Ökosozialismus

„Zu spät, um pessimistisch zu sein!“

Interview mit Daniel Tanuro zu seinem neuen Buch „Trop tard pour être pessimistes! Ecosocialisme ou effondrement“ (Zu spät, um pessimistisch zu sein! Ökosozialismus oder Zusammenbruch), das 2020 bei Textuel erschienen ist, von Mats Lucia Bayer. Das Interview wurde in Zusammenarbeit mit der Antikapitalistischen Linken Belgien und dem CADTM (Komitee zur Streichung der Schulden der Dritten Welt) entwickelt.

Interview mit Daniel Tanuro

 Im Jahr 2010 hast du „L’impossible capitalisme vert“ (deutsch: „Klimakrise und Kapitalismus“ bei ISP) herausgebracht. Was hat Dich dazu gebracht, zehn Jahre später „Trop tard pour être pessimistes“ zu veröffentlichen?

Daniel Tanuro: Mehrere Elemente. Zunächst wollte ich betonen, dass die in „Klimakrise und Kapitalismus“ abgegebene Diagnose richtig war: Es gibt einen unversöhnlichen Antagonismus zwischen der Akkumulationsdynamik, wie sie dem kapitalistischen System eigen ist, und den ökologischen Grenzen des Planeten Erde. In der Klimafrage springt dieser Gegensatz ins Auge: Einerseits gibt es einen steilen Anstieg der erneuerbaren Energien und der Weltklimarat (IPCC) schätzt, dass sie das technische Potenzial hätten, die Bedürfnisse der Menschen fast zwanzig Mal zu stillen; auf der anderen Seite ist die CO2-Konzentration in der Atmosphäre (gegenwärtig 415 ppm) seit drei Millionen Jahren ohne Beispiel. Die Regierungen verschieben permanent die nötigen Maßnahmen, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Die Rettung des Klimas ist ohne eine radikale Reduzierung des Verbrauchs an Endenergie, also der Produktion und des Transports, unmöglich. Und solches ist mit dem kapitalistischen Produktivismus unvereinbar.

Daniel Tanuro

Foto: Gauche Anticapitaliste

Zweitens wollte ich die wissenschaftlichen Daten auf der Grundlage des Sonderberichts des IPCC (Weltklimarat) hinsichtlich des 1,5-Grad-Zieles aktualisieren. In meinen Augen ist dieses Update wichtig, denn es ist mir ein Anliegen, die notwendigen Kenntnisse auch an nicht überzeugte Menschen weiterzugeben, insbesondere in der Welt der Arbeit. Aus diesem Grund beginnt „Trop tard pour être pessimistes“ – wie übrigens auch „Klimakrise und Kapitalismus“ – mit einer kurzen Bestandsaufnahme der ablaufenden Katastrophe und ihrer ökologischen und sozialen Konsequenzen.

Drittens wurde mir bisweilen vorgeworfen, mein Buch „Klimakrise und Kapitalismus“ vor allem auf die klimatischen Herausforderungen konzentriert zu haben. „Trop tard pour être pessimistes“ erweitert die Untersuchung auf die ökologische Krise insgesamt, mit einem besonderen Augenmerk auf die Vernichtung von Lebewesen. Dies ermöglicht es mir, die hinter der kapitalistischen Politik steckenden Kraftlinien aufzudecken, etwa die starke Ähnlichkeit zwischen dem Betrug mit der „CO2-Kompensation“ und dem des angeblichen Ausgleichs der Biodiversität.

Viertens verglich „Klimakrise und Kapitalismus“ die sozialdemokratischen und grünen Illusionen einerseits und zeigte andererseits die Grenzen und Problematiken von „Degrowth“ auf. „Trop tard pour être pessimistes“ geht viel weiter. Das Buch lässt verschiedene Konzeptionen der politischen Ökologie (den grünen Liberalismus, die Zusammenbruchstheorien, die Anhänger*innen von Jacques Ellul und diejenigen eines „stationären Kapitalismus“) Revue passieren und hebt hervor, was sie verbindet: Das Unverständnis des Mechanismus der Kapitalakkumulation, wie ihn Karl Marx analysiert hat.

Fünftens geht „Trop tard pour être pessimistes“ auch in strategischer Hinsicht viel weiter. Ein Fünftel der Arbeit widmet sich dem ökosozialistischen Projekt, dem Plan zum Übergang und den Strategien, die Kämpfe zusammenzuführen. Und in diesem Rahmen widme ich ein besonderes Augenmerk der Schlüsselfrage: Wie kann es gelingen, dass die Arbeiterklasse und ihre Organisationen dazu gebracht werden, aus dem produktivistischen Kompromiss mit dem Kapital auszubrechen?

 Das Vorwort von „Trop tard pour être pessimistes“, das im April 2020 erschien, behandelt den Prozess der Herausbildung der Covid-19-Pandemie. Du sagst darin, dass das Virus die tiefgreifenden Verwerfungen bestätigt, die der Kapitalismus in die Biodiversität gebracht hat, wodurch „Zoonosen“ erleichtert werden. Im Übrigen können wir feststellen, wie die Pandemie die meisten Gesellschaften in eine Krise des Gesundheitswesens und des Sozialen gestürzt hat. Handelt es sich bei dieser Pandemie nur um eine „Niederlage“ der Bevölkerung oder bietet sie auch Möglichkeiten für die sozialen Bewegungen?

„Trop tard pour être pessimistes“ wurde Ende 2019 geschrieben, aber der französische Verleger hat mir die Möglichkeit eingeräumt, ein Vorwort zur Pandemie zu schreiben. Dieses wurde in die italienische, nicht aber in die spanische Ausgabe aufgenommen, die bereits Anfang März 2020 erschien. Das ist schade, denn die Covid-19-Pandemie gehört dem deutlichen Trend zu zunehmenden Zoonosen an. (Laut WHO stammen drei Viertel der neuen, unter Menschen wütenden Krankheitserreger aus dem Tierreich.) Diese Tendenz ist untrennbar mit den Angriffen auf die Ökosysteme verbunden, wie sie vor allem durch den Nexus Entwaldung, Agrobusiness und industrielle Tierzucht gegeben sind. Die IPBES (zwischenstaatliche Plattform für Biodiversität und ökosysstemische Dienstleistungen – eine eine Art Weltbiodiversitätsrat) hat einen Sonderbericht veröffentlicht, der diesen Zusammenhang bestätigt und zum Schluss kommt, dass es weitere Zoonosen geben wird. Laut diesem Bericht sind wir sogar in ein „Zeitalter der Zoonosen“ eingetreten. Das Risiko einer Epidemie wird somit zu den vier ökologischen Großrisiken – dem Klimawandel, dem Rückgang der biologischen Vielfalt, der Störung des Stickstoffkreislaufes und der Zerstörung der Böden hinzutreten.

Bevor ich auf die Frage der Möglichkeiten (und Gefahren) eingehe, muss ich die Tatsache betonen, dass es sich bei der Corona-Krise um ein historisches Ereignis handelt. Zwar zeigte die Weltwirtschaft seit einigen Monaten Zeichen einer Erschöpfung, doch SARS-CoV2 ist weit mehr als ein Auslöser für die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche; es handelt sich um ein autonomes, von außen kommendes und sehr mächtiges Agens. Ob man will oder nicht – die staatlichen Konjunkturprogramme stehen unter der Fuchtel des Virus. Anders gesagt, haben die vom Kapitalismus verursachten ökologischen Zerstörungen einen Bumerang-Effekt erzeugt, der nun auf das System zurückfällt. Dies ist nichts völlig Neues: Wir haben bereits lokale Bumerang-Effekte erlebt. Zum Beispiel die ausgedehnten Winderosionen in den Ebenen im Süden der USA während des „Dust Bowl“ in den zwanziger und dreißiger Jahren, die der Entscheidung geschuldet waren, auch empfindliche Böden zu kultivieren, die für die Getreideerzeugung ungeeignet waren. Doch zum ersten Mal zeigt sich ein solches Phänomen mit solcher Gewalt auf Weltebene. Wahrscheinlich werden es Impfstoffe ermöglichen, einen Ausweg zu finden, doch es ist keineswegs sicher, ob wir gegen alle zukünftigen Viren auch Impfstoffe haben werden (gegen AIDS gibt es bis heute keinen Impfstoff!). Und gegen den Klimawandel hilft Impfen keinesfalls.

Diese exogene Dimension der Krise schafft neue Möglichkeiten für soziale Bewegungen. Um sie vollständig zu erfassen, müssen wir meiner Meinung nach über die klassische Frage „Wer soll das bezahlen?“ hinausgehen. Die Wirkung des Virus erhellt die Tatsache, dass es keine nebeneinander bestehenden Krisen – ökologische, gesundheitliche, wirtschaftliche, soziale, der Nahrungsmittel usw. gibt, sondern eine globale Krise, eine Krise des Systems, die auf die kapitalistische Produktionsweise der (materiellen) Existenz zurückzuführen ist. Durch die Pandemie hindurch zeigt sich, dass das Kapital keine Sache, sondern eine ausbeuterische Gesellschaftsbeziehung ist und dass diese Beziehung, wie Marx sagte, „die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (die Arbeiterin auch). (MEW 23, 530) Die Gegenwehr muss daher verschiedene Forderungen bündeln; wir können uns nicht auf den Bereich der Verteilung des Reichtums beschränken, sondern brauchen einen Gesamtplan für eine kohärente Alternative.

Angesichts der Pandemie waren alle Regierungen, sogar jene, die sich am meisten sträubten (bislang mit Ausnahme der brasilianischen Regierung), gezwungen, eine Gesundheitspolitik umzusetzen, die auf die Bevölkerung „Acht gibt“. Natürlich ist diese Leitlinie heuchlerisch: In diesem Diskurs ist eine klassenmäßige – neoliberale, hygienistische, autoritäre, rassistische und machistische – Gesundheitspolitik verborgen, die darauf aus ist, unbedingt den Bereich der Werteproduktion aufrecht zu erhalten. Aber der Kontrast zwischen dem Schock der Pandemie und der realen Gesundheitspolitik schafft für die sozialen Bewegungen ein „Gelegenheitsfenster“. Sie haben die Möglichkeit, das „Acht geben“ gegen die Austerität, die Ungleichheiten, die Privatisierungen, die rassistische Repression, die Prekarisierung der Arbeit, die Gewalt gegen Frauen, die Abweisung von Migrant*innen, den Extraktivismus und die Abholzung, die Fleischindustrie usw. zu wenden. Das ist deshalb möglich, weil das „Acht geben“ eine Haltung erfordert, die sich nicht in Scheiben schneiden lässt und konkret umgesetzt werden muss. Wir brauchen einen gegen den Produktivismus gerichteten Plan, um die Menschen und die Natur, der sie angehören, zu schützen.

Meiner Meinung nach sprechen der systemische Ursprung der Zoonose und die systemischen Gründe ihrer Verbreitung (die Globalisierung und Geschwindigkeit des Warenverkehrs, die Konzentration der armen Menschen und ihre rassistische Abwertung usw.) dafür, das „Acht geben“ (die Rücksichtnahme) als neues Paradigma des gesellschaftlichen Lebens und der Beziehungen der Gesellschaften zur Natur herzunehmen. In marxistischen Begriffen geht es darum, die entscheidende Bedeutung der gesellschaftlichen Reproduktion zu betonen, die von möglichst vielen Menschen verstanden werden muss. Selbstverständlich verlangt diese Zentralität nach finanziellen Mitteln, aber nicht nur: Sie verlangt auch nach qualitativen Maßnahmen und nach einer Ethik. In diesem Sinne kann das „Acht geben“ dabei helfen, die Kämpfe zusammenzuführen. Das ist ein Hebel, den Antonio Gramsci als Kampf um die Hegemonie auf Massenebene bezeichnet hat. Angesichts der tiefen und fortwährenden ideologischen Verwirrung scheint es mir nützlich zu sein, unsere Reflexion in diesem Sinne zu vertiefen. Denn der exogene Charakter der beispiellosen Krise eröffnet nicht nur auf der Linken neue Möglichkeiten. Er hat auch auf spektakuläre Weise den Aufstieg eines Neofaschismus beschleunigt, der antikapitalistische Demagogie mit dem Sozialdarwinismus und einer ultraliberalen Konzeption von „Freiheit“ verbindet, einer Freiheit für die Besitzenden – oder für diejenigen, die sich dazurechnen – in alle Ewigkeit durch Ausbeutung, Zerstörung, Beherrschung und Ausschluss zu akkumulieren. Zu fordern, die Reichen sollen die Krise bezahlen, genügt nicht, um gegen diese Bedrohung einen Damm zu errichten.

 Hinsichtlich der Antworten auf die Krise müssen wir im Allgemeinen feststellen, dass die liberale Ökologie nunmehr zum ideologischen Arsenal zahlreicher Regierungen und Institutionen gehört. Dennoch sehen nur wenige politisch Verantwortliche die Verbindung zwischen der Pandemie und der ökologischen Krise. Im Übrigen könnten die Ankündigungen von Schutzimpfungen im ersten Halbjahr 2021 zum Glauben führen, bei der Pandemie handle es sich um ein vorrübergehendes Unglück. Welches sind deiner Meinung nach die Gründe?

Tatsächlich gibt es ein gigantisches Paradox: Während hinsichtlich der Verbindung zwischen der Vervielfachung der Zoonosen und der ökologischen Krise in der „scientific community“ weitgehend Einigkeit besteht, stellen sich die Gesundheitspolitiken den daraus resultierenden Konsequenzen überhaupt nicht. Natürlich muss die Gesundheitspolitik schnell handeln. Doch es springt ins Auge, dass die Thinktanks des Kapitalismus, die behaupten, sich mit den langfristigen Auswirkungen der Pandemie zu beschäftigen, in diesem Punkt stumm bleiben. Es kommt ihnen nicht die Idee in den Kopf, den Nexus Fleischindustrie – Abholzung – gentechnisch verändertes Soja in Frage zu stellen. Doch dieser Nexus ist verantwortlich für zunehmende Pandemierisiken und stellt den Gipfel an ökologischer Nicht-Nachhaltigkeit dar. Einige hundert Millionen Hektar werden heute zur Produktion von Gen-Soja (ca. 70 %) eingesetzt, um Vieh zu füttern (das wiederum Methan ausstößt). Beim gegenwärtigen Entwicklungstempo würden 2050 jährlich 120 Milliarden Tiere geschlachtet werden (50-mal mehr als 1960) – und eine solche Zahl benötigte zwei Erden. Die Nicht-Einsicht in diese Realität fällt nicht vom Himmel. Sie ergibt sich aus dem Streben des Kapitals nach raschem Profit. Hinzu kommt, wie die französische Zeitschrift Les Echos kürzlich mittels eines Zitates von Xenophon festgestellt hat, das von schlagender Aktualität ist: „Der Ackerbau ist die Mutter aller Künste: Wenn er gut ausgeführt wird, prosperieren auch die anderen Künste; wenn er aber vernachlässigt wird, machen alle anderen Künste einen Niedergang durch.“ (Les Echos, 25.11.2020) Die „schlecht geführte“ kapitalistische Landwirtschaft beruht – historisch betrachtet – auf den englischen „Enclosures“, also der Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung, die gewaltsam von ihrem Grund und Boden verjagt wurde. Marx nannte dieses Ereignis den „großen Bruch“ in der Mensch-Natur-Beziehung. Die aus diesem „großen Bruch“ hervorgegangene Landwirtschaft anzugreifen, bedeutet, die historischen Grundlagen des ganzen Gebäudes zu sprengen. Aber ja, die Impfungen werden den „aficionad@s“ des Systems neue Sicherheit verschaffen, zu sagen, die Pandemie sei eben nur ein Betriebsunfall gewesen. Doch ihre Erleichterung wird womöglich von kurzer Dauer sein. Andere Pandemien werden kommen. Und andere, noch schwerere Katastrophen werden sich geräuschlos aufbauen.

 Die Wahlen in den USA haben zu einem Sieg von Joe Biden geführt. Biden hat angekündigt, eine Politik zu machen, die sich dem Klimawandel stellt, was es ihm ermöglicht hat, mit dem Klimaleugner Trump in Gegensatz zu treten. Viele fortschrittliche Bewegungen und Organisationen haben sich angesichts der Niederlage von Trump erleichtert gezeigt. Es scheint jedoch, dass sich viele von ihnen auf eine heftige Opposition zu Biden einstellen. In deinem vorletzten Buch, „Le moment Trump. Une nouvelle phase dans le capitalisme mondial“ hast du das Phänomen als einen grundlegenden Bruch im historischen Konsens der US-amerikanischen politischen Klasse analysiert. Bedeutet Trumps Niederlage das Ende des politischen Paradigmas vom Bestreiten der Klimaerwärmung?

Ich glaube, dass wir hinsichtlich des Klimas eine rasche Annäherung zwischen den USA, der Europäischen Union und der VR China erleben werden. Bidens Programm, der „Green New Deal“ der Europäischen Kommission und die Pekinger Erklärungen sind sich in einem Punkt einig: Null Netto-CO2-Emissionen bis 2050. China strebt bis 2060 sogar „Null Kohlenstoff“ incl. Methan an. Gleichzeitig integriert der „Energy Outlook-Bericht“ der Internationalen Energieagentur erstmalig das Szenario der Kohlenstoffneutralität für das Jahr 2050. Diese Entwicklungen wurden durch die Gesundheitskrise begünstigt. Zunächst schon deswegen, weil ohne sie Trump wohl wiedergewählt worden wäre. Aber auch, weil die Krise der Kohle- (und Erdöl)-Industrie einen schweren Schlag versetzt hat, während sich die Erneuerbaren im Aufwind befinden. Daher hat die herrschende Klasse – parallel zur Rückverlagerung von lebenswichtigen Produktionen – die Vorteile eines angepassteren Stromsystems erkannt, weil dieses weniger stark um die großen Produktionseinheiten herum konzentriert wäre. Diese Diskussion nimmt Fahrt auf, weil bei der Konkurrenzfähigkeit der Erneuerbaren eine Schwelle überschritten wurde: Laut IEA ist die Sonnenenergie inzwischen „die billigste Energieform der Geschichte“ (Energy Outlook 2020). Selbst wenn die Staaten ihre Klimaziele nicht nachbessern, werden laut IEA bis 2030 80% der Investitionen im Energiebereich in die Sonnenenergie fließen. Daher glaube ich, dass die COP 26 tatsächlich zu einer „Erhöhung der Zielsetzungen“ führen wird.

Man kann sich nur darüber freuen, dass der führende Klimaleugner Donald Trump das Weiße Haus verlassen muss. Dennoch hat der Klima-Negationismus damit nicht sein letztes Wort gesprochen, vor allem nicht in den USA. So hat Exxon – im Gegensatz zu Shell oder BP – entschieden, ausschließlich an der Ausbeutung von Erdöl festzuhalten. Insbesondere sollte man sich keinen Illusionen im Hinblick auf die Klima-Konvergenz USA-EU-China hingeben. Erstens werden es die Ziele der drei Mächte für die Emissions-Reduzierungen bis 2030 nicht ermöglichen, unter dem 1,5 Grad-Ziel zu bleiben: Die EU hat gerade wegen der Dringlichkeit und den „unterschiedlichen Verantwortlichkeiten“ ein Ziel von über 65% beschlossen; in China nehmen die CO2-Emissionen jährlich um zwei Prozent zu, 70% des Stroms kommen aus Kohlekraftwerken und die Regierung scheint die radikale Reduzierung der Emissionen auf die Zeit nach 2030 verschieben zu wollen (man spricht von 8% jährlich); Biden orientiert sich an einer Reduzierung der Netto-Emissionen zwischen 38% und 54% im Vergleich zu 2005. Zur Erinnerung: Laut IPCC muss die Reduzierung bis 2030 weltweit 58% betragen, um eine 50-prozentige Chance zu haben, das 1,5-Grad-Ziel nicht zu verfehlen; für die entwickelten Länder bedeutet dies mindestens 65%.

Zweitens ist der Begriff „Null Netto-Emissionen“ sehr elastisch. Abgesehen davon, dass die Emissionen der weltweiten Transporte nicht eingerechnet werden, sind die Lösungen zur Erreichung der „Kohlenstoffneutralität“, die mit dem kapitalistischen Produktivismus vereinbar sind, die „Kohlenstoffkompensation“ durch das Pflanzen von Unmengen an Bäumen, die „Technologien für negative Emissionen“ und die Atomenergie (vor allem die Kleinkraftwerke). Es gäbe viel zu sagen über die „Lösungen“ des grünen Kapitalismus. Ich lasse die Atomkraft einmal beiseite, weil ihre Gefahren bekannt sind. Natürlich kann man Bäume pflanzen, doch das geht nicht endlos, und binnen einiger Jahrzehnte das organische CO2, das in grünen Pflanzen steckt, zu mehren, kann den enormen Rückgang von mineralischem CO2, das seit Jahrmillionen in geologischen Schichten steckt, nicht ausgleichen. Außerdem sind auf politischer Ebene die Mechanismen der CO2-Kompensation typisch neokolonial, denn sie bedeuten vor allem, dass die armen Länder dazu hergenommen werden, als CO2-Abfalleimer für die entwickelten zu dienen. Was nun die „Technologien für negative Emissionen“ angeht, so handelt es sich vor allem um CO2-Verpressung in tiefere Erdschichten, von denen niemand weiß, wie dicht sie sind. Sie könnten vielleicht zur Erleichterung des Umstiegs aus der Kohle eingesetzt werden, um die Bergarbeiter*innen nicht in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Aber aus ihnen eine strukturelle Lösung zu machen, um noch weiterhin fossile Energien über Jahrzehnte verbrennen zu können, läuft auf kompletten Wahnsinn hinaus. Je tiefer man in diese Fragestellung eindringt, umso mehr stößt man auf den Antagonismus zwischen dem kapitalistischen Produktivismus und den Grenzen der Natur. Ein Beispiel ist die Abscheidung mit Mineralisierung von CO2. Diese Technologie soll eine sehr stabile Abscheidung garantieren, denn der Kohlenstoff wird in Fels (als Karbonate) verwandelt. Doch Bergbaukonzerne wie de Beers stürzen sich darauf, um CO2 bei ihren Bergbauabfällen mineralisieren zu können, um damit ihr Image grün zu waschen und ihre Zerstörungen fortzusetzen – und damit noch Verschmutzungsrechte zu verkaufen. Es bräuchte 100 Gt (Gigatonnnen) mineralische Abfälle (5 mal 50 km3, eine Schicht von 30 bis 300 m, ausgedehnt auf 180 km2), um eine Gt CO2 zu mineralisieren (also ein Vierzigstel der Jahresemissionen). Selbst vernünftige Lösungen werden vom Kapitalismus in Wahnsinn verwandelt.

Drittens wird die Konvergenz in Klimafragen zwischen den USA, der EU und China natürlich kein Ende der innerimperialistischen Rivalitäten bedeuten; sie stellt eine Art Konvergenz zwischen Räubern im Hinblick auf den globalen Süden dar. Deren Länder müssen eine CO2-Steuer bezahlen, um Zugang zu den Märkten der drei Großen zu bekommen. Dieser Mechanismus stellt eine neue Etappe bei der Abschaffung des Prinzips der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten dar, das der globale Süden in das Rahmenabkommen der UNO über den Klimawandel (UNFCCC) hatte aufnehmen lassen. Biden hat sich deutlich zu diesen imperialistischen Aspekten geäußert. Er möchte aus der Handelspolitik einen Hebel zur Unterstützung des US-amerikanischen Großkapitals im Kampf um den Markt für „saubere Technologien“ machen, einen Unterstützungsfonds für den Export solcher Technologien einrichten, die Schuldenerleichterungen für die Länder des globalen Südens an entsprechende Bedingungen und die Washingtoner Klimapolitik knüpfen usw.

 Stellt die Konvergenz USA-EU-China hinsichtlich einer anspruchsvolleren Klimapolitik nicht das kleinere Übel im Vergleich zu Trump und dem, was wir bisher gesehen haben, dar?

Natürlich ist die Katastrophe das geringere Übel im Vergleich zum Zusammenbruch, aber wir befinden uns bereits in der Katastrophe und die Politik der drei großen Wirtschaftsblöcke führt auch geradewegs in den Zusammenbruch. Die Regierungen versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen, indem sie sagen, sie hätten nun die Größe der Gefahr erkannt, doch ihr Szenario läuft auf eine zeitweilige Überschreitung des 1,5-Grad-Zieles hinaus. Aber zu glauben, dass das Pflanzen von Bäumen und die negativen Emissionstechnologien den Planeten in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder abkühlen lassen würden, führt zum realen Risiko, dass das „zeitweilige Überschreiten“ zu einem definitiven Bruch führen könnte, den die Wissenschaftler „Backofenplanet“ nennen. Der IPCC glaubt, dass der grönländische Eisschild bei einer Erwärmung zwischen 1,5 und 2 Grad schmelzen wird, und zwei riesige Eisberge der Antarktis sind bereits dabei, zu zerbrechen. Das Überschreiten des Schmelzpunktes des Grönlandeises könnte auf der Erde zu Kettenreaktionen führen, was dann zu einem Klima wie im Pliozän, also vor 3 Millionen Jahren führen würde. Damals war der Wasserspiegel der Ozeane ungefähr 30 Meter höher als heute. Der kriminelle Produktivismus des Kapitalismus hat uns so nahe an den Abgrund geführt, dass es nicht allzu viel braucht, um den Weg alles Irdischen zu gehen. Denn wenn ein Kipppunkt wie in Grönland erreicht wird, dann ist es völlig illusorisch zu glauben, dass die Bewegung mittels neuer Technologien für negative Emissionen aufgehalten werden könnte. Lasst mich Folgendes sagen: Es besteht die große Gefahr, dass sich die Klimabewegung vom Eindruck einschläfern lässt, bei Joe Biden, Xi Jiping oder Ursula von der Leyen handle es sich um Partner, ja sogar Verbündete, mit denen es insgesamt möglich würde, der Klimakrise Paroli zu bieten oder zumindest ein Stück Wegs zusammen zu gehen. Das stimmt nicht. Diese Leute dienen dem Produktivismus, der sich nun auf die Erneuerbaren stürzt, wie er sich früher auf die fossilen Energieträger gestürzt hat, auf die man im Übrigen nicht verzichtet, um eben auf dem Rücken der Völker und der Natur Profit anzuhäufen.

 Du kritisierst bestimmte ideologische Annahmen der Wissenschaft, vor allem im Bericht des IPCC und des IPBES. Kannst du das näher ausführen?

Dieser Punkt muss mit aller Vorsicht angegangen werden. Wir müssen vermeiden, noch Wasser auf die Mühlen der Klimaleugner zu gießen, ja den Aufstieg des Irrationalen zu befördern, wie er sich heute in den Verschwörungserzählungen zeigt. Wenn wir vom IPCC sprechen, müssen wir die Berichte der Arbeitsgruppe 1 über die Wissenschaft vom Klimawandel von denen der AG 2 und AG 3 über Anpassung und Abschwächung unterscheiden. Ich möchte daran erinnern, dass der IPCC keine eigene Forschung betreibt; er führt nur die bestehenden Forschungsergebnisse zusammen. Der Bericht der AG 1 kompiliert die auf den physikalischen Gesetzen beruhenden Forschungen. Solange diese Gesetze nicht durch eine wissenschaftliche Revolution umgestürzt werden, fassen diese Berichte die besten verfügbaren Kenntnisse zum Klima zusammen. Bei den beiden anderen Arbeitsgruppen verhält es sich anders, besonders bei der AG 3, die die Abschwächung behandelt. Denn die Szenarios einer Stabilisierung, die sie zusammenfassen, werden mittels Einführung von Hypothesen über die Entwicklung der Gesellschaft in den Modellen zum Klimasystem erstellt. Diese Hypothesen werden vor allem von Wirtschaftswissenschaftler*innen formuliert. In dieser die Modelle erarbeitenden Gemeinschaft hat der Neoliberalismus die absolute Vorherrschaft. Daher sagt der 5. Bericht des IPCC: „Die Klimamodelle setzen Märkte voraus, die vollständig funktionieren, sowie ein auf Konkurrenz beruhendes Marktverhalten.“ Also in aller Deutlichkeit: Außerhalb des Marktes kein Heil! Die Modelle formulieren keinerlei Hypothesen von öffentlichen Plänen, die nicht der Profitlogik folgen. In diesem Punkt muss man dem IPCC widersprechen. Denn die Unterwerfung unter den Profit bedeutet Unterwerfung unter die Logik der Kapitalakkumulation. Plötzlich sind einfache Lösungen zur Reduzierung der Treibhausgase durch Stilllegung von unnützen und schädlichen Produktionen nicht mehr gangbar. Dieser tote Winkel der Forschung verstärkt die Angst und lädt zur Nachtrabpolitik hinter die Zauberlehrlingslösungen des grünen Kapitalismus ein. Ich zitiere in „Trop tard pour être pessimistes“ den Fall von Wissenschaftlern, die sich die Frage nach dem möglichen Maximum der Emissionsreduzierungen je nach Produktionssektor stellen und die überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass man z.B. die Waffenproduktion einstellen oder weniger Waren und diese auch per Zug statt LKW transportieren könnte.

Auch die IPBES möchte nicht aus den Regeln des Marktes ausbrechen. Im Gegenteil, sie tritt für den Mechanismus der „Kompensation der Biodiversität“ ein. Er besteht darin, dass ein extraktivistisches Unternehmen in einer Zone mit großem biologischen Reichtum operieren kann, wenn es sich verpflichtet, irgendwo die zerstörten Ökosysteme zu reparieren, was natürlich unmöglich ist. Die Bergbau- und Erdölmultis greifen auf diesen verrückten Mechanismus zurück, weil die Verknappung der Ressourcen sie dazu drängt, mit Nationalparks und Naturreservaten zu liebäugeln, die reich an Mineralien oder Kohlewasserstoffen sind. Es ist sehr positiv, dass die IPBES die Rolle der indigenen Völker und der ländlichen Gemeinschaften bei der Verteidigung der Biodiversität betont. Doch gleichzeitig erklärt sie das Verschwinden von Arten vor allem mit dem „Bevölkerungswachstum“ und der „Landwirtschaft“ ganz allgemein, als ob jede Bevölkerung und jede Form von Landwirtschaft dieselben Auswirkungen hätten. Dies steht in eindeutigem Widerspruch zur Lobpreisung der indigenen Völker und Gemeinschaften. Aber die Strategie der IPBES beruht vor allem auf der Idee, dass man die Naturreservate als Oasen der Biodiversität verstärken und vermehren müsse. Doch diese Oasen sind sicherlich bedeutsam, aber die wichtigste Aufgabe liegt heute nicht darin, denn man kann die Biodiversität nicht retten, wenn auf der anderen Seite riesige Wüsten des Agrobusiness geschaffen werden. Die Alternative ist die Agroökologie (ökologische Landwirtschaft)! Doch dann stellt sich die Frage der Bevölkerung in anderem Licht. Weil der Bericht der IPBES auf „die Bevölkerung“ im Allgemeinen deutet, legt er nahe, dass „mehr Bevölkerung weniger Biodiversität“ bedeuten würden. Aber die Agroökologie braucht viel mehr menschliche Arbeit als das Agrobusiness. Allgemein muss man sich nicht nur fragen, wie viele Menschen eine Produktionsweise aushalten kann, sondern auch welches Minimum sie braucht. In „Trop tard pour être pessimistes“ erwähne ich einen beredten Vergleich zwischen der großen und der kleinen Fischerei. Die zweite ist besser fürs Klima (geringerer Treibstoffverbrauch), besser für die Biodiversität, besser für die menschliche Gesundheit, kostet die Kollektive weniger und braucht für die gleiche Menge an Fischen zur Ernährung zwanzigmal mehr Menschen. Der Vergleich Agrobusiness/Agroökologie führt zu denselben Schlussfolgerungen. Der Kampf für die Biodiversität ist untrennbar mit dem Kampf gegen das Agrobusiness, die Fleischindustrie, die industrielle Fischerei und andere Mechanismen des kapitalistischen Raubzuges verbunden, die die IPBES nicht in Frage stellt.

 Du behandelst auch andere Strömungen, die sich auf die Ökologie berufen, von den Strömungen des „Green New Deal“ bis zu denen der „Zusammenbruchsideologie“. Was nun erstere betrifft, die zumeist auf der Linken zu finden sind, so verbinden sie ihre Pläne mit Geldschöpfung. Inwiefern steht das deiner Meinung nach im Widerspruch zur ökosozialistischen Lösung? Und was die Zusammenbruchsideologen angeht – können sie eine Plattform für Strömungen der radikalen Rechten abgeben?

Ich sage nicht, dass der Green New Deal, so wie er von der US-amerikanischen Linken vertreten wird, im Widerspruch zu einer ökosozialistischen Lösung steht. Dieser Green New Deal (GND) enthält zwei wichtige Ideen, die die Ökosozialist*innen ganz und gar teilen: Um die Katastrophe zu verhindern, braucht es einen Plan, und dieser Plan muss uns zugleich aus der sozialen wie der ökologischen Krise herausführen. In diesem Rahmen teile ich die Kritik des marxistischen Ökonomen Michael Roberts hinsichtlich der Finanzierung des GND durch Geldschöpfung: Laut Roberts kann der Staat durchaus Geld schöpfen, doch der Wert des Geldes wird durch die Wirtschaft bestimmt, also durch die Kapitalisten, die die Wirtschaft besitzen. Wenn der GND ihnen missfällt, werden sie nicht investieren, das Geld wird an Wert verlieren und die Regierung wird ihren Plan nicht finanzieren können. Doch heute geht es nicht mehr darum. Seit dem Erscheinen von „Trop tard pour être pessimistes“ hat sich die Lage verändert. Bernie Sanders hat sich Joe Biden angeschlossen. Dieser surft auf der Idee eines GND, um sich die Unterstützung der Linken zu sichern, doch wenn auch das Etikett gleich geblieben ist, hat sich der Inhalt der Flasche verändert. So beinhaltete der GND von Sanders den Stopp des Frackings; Biden hat nur versprochen, keine neuen Fracking-Lizenzen mehr zu vergeben und bei den bestehenden Lizenzen von Fall zu Fall zu verfahren. Sein Programm – sofern es vom Kongress angenommen wird – beinhaltet Investitionen von 40 Mrd. Dollar binnen zehn Jahren in saubere Energien und Technologien, aber keinen Bruch mit der fossilen Industrie. In seiner Mannschaft finden sich viele Leute, die von der Ölindustrie finanziert werden. Etwa Cedric Richmond, ein eng mit der Öl-, Gas- und petrochemischen Industrie verbundener Abgeordneter aus einem Wahlkreis in Louisiana – der gleichzeitig einer der zehn am stärksten verschmutzten Distrikte der USA ist. Der Green New Deal in der Version Biden ist grüner Kapitalismus – wie auch der der Europäischen Kommission.

Was nun die Zusammenbruchsideologen betrifft, so halte ich die Aussage, sie könnten zu einer Plattform für die radikale Rechte werden, für übertrieben. Ich bin dieser Strömung gegenüber sehr kritisch, weil sie die fatalistische Botschaft der Unvermeidlichkeit des „Zusammenbruchs“ verbreitet. Der kollektive Kampf und das Zusammenführen von Kämpfen kommen in ihrem Weltbild nicht vor. Sie haben kein Programm, abgesehen von der Gründung kleiner resilienter Gemeinschaften, die ihrer Meinung nach die einzigen Gesellschaftsformen sein werden, die der großen Katastrophe widerstehen können, die dazu führen wird, dass die Hälfte der Menschheit verschwindet. Vom Kapitalismus verstehen sie wenig, und sie meinen, dass die Armen im Süden vom „Zusammenbruch“ am wenigsten betroffen sein werden, weil sie der Natur näher sind. Das ist natürlich eine Absurdität, die die kapitalistischen, imperialistischen und rassistischen Herrschaftsbeziehungen außer Betracht lässt. Die Zusammenbruchstheorie kann in Richtung reaktionärer Konzeptionen abgleiten, die für die Menschheit keine andere Zukunft sehen als eine Regression in eine archaische Vergangenheit. Die Zusammenbruchstheoretiker befinden sich auf einer glitschigen Rutschbahn, wenn sie Leute wie Carl Gustav Jung (1875-1961) oder Mircea Eliade (1907-1986) loben, deren Eintreten für die Nazis sie wohl gar nicht kennen. Oder wenn sie sagen, dass Frauen und Männer mit ihren „Archetypen“ Verbindung aufnehmen sollen. Die Bewegung der Zusammenbruchsideologen ist sehr heterogen. Es gibt diejenigen, die „ums Überleben“ kämpfen, (Yves Cochet) und es gibt eine „mystische“ Fraktion. Es gibt auch eine libertäre Komponente, die glaubt, der „Zusammenbruch“ werde den Kapitalismus hinwegfegen und Platz machen für selbstverwaltete Gemeinschaften. All dies ist konfus und geht durcheinander. Viele junge Leute, die an wichtigen Kämpfen gegen fossile Projekte beteiligt sind, sehen sich als Sympathisanten der libertären Zusammenbruchsströmung. Man muss in diesen Kämpfen mit ihnen zusammenarbeiten, aber gleichzeitig die strategische Debatte führen.

 Im letzten Teil deines Buches betonst du die Bedeutung der neu entstehenden sozialen Bewegungen. Insbesondere liegt dir am Aufbau einer gemeinsamen subalternen Identität, ausgehend von den verschiedenen Subjekten, wo die Frauenbewegung einen vorrangigen Platz einnimmt. Welches sind deiner Meinung nach die Schlüsselelemente einer solchen „Umgruppierung“?

Ich gehe von einer dreifachen Feststellung aus. 1.) Wir können die Produktionsweise nicht ohne die Arbeitenden (Männer und Frauen) ändern, und noch viel weniger gegen sie; wir müssen sie also für den ökosozialistischen Kampf gewinnen. 2.) Die Welt der Arbeit befindet sich – wenn‘s hoch kommt – in der Nachhut dieses Kampfes; ihre Organisationsprinzipien sind das Wachstum und seine Wiederbelebung durch den „grünen Kapitalismus“. 3.) Die Avantgarde des ökosozialistischen Kampfes wird von den indigenen Völkern, den kleinen Bauern und Bäuerinnen (Via Campesina spielt einen Schlüsselrolle), und von den Frauen gestellt, die sich hier in vorderster Front befinden. Ob man Teil der Avantgarde oder Teil der Nachhut ist, ist nicht vom Himmel gefallen. Die Arbeiter*innen sind durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ins Kapitalverhältnis einbezogen, die ausgebildet, gekauft und eingesetzt wird, um Mehrwert zu schaffen. Ihre Lage ist schizophren: Ihr historisches Interesse ist es, mit dem System Schluss zu machen, aber ihre tagtägliche individuelle Existenz hängt von den Brosamen ab, die das System ihnen gibt, das sie und die Natur beschädigt. Die Bauern und Bäuerinnen und die indigenen Völker befinden sich in einer anderen Lage: Die Verteidigung ihrer tagtäglichen Existenz fällt weitgehend mit dem ökologischen Umgang mit ihrer natürlichen Umwelt zusammen. Auch die jungen Menschen entgehen bis zu einem gewissen Grade dieser Schizophrenie (weil sie in Ausbildung sind oder aber an den Rand des Systems gedrängt werden); ihre Lage drängt sie dazu, sich gegen die Zerstörung des Planeten zu wehren, auf dem sie noch länger leben müssen und vielleicht eines Tages Kinder haben. Die bedeutsame Rolle der Frauen ist Diskussionsstoff unter Feminist*innen. Von dem was ich gelesen habe, überzeugt mich am meisten, dass ihre Avantgarde-Position daher rührt, dass das Patriarchat ihnen die Rolle der Sorgearbeit aufdrängt, was sie sensibler und hellsichtiger den ökologischen Zerstörungen gegenüber macht – eine Art anderer Bumerang-Effekt.

      
Mehr dazu
Michael Löwy: Ökosozialismus und/oder „Degrowth“?, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021)
Daniel Tanuro: Ökosozialismus oder Sozialdarwinismus, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021)
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Daniel Tanuro: Von COP zu COP kommt die Katastrophe näher, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online)
Daniel Tanuro: Menschliche Zivilisation vor dem Aus?, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Ökologie-Kommission der Vierten Internationale: Unser Planet, unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
Klaus Engert: Michael Löwy – Ökosozialismus, die internationale Nr. 4/2017 (Juli/August 2017)
Alan Thornett: Daniel Tanuro über „grünen Kapitalismus”, Inprekorr Nr. 6/2014 (November/Dezember 2014)
 

Davon ausgehend versuche ich, eine Strategie der Zusammenführung der Kämpfe zu skizzieren. Die Idee ist dabei nicht, den möglichst großen gemeinsamen Nenner zwischen den Bewegungen der Ausgebeuteten und der Unterdrückten zu finden. Im Gegenteil, die Idee besteht darin, ausgehend von den Avantgarden, eine Konvergenz nach oben zu begünstigen, durch eine Organisierung der Kämpfe, die die Autonomie jedes Bestandteils in der Verfolgung seines jeweils legitimen Anliegens garantiert. Das Ziel ist, ein für die Politisierung der Themen günstiges politisches Kräfteverhältnis zu schaffen, also für den Bruch mit dem produktivistischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit. Notre-Dame-des-Landes (bei Nantes) stellt ein gutes Beispiel dar, weil das Bündnis der Platzbesetzer*innen („ZADisten“, abgeleitet von Zone à défendre, „zu verteidigende Zone“ [Anm. d. Red.]), der Anlieger, der Bauern und Bäuerinnen und ihr heftiger Kampf es ermöglicht haben, einen territorialen Konflikt in eine wichtige politische Frage zu verwandeln. Alle politischen und sozialen Kräfte mussten schließlich ja oder nein zum Bau des Flughafens sagen. Plötzlich haben sich die Grundlagen der Debatte auch in den Gewerkschaften verändert. Besonders die CGT von Vinci [französischer Baukonzern, A.d.R] wurde dazu gebracht, sich nicht nur auf der Grundlage von „gewerkschaftlichen“ Forderungen, sondern mit einem viel weiterreichenden gesellschaftlichen Standpunkt, einem politischen Standpunkt zu engagieren. Nach einer internen Diskussion und dank der Handlungen der Gewerkschaftslinken hat sie sich gegen das Projekt ausgesprochen und die „ZADist*innen“ unterstützt. Ich möchte mit dem – abgewandelten – Zitat des Che schließen: „Schaffen wir zwei, drei, viele Notre-Dame-des Landes“!

Diese Strategie steht natürlich im genauen Gegensatz zu der von Bruno Latour – „weder links noch rechts, das Land!“ Aber sie unterscheidet sich auch von der simplizistischen Vision des Mottos: „Der Kapitalismus zerstört den Planeten, zerstören wir den Kapitalismus!“ Natürlich muss man den Kapitalismus zerstören, auch wenn dazu eine Revolution nötig ist. Doch man macht sich Illusionen, wenn man denkt, man müsse nur den kapitalistischen Gegner benennen, damit der Klassenkampf „an sich“ die ökologische Katastrophe aufhält. Heute ist das Problem die Reorganisation der Klasse „für sich“. Diese Reorganisation kann nur aus den Kämpfen und dem Zusammenführen von Kämpfen erwachsen, und dieser Prozess wird bisweilen schmerzhaft, ja konfliktbeladen sein. Wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt der Ökologie betrachtet, heißt das natürlich, dass man die Weltsicht ökologisch gestalten muss – genauso wie die Forderungen aller ausgebeuteten und unterdrückten Schichten. Dieser Prozess wird eine Konvergenz nach oben hin möglich machen. Joan Martinez Alier hat das Konzept der Ökologie der Armen vorgeschlagen. In diese Richtung muss man weitermachen, jede ausgebeutete und unterdrückte Gruppe muss sozusagen ausgehend von den konkreten Umständen ihre eigene „konkrete Ökologie“ erarbeiten. Das hat z. B. mit den Gelbwesten begonnen, die mehrfach mit den Demonstrationen fürs Klima (und bei denen gegen die Gewalt gegen Frauen) mitgemacht haben. Potenziell haben alle Ausgebeuteten ihre Ökologie, denn die kapitalistisch-patriarchale-rassistische Verdinglichung der Menschen unterscheidet sich nicht grundlegend von der Verdinglichung anderer Lebewesen. Ausgehend von dieser strategischen Vision müssen sich die ökosozialistischen Genoss*innen an ihre Aufgaben machen.

Daniel Tanuro ist Ökosozialist und Mitglied der Antikapitalistischen Linken. Er ist auf internationaler Ebene eine ganz wichtige Stimme, wenn es darum geht, die ökologische Krise von einem radikalen Gesichtspunkt aus zu verstehen.
Übersetzung: pbk



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz