Naher Osten

Wir pfeifen auf diese „Normalisierung“

Seit Monaten diskutiert die politische Öffentlichkeit in Palästina die sogenannte Normalisierung, derweil die arabischen Staaten Schlange nach solchen angeblichen Friedensabkommen mit dem Staat Israel stehen.

Yumna Patel

Unter den palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Öffentlichkeit herrscht Einigkeit darüber, dass nur die israelische Besatzungspolitik schöngeredet wird, wenn arabische Staaten, Organisationen, Unternehmen und Institutionen Israel als „normalen“ Staat behandeln, mit dem „business as usual“ betrieben werden kann. Außerdem ebnet dies den Weg für Israel, weitere Verbrechen in den besetzten palästinensischen Gebieten zu begehen.


Das „wahre Gesicht“ der arabischen Regime


Die Palästinenser*innen haben auf die jüngste Welle von Normalisierungsabkommen mit Frustration und Empörung reagiert. Überall im Westjordanland, in Jerusalem und im Gazastreifen wurde gegen diese Normalisierung demonstriert. Während sie aber den Palästinenser*innen als „Dolchstoß“ und „ultimativer Verrat“ gelten, zeigt sich der Großteil der palästinensischen Öffentlichkeit zwar verärgert, aber keineswegs überrascht über die Abkommen.

Unterzeichnung des "Normalisierungsabkommens", 15.09.2020

(Foto: Flickr)

 

„Als sie die Normalisierung offen ankündigten, war dies fast schon eine gewisse Erleichterung, denn wir wussten, dass dies alles schon lange unter der Hand stattfand und letztlich nur bestätigt wurde“, sagte Ayman Gharib, ein palästinensischer Menschenrechtsaktivist im Westjordanland. „Diese Normalisierungsabkommen zeigen uns bloß das wahre Gesicht der arabischen Regime und machen Schluss mit der Fassade, die sie so lange aufrechterhalten haben“.

„Ob sich die arabischen Staaten für eine Normalisierung entscheiden oder nicht und ob dies offen oder unter dem Tisch passiert, ändert nichts daran, dass wir als Palästinenser noch immer hier auf diesem Land sind, unser Heimatland verteidigen und standhaft in unserem Kampf bleiben“. Mit seiner Kritik an der Normalisierung gibt Gharib ein Gefühl wieder, das von vielen Palästinenser*innen geteilt wird, nämlich dass es eine unverbrüchliche Solidarität zwischen der arabischen Bevölkerung in der ganzen Region in der Palästinafrage gibt, auch wenn die arabischen Regierungen lieber eine Normalisierung mit Israel betreiben als die Befreiung Palästinas zu unterstützen. „Selbst wenn ihre Regierungen uns verraten haben, erwarten wir, dass die arabischen Völker auf der ganzen Welt zu uns stehen, und viele von ihnen tun dies auch“, sagte er und verwies auf die Proteste gegen die Normalisierung, die sich im Sudan und in Bahrain nach den Abkommen ihrer Länder mit Israel entzündeten.


„Warum die Kapitulation noch feiern?“


„Die Normalisierung mit anderen arabischen Ländern findet auf Regierungsebene statt, aber nicht zwischen den Völkern“, sagt Mahmoud Nawajaa, Koordinator des palästinensischen Nationalen BDS-Komitees. „Aber irgendwann werden diese Diktaturen und Regime in der arabischen Welt fallen, und wir hoffen, dass sich das arabische Volk in freien Wahlen in der Zukunft Gehör verschaffen wird“, sagte er. „Wir denken, dass derlei Regierungen und Systeme solche Deals betreiben, weil es dort keine Demokratie gibt. Wenn diese arabischen Staaten demokratisch gewählte Führer hätten, würden derlei Abkommen nicht geschlossen werden, weil ihre Bevölkerung dies niemals akzeptieren würde.“

Nachdem es bei den jüngsten Normalisierungsabkommen zu heftigen Protesten unter der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen gekommen war, verwiesen viele kritischen Beobachter*innen darauf, dass auch schon vorher eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und angrenzenden Ländern wie Ägypten und Jordanien gegeben habe. Aber während Ägypten und Jordanien seit Jahren diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten, liegen diesmal die Dinge aus palästinensischer Sicht merklich anders, weswegen die Reaktion so unterschiedlich ausfällt.

„Dieses Mal liegen die Dinge anders. Die normalisierten Beziehungen mit Ägypten und Jordanien sind nicht herzlich, sondern bloße Abkommen“, sagt Diana Buttu, eine palästinensische Anwältin und politische Beobachterin mit Blick auf die Feierlichkeiten rund um Israels Abkommen mit den VAE und Bahrain. „Beim Vertrag mit den VAE war es definitiv zu viel, sagt sie und fügt hinzu, dass der Rummel um die Abkommen nur dazu gedient hat, das palästinensische Volk noch mehr zu kränken. „Viele Palästinenser sagen sich: Okay, wir verstehen, warum ihr diese Deals gemacht habt, z. B. wegen wirtschaftlicher und politischer Vorteile. Aber was um alles in der Welt macht ihr, wenn ihr das auf diese Weise feiert?“


Das Versagen der palästinensischen Führung


Vielleicht genauso frustrierend wie die Abkommen selbst, betont Buttu, sei die Strategie, oder das Fehlen einer solchen, seitens der palästinensischen „Führung“ als Reaktion auf die Normalisierung gewesen. „Nun, es gab überhaupt keine Strategie“, sagt sie. „Die einzige Reaktion der Regierung auf diese Normalisierungsabkommen bestand nur darin, mit den Händen zu fuchteln und zu sagen: ‚Hey, wir sind auch noch hier!‘, und sonst nichts.“

      
Mehr dazu
Julien Salingue: Von der Nicht-Anerkennung zum „Normalisierungs­abkommen“, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Haggai Matar: Einen solchen „Frieden“ brauchen wir nicht!, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Haidar Eid: Die Normalisierung der Anomalität, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Erklärung der IV. Internationale zu Palästina, Inprekorr Nr. 3/2015 (Mai/Juni 2015)
 

Laut Buttu ist die nüchterne Reaktion der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) auf das Abkommen der VAE mit Israel eventuell der Tatsache zuzuschreiben, dass die PA-Verantwortlichen keine harten Töne anschlagen wollten, um den Aufenthaltsstatus der mehr als 300 000 den Palästinenser*innen, die im Golfstaat leben, nicht zu gefährden. „Aber als das Abkommen mit Bahrain kam, duckte sich die PA erneut weg und genauso lief es dann beim Vertrag mit dem Sudan. Das größte Problem dieser Strategie ist, dass sie nur zeigt, wie erbärmlich ihr Vorgehen in all den Jahren war“, sagt sie über die PA.

Der gegenwärtige Zustand der PA – ein finanziell ausgelaugtes Gremium ohne Mitspracherecht in der globalen und regionalen Politik, die ihr Volk betrifft – so Buttu, sei der Höhepunkt all der Jahre gescheiterter Strategien seit Oslo und der vollständigen Umgehung der PA als Entscheidungsträger in den letzten vier Jahren durch die Trump-Regierung. „Die PA hat seit den Osloer Verträgen nichts getan, um ihren Kurs zu ändern. Infolgedessen stecken wir seit 27 Jahren im gleichen Szenario. Die PA redet immer noch dieselben Sprüche, während sich die Welt eindeutig weiterentwickelt hat. Das totale Ausbleiben einer organisierten Reaktion und Aktion auf die Normalisierung ist unbedingt der gescheiterten palästinensischen Führung anzulasten. Sie haben nie eine alternative Strategie entwickelt, und wir zahlen seit Jahren den Preis dafür.“


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz