Horror bis Anfang 2021 verdoppeln. So schrecklich und zynisch sein Leugnen und seine Superspreader-Possen auch waren – nicht einmal Donald Trump hat die ganze Sache allein so vollständig gegen die Wand fahren können. Amerikas öffentliche Gesundheitsinfrastruktur ist ein Chaos, das uns die letzten Jahrzehnte begleitet hat.
Selbst wenn die neue Regierung Biden-Harris das kompetenteste Pandemie-Reaktionsteam zusammenstellt, werden sie erst am kommenden 20. Januar ihr Amt antreten und mit einer wahrscheinlich außer Kontrolle geratenen Pandemie, tiefen strukturellen Mängeln und Ungerechtigkeiten im medizinischen Versorgungssystem der USA und dazu voraussichtlich mit einem Kongress konfrontiert sein, der an einem toten Punkt angekommen ist. Die rechtsgerichteten Republikaner, die das Weiße Haus verloren habe, aber die von vielen erwartete „blaue Welle“ der Demokraten abgewehrt haben, könnten sich damit begnügen, Biden den Chefposten während eines unbeherrschbaren Notstands des öffentlichen Gesundheitswesens und einer Wirtschaft zu überlassen, die sich in einer ähnlichen, wenn nicht noch schlimmeren Lage als heute befindet.
Die Krise würde sich nur noch verschlimmern, wenn die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs dem Gesetz, das bezahlbare Behandlungskosten durchsetzen soll (Affordable Care Act, ACA), ein Ende setzen würde; dieser Fall soll in Kürze vor dem Gerichtshof verhandelt werden. Damit könnten weitere Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten keinen Zugang zur Krankenversicherung erhalten. In diesem Fall hätte die Regierung Biden keine andere Wahl, als einen nationalen Gesundheitsnotstand auszurufen und die Bestimmungen dieses Gesetzes so lange beizubehalten, bis der Kongress einen praktikablen Ersatz beschließt. Das läge eindeutig in der Macht des Präsidenten, aber hätte Biden den politischen Mumm für solche Maßnahmen?
Es ist ziemlich sinnlos, darüber zu sprechen, was Biden und Harris tun könnten, um eine „progressive“ Agenda zu fördern (z. B. Medicare for All, umfassende Polizei- und Strafrechtsreformen oder einen Green New Deal), die sie eindeutig nicht unterstützen. Biden hat ausdrücklich damit geprahlt, dass er die Befürworter*innen dieser Programme geschlagen hat.
Während die Linke den Kampf für all dies und mehr mit allen Mitteln fortsetzen muss, ist die Realität, dass die neoliberale/Mitte-Führung der Demokratischen Partei und die großen Geldgeber*innen die Agenda bestimmen. Darüber hinaus bietet ihnen die gegenwärtige Zusammensetzung des Kongresses die Entschuldigung, alles zu verhindern, was auch nur im Entferntesten „radikal“ ist.
Um strukturell fortschrittliche Ziele zu erreichen, bedarf es eines Bruchs mit der Demokratischen Partei, für den die Green Party mit ihrem offen ökosozialistischen Programm gekämpft hat; aber bei dieser hyperpolarisierten Wahl ist sie im Wesentlichen überrollt worden. Für die Zukunft hoffen wir, dass Meinungsverschiedenheiten über die begrenzten taktischen Optionen der Linken bei dieser Wahl einer Einheit beim Vorantreiben eines solchen Projekts weichen können. (Ein interessanter Artikel mit dem Titel „The Green Socialist Opposition Begins Now“ ist online unter https://howiehawkins.us/.)
Eine andere Frage ist, inwieweit die neue demokratische Regierung ihre eigene versprochene Politik umsetzen wird – angefangen bei der Aufhebung von Hunderten von Trumps Regierungsverordnungen. Das „Muslin travel ban“. Die Quasi-Abschaffung des Flüchtlingsasyls. Ölbohrungen in unbezahlbaren natürlichen Wildreservaten und das massive Wegwischen von grundlegenden Umweltvorschriften. Sadistische Familientrennungen an der Grenze und Terrorüberfälle in Einwanderergemeinden. Willkürlicher Verzicht auf das unzulängliche Pariser Klimaabkommen und das internationale Atomabkommen mit dem Iran. Die Liste der Schandtaten, die rückgängig gemacht werden müssen, ist nahezu endlos.
Im Namen des grundlegenden Anstands sollte die Regierung Biden alle Sanktionen aufheben, die den einfachen Menschen im Iran und in Venezuela brutal schaden, ohne dass sie den Regimes dieser Länder in irgendeiner Weise etwas anhaben können. Die Beziehungen zu Kuba sollten wieder aufgenommen und alle Sanktionen aufgehoben werden. Die schändliche Beziehung der USA zu dem mörderischen „strategischen Verbündeten“ Saudi-Arabien, einschließlich des völkermörderischen Kriegs im Jemen, muss beendet werden. Und natürlich sollte das niederträchtige Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange wegen der Aufdeckung von US-Kriegsverbrechen unverzüglich eingestellt werden.
Auch wenn all dies grundlegende Notwendigkeiten sind, haben wir diesbezüglich geringe Erwartungen. Die wirkliche Komplexität der internationalen Politik, die imperialistische Konfrontation mit China und die wirtschaftliche Misere, mit der die neue Regierung konfrontiert sein wird, sind Gegenstand separater Diskussionen.
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Die Niederlage von Donald Trump kann zu Recht als ein Sieg des elementaren Anstands und der klaren Mehrheit des amerikanischen Volkes angesehen werden. Das bedeutet sehr viel, und wir unterschätzen nicht ihre Bedeutung. Die Linke kann jedoch die Rückkehr der neoliberalen Regierungsführung der Democrats kaum als ihren eigenen Sieg betrachten. Wir müssen in den Bewegungen im Kampf für „Black Lives Matter“, für die Erhaltung der Reproduktionsrechte gegen den reaktionären Angriff und für die Rettung der Zukunft der Zivilisation vor dem Zusammenbruch der Umwelt kämpfen.
Die begrüßenswerte Niederlage von Donald Trump ist ein Rückschlag für den weißen Nationalismus in diesem Land, aber weit entfernt von einer vernichtenden Niederlage. Vor allem muss die Linke ihren Platz beim Wiederaufbau einer US-amerikanischen Arbeiter*innenbewegung einnehmen, die diesen Namen verdient.
Dafür sind die wirkungsvollste Politik und die besten Organisationsformen nötig, die wir entwickeln können, dabei müssen wir uns sowohl auf die Erfahrungen der Vergangenheit als auch auf neue Erfahrungen beziehen. In diesem Geist setzt sich Against the Current weiter für einen revolutionär-sozialistischen Zusammenschluss, in dem es Platz für mehrere Tendenzen gibt, mit internationalen Verbindungen ein; die uns verbundene Organisation Solidarity setzt ihre Bemühungen fort, Teil der Lösung zu sein.
Dies wird umso wichtiger in einer Zeit, in der die US-Gesellschaft so tief rassistisch polarisiert ist, und mit ihr die Arbeiter*innenklasse. Der Niedergang der Arbeiter*innenbewegung in den letzten Jahrzehnten und die Aufgabe der Interessen der Arbeiterklasse durch die neoliberalen Democrats haben ein Vakuum hinterlassen, das durch weiße rassische Ressentiments gefüllt wird.
Ohne die Wiederbelebung der Arbeiter*innenbewegung und von Politik auf der Grundlage der tatsächlichen Interessen der Werktätigen werden die falschen Versprechungen, die von White Supremacy und reaktionärer Geburtenpolitik präsentiert werden, mit aller Macht zurückkehren. Die vergangenen vier Jahre Trump dürfen nicht als Alptraum, sondern als eine Warnung verstanden werden.
8. September 2020 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz