Internationales Komitee der IV. Internationale
Im vergangenen Jahr wurde die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Lage essentiell durch die Covid-19-Pandemie determiniert. Die Krankheit wirkt sich weltweit aus und hat – mit Datum Ende März 2021 – bereits 128 Millionen Menschen infiziert; 2020 sind daran 1,8 Mio., bis Ende März 2021 2,7 Mio. gestorben. Dies stellt eine höhere Todesrate dar als die Infektionskrankheiten der vergangenen 15 Jahre, etwa HIV (1,7 Mio. 2004), Hepatitis B und C (1,3 Mio. 2015) oder TBC (1,4 Mio. 2019).
Covid-19 hat auf der ganzen Welt weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit gehabt und auch die Motoren der Weltwirtschaft getroffen; es hat die ihr zugrunde liegenden Produktionsketten in Mitleidenschaft gezogen. Die Pandemie verschärft die multidimensionale Krise des kapitalistischen Systems und eröffnete ein Zusammenwirken langfristig wirkender Phänomene, die sich auf relativ autonome Weise entwickelt haben und nun mit der Pandemie auf explosive Weise zusammen kommen: Die ökologische Krise, die Schuldenkrise, die Legitimationskrise eines Großteils der Regierungsinstitutionen in Nord und Süd des Planeten sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene, sowie der geopolitische Kampf um die Hegemonie zwischen dem US-amerikanischen Imperialismus und der VR China. Diese Prozesse zeigen und durchdringen sich und verändern die aus den 1990er Jahren stammende Weltordnung, wie sie durch das Ende des Ostblocks, den Zusammenbruch der UdSSR und die Restauration des Kapitalismus in diesem Teil der Welt und in China charakterisiert ist. Zweifelsfrei handelt es sich um eine historische Weggabelung und eine große Herausforderung für alle politisch Handelnden.
Trotz aller in den letzten Jahren erfolgten Konferenzen und internationalen Abkommen schreiten die Prozesse der Verwüstung der Bedingungen, die das Leben auf unserem Planeten möglich machen, die beschleunigte Reduzierung der Artenvielfalt, die Dynamik der Entwaldung, der Verschmutzung der Luft, des Wassers und der Böden, die Überfischung und die Aussaat transgener Monokulturen ungebremst voran. Es bleibt sehr wenig Zeit, um nicht nur katastrophale, sondern irreversible Veränderungen zu verhindern.
Insgesamt wurden keine radikalen Änderungen in Produktion und Konsum vorgenommen, und die tiefgreifenden Ungleichheiten beim Zugang zu Gemeinschaftsgütern auf dem Planten haben sich verschärft. Der kapitalistische Wettbewerb um kurzfristigen und maximalen Profit hat nach wie vor Vorrang vor den Lebensinteressen der Menschen. Obwohl die Emissionen 2020 niedriger waren als 2019, sind sie dennoch weit höher als was die Senken (Erde und Meer) aufnehmen können. Man schätzt, dass etwa 45 % der Emissionen in der Atmosphäre landen. Die Grenzen des Pariser Abkommens (maximale Temperaturerhöhung um 1,5 Grad) sind weiterhin bedroht und können in den 2030er Jahren nur bei einem grundlegenden Umbau der Weltwirtschaft und des Stoffwechsels zwischen menschlicher Gesellschaft und dem Planeten erreicht werden.
Hinzu kommen noch die technologischen Veränderungen, die noch viel tiefer gehende Änderungen in der Organisation der Produktionsketten und der Arbeitsbeziehungen – die immer digitaler und prekärer werden – mit sich bringen. Einige nennen das Plattform- oder Überwachungskapitalismus.
Im Grunde werden diese Umbauten auf Weltebene von den wichtigsten kapitalistischen Mächten und Konzernen gelenkt, ausgerichtet und kontrolliert. Sie finden außerhalb der demokratischen Kontrolle der Bevölkerung und im Wesentlichen ohne öffentliche Debatte statt. Drei technologische Bereiche stellen heute die größte Bedrohung des menschlichen Lebens dar:
Die Militärtechnologie mit einer neuen Generation von taktischen Atomwaffen, die ihren Einsatz wahrscheinlicher machen, sowie Drohnen, die selbständig entscheiden können, wann und wen sie töten;
Die Gentechnik, die durch Manipulierung und Aneignung von Leben so wie die Privatisierung des Saatguts Teil des weltweiten kulturellen Krieges gegen die Bauern und die menschliche Ernährung ist;
Die kapitalistischen Überwachungstechniken, im Vergleich zu denen die Orwell’sche Dystopie von 1984 als Kinderkram erscheint. Mit der Pandemie beschleunigt sich die Anwendung dieser Überwachungstechniken.
Die digitale Überwachung mit Hilfe von Handys, die örtliche Lokalisierung und Nachverfolgung, die Gesichtserkennung mit Hilfe von thermischen Scannern, die Überwachung ganzer Stadtteile mit Hilfe von Drohnen, die Verbreitung privater Überwachungsgesellschaften haben sich bereits seit dem 11. September 2001 massiv ausgeweitet. Die Nachverfolgung des Virus wird als Vorwand genommen, um die Überwachungssysteme, die die demokratischen Freiheiten bedrohen, zu verbreitern.
Wir leben in einer immer stärker militarisierten Welt. Die USA als imperialistische Macht sehen sich in ihrer weltweiten Hegemonie, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, immer stärkerer Konkurrenz ausgesetzt. Sie sehen in China die aufsteigende Supermacht, die ihre Überlegenheit bedroht. Aus diesem Grund nehmen sie gegenüber China und Russland immer aggressivere Haltungen an.
Schritte in diese Richtung erfolgen in der intensiven technologischen Konkurrenz, in einem spannungsgeladenen Handelskrieg, in einer bezeichnenden Umorientierung der Militärdoktrin des Pentagons, im Krieg gegen den Terrorismus der Präsidentschaften Bush und Obama mit ihrer militärischen Schwerpunktsetzung. Diese geopolitischen Umorientierungen können nur schwerlich friedlich bleiben. Am Horizont taucht erneut die Drohung eines nuklearen Konfliktes auf.
Gleichzeitig sichern Xi Jingping in China und Putin in Russland ihre Macht immer stärker ab, indem sie jede innere Opposition stilllegen als auch ihre Herrschaft in Randgebieten (Krim, Hong Kong, dem uigurischen Xinjiang) absichern. Außerdem versuchen sie, ihre militärische Einflusssphäre auszuweiten (Syrien bei Putin, das Chinesische Meer und das Horn von Afrika bei Xi Jinping). Gleichzeitig hat die VR China ihre Position 2020 in der Pandemie stärken können. China hat sein Produktionssystem im Wesentlichen wieder hochgefahren und seine Exportfähigkeiten wesentlich verbessert. Mit dem Warenexport, aber auch seiner materiellen und medizinischen Hilfe, und zuletzt der Lieferung von Impfstoffen, machte China einen Sprung nach vorn in seinem Einfluss in Asien, Lateinamerika und vor allem in Afrika. In Asien versucht China, die „indo-pazifische Strategie“ von Trump und dessen militärische Manöver zu konterkarieren; dazu startete es die regionale Wirtschaftspartnerschaft (RCEP) mit vierzehn asiatischen Ländern; außerdem baut es seine Marine aus.
Die Schwächen und Widersprüche der Europäischen Union wurden durch die Covid-19-Pandemie brutal aufgezeigt, die die EU heftig getroffen hat (im Februar wurde die Schwelle von 500 000 Toten überschritten). Das Ausmaß der Krise, besonders im Süden, hat eine Reihe von in den Verträgen beinhalteten Verboten gesprengt (im Hinblick auf die Politik der EZB, aber auch den Formen der Solidarität). Trotzdem kamen die Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die Kompetenzen (Steuern, Gesundheit) wieder aufs Tapet. (Was ist Aufgabe der „Gemeinschaft“, der Einzelstaaten oder zwischenstaatlicher Absprachen?) Das erste Jahr der Pandemie hat also die Unfähigkeit der EU gezeigt, ihre wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen einzusetzen, um eine gemeinsame Politik des Schutzes der Bevölkerung vor der Pandemie zu entwickeln. Der Aufkauf von 1,85 Mrd. Schulden durch die EZB im Rahmen des Sofortprogramms gegen die Pandemie und die 750 Mrd. Euro als Instrument zum Wideraufbau „Next Generation EU“ (eine Erhöhung des jährlichen Haushalts der EU um 14 Mrd.) werden ausschließlich zur Stützung der Banken und der Großkonzerne in einem Kontext eingesetzt, in dem der Wiederaufschwung der Exporte schwach ausfällt und auch der Konsum wegen der Verarmung der einfachen Bevölkerung schwächelt. Außerdem werden die Hilfen der EU und die Kredite „Next Generation EU“ nur für nationale Pläne vergeben, die den neoliberalen Vorgaben der EU entsprechen. Wir erleben eine weitere Phase der Legitimationskrise der EU, denn die Pandemie stellt klar die Frage: „Wer soll für die Krise bezahlen?“ Dies zeigt die Unwirksamkeit und Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Verträge angesichts der dringenden Bedürfnisse einer egalitären und solidarischen Gemeinschaft der Völker Europas und der übrigen Erde, die vom gleichen Unglück getroffen sind.
Das neoliberale Projekt war eine kosmopolitische Utopie, ein Phantasma, aber mit dem Versprechen, dass in Zukunft Etatismus und Bürokratismus abgebaut würden; dadurch wurden die sozialen Zerstörungen verdeckt. Ganze Sektoren des Kapitalismus wie die Finanzbourgeoisie oder das Silicon Valley wurden zu Helden der Trilogie der liberalen Moderne: produzieren, konsumieren und sich bereichern.
Diese neoliberale Utopie verhüllte die unsozialen und antidemokratischen Umbauten der weltweiten – radikalen und globalisierten – Kommerzialisierung der 1990er Jahre, die die Logik der Konkurrenz, der Privatisierungen und des Unternehmergeistes auf alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnte. Die neoliberale Utopie versuchte zu verstecken, dass die Anwendung neuer Technologien im Rahmen des globalisierten Kapitalismus heute die Tendenz besitzt, einen Großteil der bestehenden Arbeitswelt zu zerstören und somit Milliarden Opfer schafft. Dass diese negativen Konsequenzen für die gesellschaftliche Ordnung über Jahrzehnte ausgeblendet wurden, liegt eben an der Fähigkeit zur Hegemonie dieses globalisierten Projektes.
Wir haben gesehen, dass die neoliberale Offensive zahlreiche und unterschiedliche neoliberale Offensiven inspiriert hat: Reagan und Thatcher, aber auch Clinton, Fernando Henrique Cardoso und Tony Blair, sodann Bush und Lula, und heute Pedro Sanchez in Spanien, Angela Merkel in Deutschland, Joe Biden in den USA und sogar Xi Jinping in der VR China. Eben weil es jenen weltweiten Horizont gibt, konnte der Neoliberalismus – mit noch größerer Kraft als der antidemokratische Liberalismus des 19. Jahrhunderts – die alte Linke zerstören. Nach ihrem Verrat am Internationalismus am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist die Sozialdemokratie zu einem Instrument kapitalistischer und imperialistischer Herrschaft geworden; später haben die stalinistischen bürokratischen Diktaturen, und dann die kapitalistische Restauration die brutalen Formen des Zwangs und der Ausbeutung fortgesetzt; in jüngerer Zeit haben die „fortschrittlichen“ lateinamerikanischen Regime zu Beginn des 21. Jahrhunderts den kapitalistischen Rahmen nicht überschritten und haben ein Entwicklungsmodell vertieft, das auf Exporten, Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe und einer Politik niedriger Löhne beruhte, um wettbewerbsfähig zu bleiben – auch wenn sie in den ersten Jahren eine Politik der „Unterstützungszahlungen“ praktiziert haben, die die Armut reduziert hat.
Da sie keine Selbstmordabsichten hegen, flirten mehrere globalisierte Sektoren (auf ungleiche Weise) seit vier Jahrzehnten mit einem Diskurs dauerhafter Entwicklung oder des „grünen Kapitalismus“, ohne jedoch die Fahne des effizienten ökologischen Übergangs aufgreifen zu wollen, der – wie man weiß – einen gigantischen Kapitaleinsatz erfordern und zu großen Konflikten führen würde. Angesichts der Schwächen der linken Alternativen – die heute feministisch, antirassistisch und ökologisch sein müssen, um effizient und dynamisch zu wirken – wurde die Globalisierungskritik teilweise von konservativen, nationalistischen (oder traditionalistischen) politischen Projekten vereinnahmt. Diese sind im Allgemeinen fremdenfeindlich, rassistisch und suprematistisch, sowie neofaschistisch oder postfaschistisch. Sie versuchen, die Frustrationen und Revolten der einfachen Bevölkerung wegen des Sozialabbaus auf Sündenböcke zu lenken, wohingegen die „Globalisten“ sich als „Modernisierer“ ausgeben und auf Unterstützung bei den feministischen Strömungen, den LGBTQ und den Antirassisten aus sind.
Wenn aber linke Persönlichkeiten oder politische Kräfte gegen die vieldimensionale kapitalistische Krise radikale Lösungen vorschlagen oder konkrete Lösungen im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit und Förderung der Gemeingüter vorschlagen, lässt sich feststellen, dass diese Vorschläge in der einfachen und unterdrückten Bevölkerung auf ein breites Echo stoßen, gleich ob wir von Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez oder der Squad [1] in den USA 2019/Anfang 2020 sprechen, oder von Jeremy Corbyn und dem „Labour Manifesto“ 2017/18 in Großbritannien, von Syriza 2010 und Anfang 2015 in Griechenland, von Podemos nach seiner Gründung 2014 in Spanien. Das Problem liegt dann in der fehlenden Kohärenz und/oder der Wende hin zur Anpassung ans System.
Die „globalisierten“ Alternativen zeigen immer stärker ihren antidemokratischen Charakter in Verbindung mit radikalen Angriffen auf den Sozialstaat. Parallel dazu sind die rechtsradikalen Alternativen nur „universalistisch“ in dem Sinne, dass ihre Achse weltweit die Fremdenfeindlichkeit, besonders die Islamfeindlichkeit ist. Die Hasspolitiken nehmen im 21. Jahrhundert nicht mehr nur die Form der Verteidigung einer bedrohten Gemeinschaft an, sondern sind auch Ausdruck der Angst, wie sie mit dem Sozialdarwinismus und dem Machtwillen verbunden sind, wie jede Revolte gegen das universalistische Projekt sie hervorbringt. Die konservativen Nationalismen haben heute eine große Bandbreite an Formen und stellen eine Revolte gegen die Globalisierung, ja gegen die Moderne dar. Ihr immer ökologiefeindlicherer und misogyner Charakter wird von globalisierungsfreundlichen Strömungen benutzt, um sich als Vertreter*innen des Kampfes der Zivilisation gegen die Barbarei darzustellen, während sie selbst wesentliche Akteure der Zerstörungen sozialer und von Umwelt-Errungenschaften sind. Es ist daher die Aufgabe (wirklich) antikapitalistischer und gegen das System kämpfender Alternativen in ihrem Kampf gegen die Pandemie und die damit verbundenen Krisen, eine Alternative der Sorge, der Rechte und des Lebens gegen die verschiedenen Formen der Barbarei anzubieten.
Das Wahlergebnis in den USA (die weiterhin der führende Imperialismus des Westens sind), in dem die Verzerrungen des Wahlsystems und die 70 Millionen Stimmen für Trump weiterhin Gewicht haben, stellt einen schweren Rückschlag für das konservative, traditionalistische und faschistische Projekt der Ultrarechten auf der Welt dar. Es löscht aber die allgemeinen Entwicklungstendenzen diese extremen Rechten nicht aus.
Trotz der von der Pandemie verursachten Beschränkungen scheint die Wahlbeteiligung im November in den USA die höchste seit 2008 gewesen zu sein. Diese starke Wahlbeteiligung war das Ergebnis der Polarisierung, wie sie in den antirassistischen Mobilisierungen und den demokratischen Kämpfen von hunderttausenden Menschen ihren Ausdruck gefunden haben. Das machte es für Trump schwierig, das Wahlergebnis anzufechten und eröffnete den Weg für die Amtseinsetzung von Joe Biden. Trump Niederlage bringt den weltweiten Elan des Autoritarismus durcheinander, wie er sich in Polen, Ungarn, der Türkei, Indien, den Philippinen, Nicaragua, Ägypten, Brasilien, Birma usw. zeigt.
Trump und der Trumpismus (wie auch Bolsonaro, Modi, Duterte usw.) gehören zu einer breiteren Tendenz, in der sich neue Formen des Autoritarismus und aus dem Mittelalter stammender uralter und wissenschaftsfeindlicher, gegen die Aufklärung gerichteter Verschwörungserzählungen in vielen Ländern ausbreiten. Sie drückt das Misstrauen breiter Schichten gegen die bestehenden Institutionen aus und sie werden von Kräften der extremen Rechten ermutigt und manipuliert. Wenn es keine Massenmobilisierungen und Siege der fortschrittlichen Kräfte gibt, könnten sich diese Ideen weiter ausbreiten. Unsere Aufgabe ist es, diese Kräfte mit allen Mitteln zu isolieren, sie zu bekämpfen und sie anzuprangern, denn sie eröffnen den Weg zu einem extremen Autoritarismus.
Es ist offensichtlich, dass die Regierung Biden – wie die Obama-Regierung (2009–2017) versuchen wird, die internationalen Beziehungen – vor allem zu Europa – zu normalisieren und die Fortschritte Chinas einzugrenzen, indem sie eine Politik zur Begrenzung des Niedergangs der USA durchführt. Aber die Rechte, die sich zu den Wahlen um die Republikaner herum stark mobilisiert hat, wird sehr mächtig bleiben, während es die Aufgabe der sozialen Bewegungen ist, ihre eigenen Aktionen zu verstärken.
7.1. Massiver Rückgang der Wirtschaftstätigkeit
Die Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen haben eine tiefe Wirtschaftskrise ausgelöst, wobei die Wirtschaft sich noch nicht völlig von der Krise 2008 erholt hatte. Es ergab sich immer deutlicher eine Hegemonie der großen Informatikgesellschaften – der GAFAM. Auf offensichtlich widersprüchliche Weise hat die wirtschaftliche Rezession zu einer Finanzblase geführt, vor allem in den USA, der EU und Japan. Doch die Börsengewinne und die der anderen Finanzmärkte können die Tatsache nicht verbergen, dass wir uns in der längsten der depressiven Wellen des internationalen Kapitalismus befinden. So führt die Pandemie zu tiefen Erschütterungen in den Wertschöpfungsketten, was wiederum zu einem Sinken der Kapitalrentabilität führt – abgesehen von den Sektoren, die direkt von der Pandemie profitieren, darunter die Kommunikationsgiganten, der elektronische Kommerz und die Pharmakonzerne.
Das Absinken der Wirtschaftstätigkeit führte 2020 zu einem Rückgang des weltweiten BIP um etwa fünf Prozent, dem größten Rückgang seit der Großen Depression; er war fünfmal stärker als in der Krise 2008/09. Die gegenwärtige Krise weist auch die Besonderheit auf, dass sie weltweit synchron auftritt, was durch die Synchronität der Wertschöpfungsketten verstärkt wird. Es ist für diese oder jene Region bzw. das eine oder andere Land nicht mehr möglich, sich völlig von den Tendenzen der zentralen Wirtschaften abzukoppeln. Und dieses Element hat 2020 zum allgemeinen Rückgang der Produktion und der Preise der Rohstoffe beigetragen – auch wenn die Unterschiede in Mengen und Intensität zwischen den Kontinenten und den Ländern bestehen bleiben.
Nur die VR China konnte ihr Wirtschaftswachstum beibehalten, wenn auch in geringerem Umfang als in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten (+2,3 %). Die US-Wirtschaft ist hingegen um 3,5 % geschrumpft, die Japans um 4,8 %, die der Euro-Zone um 6,8 %, die des Vereinigten Königreichs um 7,8 %, die Indiens um 8 %, die Mexikos um 8,5 %, die Brasiliens um 4,1 %, die Russlands um 3,1 % und die der Länder mit „geringen Einnahmen“ um 1,2 %.
Obgleich für 2021 ein gewisser Aufschwung erwartet wird, werden die USA und Europa in den kommenden Jahren nur ein schwaches Wachstum bekommen, was zu einer Zunahme der Ungleichheiten und der Armut führen wird. Das trifft umso mehr zu, als der Rückgang der Gewinnmargen die Kapitalisten und Regierungen dazu bringen wird, den Druck auf die Beschäftigung und die Löhne zu erhöhen und zu einer Austeritätspolitik zu greifen.
7.2. Zunahme der Ungleichheit und der Armut
Die Wirtschafts- und Gesundheitskrise führen zu Armut (unter 1,9 US-Dollar pro Tag). Laut Weltbank wird das 2021 hundertfünfzig Millionen Menschen zusätzlich betreffen (die zu den 2,8 Mrd. hinzukommen, die sich ohnehin in Armut befinden; insgesamt 36 % der Weltbevölkerung). Von den zwei Milliarden im informellen Sektor Arbeitenden wurden 80 % heftig von der Pandemie betroffen.
Während die reichsten Länder für ihre Bevölkerung Impfstoffe bunkern – und sich weigern, die Regeln zum Schutz von Patenten der Pharmazieunternehmen aufzuweichen, obwohl die Impfstoffe mittels massiver öffentlicher Zuschüsse entwickelt wurden – werden viele Länder im Süden vor 2022 laut Schätzungen der People’s Vaccine Alliance keinen wirklichen Zugang zu Impfungen haben.
So zeigen sich in der Pandemie mit großer Brutalität die Ungleichheiten beim Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen, Medikamenten, Wasser, Nahrung und geeignetem Wohnraum. Die vom Virus am meisten heimgesuchten Bevölkerungen und die mit komplettem oder partiellem Lockdown leben unter den prekärsten Bedingungen (in Zonen, in denen der Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensten selten oder fast inexistent ist). Dort ist wegen der schlechten Gesundheit und Ernährung die Sterblichkeit oft höher. Diese Menschen mussten oft bereits den Verlust ihres Arbeitsplatzes oder von Ressourcen erleiden.
In den meisten Ländern ist die Gewalt der Covid-19-Pandemie das Ergebnis von jahrelanger Reduzierung der Gesundheits- und der Sozialausgaben. Im Allgemeinen hat die Pandemie die in der kapitalistischen Gesellschaft herrschende Gewalt gesteigert, die Diskriminierung, die Gewalt gegen Frauen, den Rassismus, die prekären Lebensverhältnisse, die Verschlechterung der ohnehin unzureichenden Transport- und Wohnungssituation, ja auch die Versorgung mit Lebensmitteln.
7.3. Wachsende öffentliche Verschuldung und die Politik der Zentralbanken
Die wichtigsten Zentralbanken (FED, EZB, Bank von England, Bank von Japan und Bank von China) haben auf dieselbe Weise reagiert. Sie haben Milliarden von Dollars oder Euros in die Wirtschaft gepumpt, um die Preise der Finanzaktiva (Aktien und öffentliche oder private Anleihen) zu stützen, um Pleiten oder massive Verluste des reichsten Prozents (dessen Vermögen so schwer wiegt, wie das der „restlichen“ 99 Prozent) zu verhindern. Das ist in diesem Umfang neu in der Geschichte des Kapitalismus und übertrifft bei weitem das Geschehen von 2008.
Alle Regierungen haben vorübergehend ihr Ziel einer Reduzierung der Budgetdefizite aufgegeben. Aber bis heute wurden keine Maßnahmen ergriffen, um die höchsten Vermögen und Einkünfte höher zu besteuern; keine Sondersteuern für die Krisengewinnler (Big Pharma, Amazon, Google usw.) wurden beschlossen.
Die massive Erhöhung der öffentlichen Verschuldung wird in den kommenden Jahren dazu hergenommen werden, mit den neoliberalen „Reformen“ der Gesundheitsdienste, des Arbeitsrechts, der Privatisierungen und der Angriffe gegen öffentliche Dienstleistungen weiterzumachen. Es ist entscheidend, den Einsatz der öffentlichen Schulden zugunsten der Großunternehmen zu kritisieren und die Streichung der illegitimen öffentlichen Schulden zu verlangen, indem man mit der Einstellung der Zahlungen beginnt.
7.4. Vorwand für autoritäre Maßnahmen des Staates
In vielen Ländern wurden 2020 autoritäre Maßnahmen verfügt, Notstandsmaßnahmen oder Ausgangssperren, ohne die – dank neuer Technologien – großen „Fortschritte“ in der Kontrolle der Bevölkerung zu vergessen. Zig Regierungen haben im Namen des Gesundheitsschutzes ein Maximum an Notstandsmaßnahmen verfügt. Für die reaktionärsten unter ihnen war die Pandemie eine Gelegenheit, ihren Zugriff auf die institutionellen Mechanismen zu verstärken und den Regierungen oder ihren Präsidenten außergewöhnliche Vollmachten zu verschaffen. Damit wollten sie die Legislative oder Judikative, vor allem aber die Zivilgesellschaft und die Freiheitsrechte weiter schwächen.
Diese Maßnahmen wurden oft von autoritären Regierungen getroffen – in Brasilien, Indien, den Philippinen, Polen, der Türkei, Ägypten oder Israel –, mit all den Unterschieden im Anteil rechtsradikaler Kräfte in den verschiedenen Ländern.
Auf den Philippinen hat der Kampf gegen die Pandemie mit Dutertes Befehl, auf diejenigen, die die Ausgangssperren nicht beachten, „zu schießen, um sie zu töten“ den Druck von Polizei und Armee erhöht; Duterte hat die Presse angegriffen und mit der Wiedereinführung des Ausnahmezustandes gedroht. Viele Länder haben von der Pandemie profitiert, um ihr gesetzliches Arsenal zu schärfen, das die demokratischen Rechte und individuellen Freiheiten einschränkt. So wie Duterte hat auch Orban ein Gesetz durchgepeitscht, das ihm große Machtvollkommenheit sichert; außerdem hat er die Pressefreiheit angegriffen. In Myanmar hat die birmanische Armee am 1. Februar 2021 zur Stärkung ihrer Macht einen Staatsstreich organisiert, „einen präventiven Putsch“, weil die Lage unkontrollierbar geworden war. Angesichts einer außergewöhnlichen Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung hat die Armee systematisch Feuerwaffen eingesetzt und binnen zwei Monaten über 500 Demonstrant*innen getötet.
In Polen hat die Regierung die direkte Kontrolle über den wichtigsten Sender übernommen. Putin hat die Verfassung ändern lassen, um bis 2036 Präsident bleiben zu können. In einem Dutzend Länder überall auf der Welt haben Notstandgesetze die Presse daran gehindert, ihre Kritik an den Pandemie-Maßnahmen der Regierung zu äußern; hunderte Journalist*innen wurden verfolgt und eingesperrt. Viele angeblich demokratische Regierungen haben zu Sicherheitsmaßnahmen gegriffen und neue, undemokratische Verfügungen erlassen, die zu den bereits im Kampf gegen Terrorismus oder Drogenhandel verfügten, noch hinzukamen.
Bei Covid-19 handelt es sich wie auch schon bei früheren viralen Erkrankungen um eine Zoonose. Es ist absehbar, dass die Gründe, die zum Überspringen des Virus auf den Menschen geführt haben, auch in Zukunft wirken werden. Außerdem werden sich die Auswirkungen des Klimawandels in den kommenden Jahren verschärfen, was für viele Bevölkerungen katastrophale Auswirkungen haben wird.
Allein zwischen 1980 und 2000 wurden in Lateinamerika, Asien und Afrika 100 Mio. Hektar Wald zerstört. Die Feuchtzonen, die sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Rückgang befinden und von denen eine Milliarde Menschen in ihrer Subsistenz abhängt, haben zwischen 1970 und 2015 um 35 % abgenommen. Diese Veränderungen bewirken eine Verschiebung des Lebensraums von wildlebenden Tieren, die pathogene Viren in sich tragen, die vorher vom Menschen getrennt waren – sie kommen in Kontakt mit ländlichen Bevölkerungen und tragen zur Entwicklung von Zoonosen bei.
Abgesehen von den Schäden durch Entwaldung verändert der Klimawandel wegen des Wassermangels und extremer Wetterereignisse unsere natürliche Umwelt und bringt die Ökosysteme durcheinander. Er begünstigt somit – zusammen mit dem Anwachsen der Mobilität vieler Menschen und Waren und dem Wechsel im Gebrauch der Böden – das Entstehen neuer Epidemien. Pathogene Viren tragende Mücken bewegen sich in Richtung der früher gemäßigten Zonen. Dies gilt auch für die Zecken, die Borreliose verbreiten. Bis zum Jahr 2100 könnten 70 Prozent der Gebiete des Permafrostes verschwunden sein. Abgesehen von der massiven Freisetzung von Methan würde dieses Verschwinden vielen Viren und Bakterien ermöglichen, in die pflanzlichen und tierischen Kreisläufe einzudringen.
Die Globalisierung verstärkt die Risiken von ökologischen Katastrophen oder Zoonosen und ihre schnelle Verbreitung über den ganzen Planeten. Wir wissen, dass die Lebens- und Wohnverhältnisse der einfachen Bevölkerung und die starken Einschnitte bei den Sozialausgaben die Risiken von Epidemien für diese Klassen und die verwundbaren Teile der Bevölkerungen erhöhen, so für die Bauern und Bäuerinnen, die Migrant*innen, die vom Rassismus betroffenen Menschen und die autochthonen Völker.
Das Jahr 2019 war durch massive Aufstände in verschiedenen Regionen des Planeten gekennzeichnet, vor allem in Afrika (Sudan, Algerien und Libyen gegen die Diktaturen), im Vorderen Orient (Libanon, Irak und Iran), in Mittel- und Südamerika (Puerto Rico, Honduras, Costa Rica, Panama, Haiti, Ecuador, Chile, Kolumbien und Bolivien) – aber auch in asiatischen Ländern wie Indonesien und Kasachstan, ja sogar auf dem kleinen Malta in Europa. Laut der französischen Internetzeitung Mediapart gab es in diesem Jahr Mobilisierungen in 32 Ländern. Im Allgemeinen handelt es sich um Kämpfe aus Gründen der Wirtschaft und der Demokratie. [2]
Wenn man die Protesthandlungen der Frauen in Lateinamerika und Europa und die weltweiten Mobilisierungen von jungen Leuten wegen des Klimawandels hinzufügt, außerdem den demokratischen Widerstand in Hong Kong und die sozialen Kämpfe in Frankreich, so befinden wir uns womöglich in einer Zeit der stärksten Mobilisierungen seit 1968. Diese Mobilisierungen zeigen das Entstehen einer fortschrittlichen Gegenmacht zum Post-2016-Szenario, als die Projekte der Rechten wegen des Brexits und wegen Donald Trump immer stärker wurden. 2019 gab es starke, gegen den Neoliberalismus gerichtete Bewegungen, die begannen, demokratische und antiautoritäre Kämpfe miteinander zu verbinden, und die bisweilen den tyrannischen Regimen Niederlagen beibrachten.
Die Pandemie hat gegenüber dieser Welle des Widerstandes eine Pause erforderlich gemacht. Doch gleichzeitig hat die Pandemie die verheerenden Konsequenzen der kapitalistischen Globalisierung, der Entwaldung, die desaströse Bilanz der Sozialpolitik, die Sackgassen der Regierungen, die den Profit des Kapitals dem Wohlergehen der Bevölkerung vorziehen, aufgezeigt. Die Pandemie hat auch die prekären Lebensbedingungen eines Großteils der Weltbevölkerung offenbart, die unter Ungleichheit und Diskriminierungen leidet, besonders die Frauen und die farbigen Arbeiter.
Daher haben die Kämpfe, die während der Pandemie entstanden sind – abgesehen von spezifischen Fragen wie die Sicherheit am Arbeitsplatz, die Polizeigewalt, die Erhöhung der Ausgaben für die Gesundheit und das Recht auf Abtreibung –, als gemeinsamen Nenner die demokratischen und antirassistischen Forderungen, die Ablehnung der korrupten Regime und der Eingrenzung der sozialen Rechte – als Fortsetzung der Welle, die schon früher begonnen hatte. Hinsichtlich dieser neuen Etappe sollten wir herausstreichen:
Die wichtigen Kämpfe der im Gesundheitsbereich und der Erziehung Arbeitenden in der ersten Welle im März/April 2020, als sie gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen protestierten. Die prekären Bedingungen in einigen Bereichen (Einzelhandel) haben ebenfalls zu Streiks geführt, etwa bei Amazon oder in zahlreichen Nahrungsmittelfabriken in den USA.
Trotz der Ausbreitung der Pandemie gab es am 8. März 2020 massive Mobilisierungen von Frauen wegen Problemen, die auch in den vergangenen Jahren auf der Tagesordnung standen, so die Gewalt von Männern (Frauenmorde, Missbrauch und Übergriffe aller Art), die aber in den Lockdowns zugenommen haben. Frauengruppen haben Mobilisierungen zur Unterstützung stark von Frauen geprägter Bereiche sowie in Solidarität mit Bewegungen gegen Rassismus und Polizeigewalt durchgeführt. In Bewegungen gegen den Rassismus haben Frauen ebenfalls eine führende Rolle gespielt. Die Bewegung in Polen gegen die Einschränkungen des Rechtes auf Abtreibung hat sich zu einer Kampfansage für das undemokratische politische System ausgewachsen, das auf einem Kompromiss zwischen den Anhängern der Regierung und der Katholischen Kirche beruht. Zu Ende des Jahres hat die Bewegung in Argentinien neuerlich zugunsten parlamentarischer Maßnahmen zur Legalisierung der Abtreibung mobilisiert. Im Oktober haben in Namibia Demonstrationen gegen sexistische Gewalt und Frauenmorde die Straßen beherrscht.
Als die Einschränkungen der „ersten Welle“ von Covid-19 langsam wieder aufgehoben wurden, haben in den USA große Mobilisierungen der Black-Lives-Matter-Bewegung stattgefunden, die in weltweite Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt eingemündet sind. Eine Bewegung zugunsten der Rechte von Migrant*innen und gegen Polizeigewalt, sodann gegen neue repressive Gesetze, hat sich in Frankreich entwickelt.
Im dritten Jahresviertel ist in Thailand eine breite demokratische Bewegung als Kampfansage an die Monarchie entstanden. In Weißrussland hat sich eine Massenbewegung entwickelt, die den Wahlbetrug bei der Wiederwahl des autoritären Präsidenten Lukaschenko angegriffen hat.
In Indien haben mehrere Mobilisierungswellen das Land durchzogen: Gegen die neoliberale und rassistische Politik der Regierung Modi, vor allem in Hinblick auf die Änderung des Bürgerschaftsgesetzes, hat am 26. November ein Generalstreik mit einer starken Mobilisierung der bäuerlichen Bevölkerung stattgefunden, der den Norden des Landes und die Hauptstadt Neu Delhi erschüttert hat. Die Bewegung ging über Monate und hat im Februar 2021 in einem Teilerfolg geendet.
In Griechenland ist es der Linken gelungen, am 7. Oktober 2020 eine ganz große antifaschistische Demonstration zu organisieren, die im Verbot der Neonazipartei „Goldene Morgenröte“ als krimineller Vereinigung geendet hat. Im Februar und März 2021 fanden ebenfalls große Mobilisierungen unter starker Beteiligung von jungen Leuten gegen die repressiven Maßnahmen statt.
Auf Mauritius gab es eine Mobilisierung des Volkes gegen die Umweltverschmutzung und für den Erhalt der Biodiversität, als ein Tanker havarierte und die Küsten verschmutzte.
Trotz starker Repression ging die demokratische Bewegung in Hong Kong das ganze Jahr 2020 über weiter. Dasselbe gilt für die Bewegung im Libanon gegen die Regierungspolitik. Im Juli haben in Mali Massenbewegungen den Sturz des neoliberalen Präsidenten bewirkt. In Tansania, Guinea und der Elfenbeinküste gab es Bewegungen gegen den Wahlbetrug.
In Nigeria gab es im Oktober eine breite Mobilisierung der Bevölkerung gegen Polizeigewalt (Bewegung #StopSARS), die im Wesentlichen von jungen Leuten geführt wird. In Angola Demonstrationen von jungen Leuten gegen Arbeitslosigkeit, Korruption und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Im Irak erhoben seit Oktober 2019 in vielen Städten junge, religiös ungebundene Leute – unabhängig von ihren sonstigen Zugehörigkeiten – politische Forderungen (und sie prangerten die Korruption der politischen Klasse an); sie forderten soziale Reformen ein (gegen die Armut – für soziale Gerechtigkeit); sie wandten sich gegen die Anwesenheit von ausländischen Streitkräften (des Irans und der USA). In Ungarn gab es Mobilisierungen gegen die Privatisierung der höheren Bildung.
In Lateinamerika haben die großen Kämpfe der Jahre 2019 und 2020 zu wichtigen Wahlsiegen geführt. In Chile hat die von Frauen geleitete Bewegung vom Oktober/November 2019 bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung einen historischen Sieg eingefahren. Die bolivarischen Landarbeiter haben trotz mehrerer Opfer den repressiven Manövern der Putsch-Regierung Añez widerstanden. Sie haben bei den Wahlen im Oktober 2020 der MAS die Regierungsmacht zurückgegeben – nach einem großen Volksaufstand gegen die neuerliche Wahlverschiebung drei Monate zuvor. In Puerto Rico hat eine neue politische Bewegung – die Bewegung für den Sieg der Bürger (MVC), die aus Demonstrationen zugunsten der Demokratie von 2019 hervorgegangen war – bei den Wahlen im Oktober gut abgeschnitten. In Peru gab es im November starke Mobilisierungen von jungen Leuten gegen das politische System; sie forderten den Rücktritt eines Putschisten und Änderungen an der Verfassung. In Guatemala hat ein Volksaufstand den Haushaltsplan für 2021 abgelehnt und den Rücktritt des Präsidenten verlangt. Sogar in einem Land, das in diesem Prozess zurückhängt, Kolumbien nämlich, gab es Mobilisierungen (und einen von den Bauern unterstützten Generalstreik) und Erfolge (Ex-Präsident Uribe kam ins Gefängnis). Es bieten sich Möglichkeiten einer Restrukturierung der Opposition und der Linken.
In Birma (Myanmar) hat die Bevölkerung mit außergewöhnlichem Mut Widerstand gegen die blutige Repression der Armee seit Februar 2021 geleistet. Teile der industriellen Arbeiterklasse beteiligen sich aktiv daran, vor allem die aus chinesischen Firmen, während die chinesische Regierung die putschenden Militärs unterstützt.
Viele Regierungen mussten zeitweilig die Dogmen des Neoliberalismus aufgeben. Staatliche Interventionen haben teilweise die „unsichtbare Hand des Marktes“ in der Gesundheitspolitik außen vor gelassen. Die unverzichtbare Rolle der Arbeitenden hat sich gezeigt, vor allem bei denen, die in „vorderster Front“ kämpfen, im Gesundheits-und Sozialwesen, den Transporten, der Logistik, der Ernährung und der Erziehung. Dieses Aufgreifen wirtschaftlicher und sozialer Sachverhalte, aber auch der in den Arbeitervierteln gezeigten kollektiven Solidarität, verstärkt die Idee, dass die Welt nach Covid-19 eine andere sein muss als zuvor. Dass das Leben, die Gesundheit, die Wohnung, die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft leiten müssen – im Gegensatz zu einem System, in dem die Interessen der Kapitalisten ausschlaggebend sind.
Es gibt auch starke demokratische Forderungen, das Verlangen der Arbeiterklasse, nicht unter der Pandemie und den Entscheidungen des Staates leiden zu müssen, sondern sich zu organisieren, um über die Bedingungen am Arbeitsplatz, in den Wohnvierteln und den Stadtvierteln bestimmen zu können. Häufig ist auch die Ablehnung der Polizeigewalt, der Pressezensur, der rassischen und xenophoben Diskriminierung und der sexistischen Gewalthandlungen, die sich durch die Pandemie ausgeweitet haben.
Somit hat die Pandemie objektiv einen gemeinsamen Nenner für soziale Mobilisierungen hervorgebracht: den Kapitalismus und alle Konsequenzen seines Systems angesichts der Pandemie. Doch die politischen Veränderungen in den meisten Ländern zeigen nicht gerade einen ausgeprägten Willen der Regierungen, die neoliberalen Dogmen in Frage zu stellen.
Wir Revolutionär*innen müssen unsere Bemühungen verstärken, Initiativen zu ergreifen, um Kämpfe zusammenzuführen (alle Arten von Aktionseinheiten und sogar breite Fronten mit punktuellen Zielen) und die Selbstorganisation an der Basis (von Arbeitenden, Frauen, gegen Rassismus, für die Umwelt, im Stadtteil) voranzubringen und Querverbindungen zu schaffen. Wir müssen die Bewegungen von der Wichtigkeit der internationalen Organisierung und Solidarität überzeugen, um stärker zu werden. Wir müssen eine möglichst breite programmatische Einheit der gegen das System kämpfenden Kräfte schaffen. Diese müssen wir mit den Trägern der demokratischen, ökologischen, sozialen und Bereichsbewegungen erarbeiten, wobei wir immer stärker den Kapitalismus und seine Regierungen angreifen müssen, um schließlich die Menschen von der Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit dem kapitalistischen, rassistischen, patriarchalen und räuberischen System zu überzeugen.
Für die Bewegungen der einfachen Bevölkerung gibt es zwei große Gefahren:
Die Verschwörungstheorien, die die gesellschaftliche Passivität fördern und die antikapitalistischen Forderungen umlenken und schließlich den Weg nach ganz rechts begünstigen;
Die Anwendung einer „Schockstrategie“ bei Covid-19 durch die Regierungen und die Kapitalisten, nicht nur durch dauerhafte Einführung von autoritären Praktiken und den Abbau demokratischer Rechte, sondern auch durch Durchsetzung ultraliberaler „Reformen“.
All das verstärkt die Notwendigkeit, in die Offensive zu gehen, indem man sich auf die sozialen Bewegungen der letzten Zeit stützt, um die Aktivist*innen und die die Bewegungen Führenden zu koordinieren, um dringende antikapitalistische Maßnahmen voranzubringen. Sie müssen alle sozialen, demokratischen, feministischen, umweltpolitischen Forderungen einschließen, besonders auch die Kämpfe gegen den Rassismus und die Diskriminierungen. Dieser Rahmen verstärkt für die sozialen und politischen Kräfte, die für einen revolutionären Umbau kämpfen, die Notwendigkeit, gemeinsame Fronten und Konvergenzen aufzubauen, die eindeutig in Richtung sozialistischer und revolutionärer Alternative gehen.
Das extreme Niveau der vielgestaltigen Krise des Kapitalismus rechtfertigt mehr denn je zuvor die Enteignung der Kapitalisten, wobei man mit folgenden Sektoren beginnen sollte: Gesundheitswesen (auch Big Pharma), die Energie, die Finanz und die industrielle Landwirtschaft. Die Krise bringt die Notwendigkeit einer durch die Bürger*innen kontrollierten sozialistischen Planung auf die Tagesordnung. Die Legitimationskrise der Regierungsentscheidungen verpflichtet auch dazu, die Notwendigkeit zu betonen, einen verfassunggebenden Prozess zu initiieren, um die politische und juridische Struktur der Gesellschaft radikal zu ändern.
Die gesellschaftlichen Protestaktionen der vergangenen zwei Jahre haben wegen des Niveaus ihrer Radikalisierung und Politisierung gezeigt, dass man die etablierte Ordnung angreifen möchte. Die starke Beteiligung junger Menschen und radikaler Bevölkerungsteile, die Präsenz junger Frauen, die eine führende Rolle in diesen Bewegungen einnehmen, beweisen, dass neue Generationen eine erhebliche Quelle an Radikalität, Diversität, Dynamik und Erneuerung der Strukturen der Bewegungen sprudeln lassen. Wenn die Kämpfe aber umfänglicher und breiter werden, wird der Abstand zwischen der Dynamik der Mobilisierungen und der Schwäche der politischen Antworten umso deutlicher. In den letzten Jahren haben viele Kämpfe der Massen keine Konsolidierung einer breiten Schicht von organisierten antikapitalistischen Kräften gesehen. Und sie haben noch nicht zu neuen politischen Instrumenten geführt, die in der Lage wären, die Bewegungen zu verstärken. Das heute fehlende Element ist eine Alternative, die eine authentische Radikalität verkörpern würde und die eine politische Rolle spielen könnte analog zu den Bewegungen Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts; außerdem bereichert um die Erfahrungen der großen Emanzipationskämpfe und der Kämpfe für Umweltgerechtigkeit von heute.
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Dazu sind konkrete Initiativen erforderlich, die das Klassenbewusstsein voranbringen, sowie politische Fronten, die auf der Grundlage der gesellschaftlichen Kämpfe gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung aufgebaut werden, und die in der Lage sind, Breschen in die neoliberale Politik zu schlagen, die extreme Rechte zu bekämpfen und die traditionelle Linke zur Seite zu drängen.
Als positives Element, um in diese Richtung voranzukommen, müssen wir das hohe Niveau der gesellschaftlichen Konfliktbereitschaft betonen, wie sie durch die zahllosen Restriktionen der Freiheiten und der Bewegungsmöglichkeiten durch die Regierungen in zahlreichen Ländern hervorgerufen wurde. Unser politisches Handeln muss dieses neue Szenario berücksichtigen.
Der Beitrag unserer Internationalen zum Entstehen einer solchen radikalen Alternative muss auf pluralistische, demokratische und durch das Einbringen in die auf verschiedenen Ebenen ablaufenden Kämpfe erfolgen. Es geht darum, eine „Übergangsdynamik“ zustande zu bringen, die auf Mobilisierungen für grundlegende Forderungen beruht – von der örtlichen Ebene bis auf Weltniveau. Wir müssen die Selbstorganisation der Massen verstärken, um Errungenschaften zu verteidigen und neue soziale und ökologische Rechte zu erkämpfen – gegen alle Herrschaftsbeziehungen und die Institutionen, die sie aufrechterhalten. Jeder Teilkampf, sofern er nicht auf „realistische“ ungerechte Ziele abgelenkt wird, kann Vertrauen erwecken, die Vorstellungskraft stärken und einen Beitrag leisten, das Kräfteverhältnis auf allen Ebenen zu verbessern.
Als IV. Internationale ergreifen wir zusammen mit den in diesen Kämpfen aktiven Menschen Initiativen, um programmatische Initiativen zu den Herausforderungen der Krise des kapitalistischen Systems zu diskutieren und zu erarbeiten. Dies sollte uns ermöglichen, unsere eigenen Positionen zu verfestigen und zum Zusammenfließen der Vorschläge in Richtung einer revolutionären Perspektive beizutragen.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz