Geschichte

Die revolutionäre Aktualität von Rosa Luxemburg

Michael Löwy

Wenn man das charakteristische Merkmal von Rosa Luxemburgs Leben und Denken auswählen sollte, dann wäre vielleicht ihr revolutionärer Humanismus an erster Stelle zu nennen. Ob in ihrer Kritik des Kapitalismus als einem unmenschlichen System, in ihrem Kampf gegen Militarismus, Kolonialismus, Imperialismus oder in ihrer Vision einer emanzipierten Gesellschaft, ihrer Utopie einer Welt ohne Ausbeutung, ohne Entfremdung und ohne Grenzen – dieser sozialistische Humanismus zieht sich wie ein roter Faden durch alle ihre politischen Schriften, aber auch durch ihre Korrespondenz, ihre bewegenden Gefängnisbriefe, die immer wieder von aufeinanderfolgenden Generationen junger Aktivisten und Aktivistinnen der Arbeiterbewegung gelesen worden sind.

 

Rosa Luxemburg, 1907

Warum hat uns diese Frauengestalt – Jüdin und Polin, Marxistin und Revolutionärin, zärtlich und kompromisslos, die politisch Aktive und die Intellektuelle – nach wie vor etwas zu sagen? Wie kommt es, dass sie uns auch 80 Jahre nach ihrem Tod noch so nahe ist? Worin liegt die erstaunliche Aktualität ihres Denkens, gerade heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

Dafür sehe ich mindestens drei Gründe:

Erstens ist in einer Zeit der kapitalistischen Globalisierung, des weltweiten Neoliberalismus, der Vorherrschaft des großen Finanzkapitals auf dem gesamten Planeten, der Internationalisierung der Wirtschaft im Dienste des Profits, der Spekulation und der Akkumulation die Notwendigkeit einer internationalen Antwort, einer Globalisierung des Widerstands, kurz gesagt, eines neuen Internationalismus, mehr denn je das Gebot der Stunde. Nur wenige Persönlichkeiten in der Arbeiterbewegung haben auf so radikale Weise wie Rosa Luxemburg die internationalistische Idee, den kategorischen Imperativ der Einheit, der Vereinigung, der Zusammenarbeit, der Geschwisterlichkeit der Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder und aller Kontinente verkörpert. Bekanntlich war sie zusammen mit Karl Liebknecht eine der wenigen führenden Köpfe des deutschen Sozialismus, die sich 1914 gegen den Burgfrieden und die Zustimmung zu den Kriegskrediten aussprachen. Die deutschen kaiserlichen Behörden ließen sie – mit Unterstützung der sozialdemokratischen Rechten – für ihre internationalistische Opposition gegen den Krieg teuer bezahlen, indem sie sie während des größten Teils dieser Jahre hinter Gitter sperrten. In Anbetracht des dramatischen Scheiterns der Zweiten Internationale träumte sie von der Schaffung einer neuen Weltarbeiterassoziation und nur der Tod – d. h. ihre Ermordung im Januar 1919 durch die Freikorps, die von dem sozialdemokratischen Minister Noske zur Niederschlagung der Erhebung des Spartakusbundes nach Berlin geholt worden waren – hinderte sie daran, an der Gründung der Kommunistischen Internationale gemeinsam mit Lenin und Trotzki teilzunehmen.

Nur wenige haben wie sie die tödliche Gefahr verstanden, die Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Militarismus und kolonialer oder imperialer Expansionismus für die arbeitenden Menschen darstellen. Man kann diesen oder jenen Aspekt ihrer Überlegungen zur nationalen Frage kritisieren, aber die prophetische Kraft ihrer Warnungen lässt sich nicht in Zweifel ziehen. Ich verwende das Wort „prophetisch“ im ursprünglichen biblischen Sinn (wie Daniel Bensaïd ihn in seinen letzten Schriften so gut definiert hat): Ein Prophet ist nicht, wer vorgibt, er könne „die Zukunft voraussehen“, sondern derjenige, der eine bedingte Antizipation vornimmt, derjenige, der das Volk vor den Katastrophen warnt, die eintreten werden, wenn es nicht einen anderen Weg einschlägt.

Zweitens kommt man nach dem Ende eines Jahrhunderts, das nicht nur ein „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm), sondern der brutalsten Manifestationen der Barbarei in der Geschichte der Menschheit war, nicht umhin, revolutionäres Denken wie das von Rosa Luxemburg zu bewundern, die in der Lage war, die bequeme und konformistische Ideologie des linearen Fortschritts, den optimistischen Fatalismus und passiven Evolutionismus der Sozialdemokratie, die gefährliche Illusion zurückzuweisen, es genüge, „mit dem Strom zu schwimmen“ und die „objektiven Bedingungen“ schon machen zu lassen (davon spricht Walter Benjamin in seinen „Thesen“ aus dem Jahr 1940). Dadurch, dass sie in ihrer Broschüre über Die Krise der Sozialdemokratie von 1915 (die sie mit dem Pseudonym „Junius“ zeichnete) die Losung „Sozialismus oder Barbarei“ ausgab, brach Rosa Luxemburg mit der Vorstellung von der Geschichte als unwiderstehlichem, unvermeidlichem Fortschritt, der durch „objektive“ Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklung oder der gesellschaftlichen Evolution „garantiert“ wird, eine Vorstellung, die bürgerlichen Ursprungs, aber von der Zweiten Internationale übernommen wurde. Georgi Walentinowitsch Plechanow hat sie wunderbar zusammengefasst, als er Folgendes schrieb: „Der Sieg unseres Programms ist so unausweichlich wie der morgige Sonnenaufgang.“ Die politische Konsequenz dieser „progressiven“ Ideologie konnte nur Passivität sein: Niemand käme auf die alberne Idee, sich dafür zu schlagen, sein Leben zu riskieren, dafür dass die Sonne am nächsten Morgen auch wirklich aufgeht …

Gehen wir für einige Augenblicke auf die politische und „philosophische“ Bedeutung der Parole „Sozialismus oder Barbarei“ zurück. In bestimmten Texten von Marx oder Engels finden sich dafür Andeutungen, aber Rosa Luxemburg gibt ihr diese explizite und scharf umrissene Formulierung. Sie impliziert eine Wahrnehmung der Geschichte als einen offenen Prozess, als eine Reihe von „Wegscheiden“, an denen der „subjektive Faktor“ – Bewusstsein, Organisation, Initiative – der Unterdrückten entscheidend wird. Es geht nicht mehr darum, darauf zu warten, dass die Früchte gemäß den „Naturgesetzen“ der Ökonomie oder der Geschichte „reif“ geworden sind, sondern zu handeln, bevor es zu spät ist. Denn der andere Zweig der Alternative ist eine unheimliche Gefahr: die Barbarei. Rosa Luxemburg verwendet diesen Begriff nicht, um eine unmögliche „Regression“ in eine stammesgeschichtliche, primitive oder „wilde“ Vergangenheit zu beschreiben: Für sie ist es eine eminent moderne Barbarei, für die der Erste Weltkrieg ein eklatantes Beispiel war, in ihrer mörderischen Unmenschlichkeit weit schlimmer als die kriegerischen Praktiken der „barbarischen“ Eroberer am Ende des Imperium Romanum. Noch nie in der Vergangenheit wurden so moderne Technologien – Panzer, Giftgas, Militärflugzeuge – in einem solch immensen Ausmaß in den Dienst einer imperialistischen Politik des Massakers und der Aggression gestellt.

Michael Löwy ist 1938 in Brasilien geboren worden und dort aufgewachsen, seit 1969 lebt er vorwiegend in Paris. Von 1961 bis 1964 studierte er in Paris bei dem Philosophen und Literatursoziologen Lucien Goldmann (1913–1970), Doktorvater seiner Dissertation über die Theorie der Revolution beim jungen Marx. Er ist Sozialwissenschaftler, Ökosozialist, Mitglied zugleich von „Ensemble!“, der NPA und der brasilianischen Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt ein Band mit gesammelten Essays: Rosa Luxemburg – Der zündende Funke der Revolution (Hamburg: VSA, 2020).

Auf dem Online-Symposium der Rosa Luxemburg Stiftung „Rosa Luxemburg150 – Eine Ermutigung in Zeiten der Pandemie und anderer Katastrophen“ hat Michael Löwy einen Eröffnungsvortrag mit dem Titel „Either/or: Rosa Luxemburg’s Radical Commitment to Socialist Internationalism“ gehalten.

Dazu sein Essay „Why Socialism Must Be Internationalist … and what Rosa Luxemburg can teach us about it“

 

Auch aus der Sicht der Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sich Rosa Luxemburgs Motto als prophetisch erwiesen: Die Niederlage des Sozialismus in Deutschland ebnete den Weg für den Sieg des Hitlerfaschismus und in der Folge für den Zweiten Weltkrieg und für die monströsesten Formen der modernen Barbarei, die die Menschheit je gekannt hat und für die der Name „Auschwitz“ zum Symbol geworden ist.

Es ist kein Zufall, dass der Ausdruck „Sozialismus oder Barbarei“ einer der kreativsten Gruppen der marxistischen Linken der Nachkriegszeit in Frankreich als Fahne und Erkennungszeichen gedient hat: die Gruppe um die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, die Cornelius Castoriadis und Claude Lefort in den 1950er und 1960er Jahren herausgegeben haben.

Die Alternative, die mit Rosa Luxemburgs Motto aufgezeigt wird, und ihre Warnung stehen auch heute auf der Tagesordnung der Stunde. Die lange Periode, in der die revolutionären Kräfte rückläufig waren (und aus der wir allmählich herauszukommen beginnen), war von zahlreichen Kriegen und Massakern zwecks „ethnischer Säuberung“ –, vom Balkan bis Afrika –, dem Aufstieg von Rassismus, Chauvinismus und Fundamentalismus aller Art begleitet, auch im Herzen des „zivilisierten“ Europas.

Aber es kommt eine neue Gefahr auf, die Rosa Luxemburg nicht vorausgesehen hatte. Ernest Mandel hat in seinen letzten Schriften betont, dass die Alternative im 21. Jahrhunderts für die Menschheit nicht mehr „Sozialismus oder Barbarei“ lautet wie 1915, sondern „Sozialismus oder Tod“. Damit meinte er die Gefahr einer ökologischen Katastrophe, die aus der globalen kapitalistischen Expansion mit ihrer umweltzerstörerischen Logik resultiert. Wenn der Sozialismus diesen schwindelerregenden Wettlauf in den Abgrund – der Anstieg der Temperatur des Planeten, Artensterben oder Plastikmüllteppiche in den Ozeanen sind die sichtbarsten Zeichen dafür – nicht unterbricht, ist das Überleben der menschlichen Spezies bedroht.

Drittens: Angesichts des historischen Scheiterns der dominierenden Strömungen der Arbeiterbewegung, d. h. einerseits des unrühmlichen Zusammenbruchs des vorgeblich „realen Sozialismus“ – dem Erbe von sechzig Jahren Stalinismus – und andererseits der passiven Unterwerfung (wenn nicht aktiven Zustimmung) der Sozialdemokratie unter die neoliberalen Spielregeln des kapitalistischen Geschehens weltweit erscheint die Alternative, für die Rosa Luxemburg steht, relevanter denn je, d. h. ein Sozialismus, der sowohl genuin revolutionär als auch radikal demokratisch ist.

Sie war in der Arbeiterbewegung des zaristischen Reichs aktiv – sie hatte die Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polens und Litauens (SDKPiL) mitgegründet, die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) angeschlossen war – und kritisierte die ihrer Meinung nach zu autoritären und zentralistischen Tendenzen der Thesen, die Lenin vor 1905 vertrat. Ihre Kritik deckte sich in diesem Punkt mit der des jungen Trotzki in Unsere politischen Aufgaben (1904).

Zugleich kämpfte sie als führende Sprecherin des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie gegen die Tendenz der Gewerkschafts- und Parteibürokratie oder der Parlamentsfraktionen, die politischen Entscheidungen sich selber vorzubehalten. Der russische Generalstreik von 1905 schien ihr ein Beispiel auch für Deutschland zu sein: Sie vertraute mehr der Initiative der Arbeiterbasis als den weisen Entscheidungen der Leitungsgremien der deutschen Arbeiterbewegung.

Als sie im Gefängnis von den Ereignissen des Oktober 1917 erfuhr, solidarisierte sie sich sofort mit den russischen Revolutionären. In einer Broschüre über die russische Revolution, die sie 1918 im Gefängnis verfasste und die erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde (1922), begrüßte sie diesen großen historischen emanzipatorischen Akt begeistert, und würdigte sie die führenden Köpfe der Oktoberrevolution herzlich:

Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.

      
Weitere Artikel zum Thema
Manfred Behrend: Leo Trotzki und Rosa Luxemburg 1905, Inprekorr Nr. 402/403 (Mai/Juni 2005)
Jakob Moneta: "Sie war und bleibt ein Adler", Inprekorr Nr. 279 (Januar 1995)
Ernest Mandel: Rosa Luxemburg und die deutsche Sozialdemokratie, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994)
 

Die Solidarität hinderte sie nicht daran, an dem Kritik zu üben, was sie an ihrer Politik der Bolschewiki für falsch oder gefährlich hielt. Während einige ihrer Kritikpunkte – zur nationalen Selbstbestimmung oder zur Landverteilung – ausgesprochen diskutabel und eher unrealistisch sind, sind andere, die die Frage der Demokratie berühren, durchaus relevant und bemerkenswert aktuell. Rosa Luxemburg stellte fest, dass die Bolschewiki unter den dramatischen Umständen des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention nicht „die schönste Demokratie hervorzaubern“ konnten, dennoch machte sie auf die Gefahr einer gewissen autoritären Verschiebung aufmerksam und bekräftigte einige Grundprinzipien der revolutionären Demokratie:

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. (…) Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.

Es ist kaum möglich, die prophetische Bedeutung dieser Warnung nicht zu erkennen. Wenige Jahre später ergriff die Bürokratie die totale Macht, sie schob die Revolutionäre vom Oktober 1917 nach und nach beiseite, bevor sie im Laufe der 1930er Jahren erbarmungslos vernichtet wurden.

Eine wirkliche Neugründung des Kommunismus im 21. Jahrhundert wird nicht ohne Rosa Luxemburgs revolutionäre, marxistische, demokratische, sozialistische und libertäre Botschaft auskommen können.

Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Wilfried



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz