Büro der Vierten Internationale
Im Jahr 2020 kam es zu einer Konvergenz großer Krisen, wobei die Covid-19-Pandemie, die zunächst ihren Höhepunkt im zweiten Quartal zu haben schien, nun wieder ein beispielloses Infektionsniveau erreicht. Hinzu kommen die extremen Auswirkungen der Klimakrise: Waldbrände in Kalifornien und Brasilien, weit verbreitete Überschwemmungen in Asien; weiterhin erleben wir eine verstärkte neoliberale Offensive, in der kapitalistische Regierungen versuchen, die Verluste aus der Zeit der Lockdowns wettzumachen; sodann das Wiederaufflammen lokaler Konflikte wie im östlichen Mittelmeerraum vor dem Hintergrund eines fortgeführten Kampfs um geopolitische Hegemonie. Gleichzeitig spielt die Ungewissheit über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen eine gewisse Rolle in der internationalen Lage. Es ist noch zu früh, um bestimmen zu können, wie die Welt am Ende des Jahres 2020 aussehen wird und inwieweit sie sich tiefgreifend verändert haben wird.
Die kombinierten Auswirkungen dieser Krisen machen weiterhin deutlich, wie stark die Lohnabhängigen und Armen – in besonderem Maße Frauen, Schwarze und ethnische Minderheiten sowie die Landbevölkerung – unter all diesen Krisen leiden. Vermehrte Todesfälle und der Verlust an Arbeitsplätzen, Lebensgrundlagen, Bildung und Wohnraum haben eine weltweit zunehmende Verarmung und Enteignung einer breiten Schicht zur Folge. Es haben sich Kämpfe und Bewegungen entwickelt, die sich gegen autoritäre Regierungen stellen und die sich um die Gesundheit ihrer Bevölkerung sorgen. Diese Bewegungen stellen nicht zuletzt die unsicheren Bedingungen einer Politik der „Rückkehr an den Arbeitsplatz“ infrage, deren ausschließliches Ziel es ist, der kapitalistischen Wirtschaft nützen, und sie betonen den besonderen Platz von Frauen und ethnischen Minderheiten bei den lebenswichtigen Arbeitsplätzen. Diese Bewegungen traten spektakulär hervor, als Black Lives Matter in den USA sowohl gegen Rassismus als auch Polizeigewalt anging. Nicht nur breitete sie sich als Solidaritätsbewegung rasch auf der ganzen Welt aus, sie kämpfte auch gegen die jeweiligen lokalen Ausdrucksformen von Rassismus und Polizeigewalt.
Anfang Juni, fünf Monate nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, hatte sie weltweit bereits mehr als 400 000 Todesfälle verursacht, mit mehr als 6,8 Millionen offiziell registrierten Fällen in 216 Ländern – mehr als 3 Milliarden Menschen waren um April herum zu Hause eingesperrt.
Als sich die Pandemie dann in Europa zurückzubilden begann, nachdem sie in China und in Ostasien zu Beginn des Frühjahrs zurückgegangen war – in Nord- und Südamerika aber besonders akut blieb –, stellte sich die Frage, inwieweit es eine zweite, galoppierende Infektionswelle geben würde oder ob das Virus zu einer gutartigen Form mutieren würde. Es herrschte weiterhin hochgradig Unsicherheit.
Mitte Oktober 2020 lag die Gesamtzahl der Todesfälle weltweit bei 1,2 Millionen und die Zahl der bestätigten Infektionen stieg auf über 40 Millionen. Die USA, Indien und Brasilien führen weiterhin die Liste der Todesfälle und Infektionen an, aber die Infektionsrate steigt überall, besonders stark in Europa, wo das Vereinigte Königreich mehr als 43 Tausend Todesfälle und Frankreich und der Spanische Staat jeweils mehr als 33 Tausend registrierten.
In vielen Ländern wird die Zahl der Infizierten, Kranken oder Verstorbenen notorisch unterschätzt, zum einen wegen des politischen Willens bestimmter Führer, den Ernst der Lage zu leugnen, und zum anderen wegen des Mangels an Test-Kits, fehlender Einweisungen ins Krankenhaus und des Mankos, die Zählungen zu zentralisieren.
Angesichts der Gesundheitskatastrophe des globalisierten Neoliberalismus versuchten viele Regierungen unter dem Druck der Ärzteschaft und der öffentlichen Meinung, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie energische Maßnahmen ergriffen. Das Ergebnis war eine deutliche Eindämmung der Epidemie – zu Beginn des Frühjahrs in China und in Fernost, im Spätfrühjahr in Europa und Neuengland –, was in Gesellschaften, die durch die Wucht der Krankheit und die ergriffenen staatlichen Maßnahmen traumatisiert waren, zu einer mehr oder weniger weitgehenden Lockerung des Lockdowns unter Beibehaltung gewisser Schutzmaßnahmen führte. In den meisten Ländern Nord- und Südamerikas, in Indien und anderen Ländern Asiens und Afrikas entwickelte sich die Pandemie weiterhin langsam fort, mit sehr uneinheitlichen Schutzmaßnahmen. In einigen Ländern wie Argentinien oder den Philippinen herrscht seit März ein ununterbrochener Lockdown!
Mit Herbstanfang auf der Nordhalbkugel zeichnet sich in Europa und im Nahen Osten eine große zweite Infektionswelle ab, mit neuen Beschränkungen, von verlängerten Quarantänezeiten für Reisende bis hin zur Wiedereinführung repressiv durchgesetzter Schließungen und Ausgangssperren (oft regional differenziert) in einer Reihe von europäischen Ländern.
Die Folgen der Verlangsamung der Wirtschaft – die direkt und indirekt durch Maßnahmen der Freiheitseinschränkung (ohne oder mit völlig unzureichenden finanziellen Ausgleichsmaßnahmen) verursacht wurde und die vor dem Hintergrund einer bereits seit langem sich anbahnenden Finanzkrise entwickelt – zeichnen sich inzwischen deutlicher ab: ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um durchschnittlich 10 % in den OECD-Ländern (Europa, Nordamerika, Japan, Südkorea, Australien …) im zweiten Quartal 2020 (zum Vergleich: während der vorangegangenen Finanzkrise 2009 ging das BIP um 2,3 % zurück); ein Rückgang um 25 % in Indien, 20 % in Großbritannien, 17 % in Mexiko, 14 % in Frankreich, 9,5 % in den USA, 7,8 % in Japan. Der Produktionsrückgang betrug bereits im ersten Quartal 2 bis 3 %. Die chinesische Führung verkündet jedoch, dass die Erholung in China bereits im 2. Quartal stattgefunden habe: +3,2 % (gegenüber –7 % im ersten Quartal). Auf jeden Fall wird das Welt-BIP nach den derzeitigen Prognosen im Jahr 2020 um etwa 6 % zurückgehen und nicht vor 2023 wieder das Vorkrisenniveau erreichen – ohne damit eine weitere mögliche Verschärfung der Pandemiesituation in Rechnung zu stellen.
Im März gab es in China Dutzende Millionen Arbeitslose, im April 2020 bis zu 22 Millionen Arbeitslose in den USA – und obwohl angekündigt wurde, dass diese Zahlen in den folgenden Monaten stark zurückgehen würden, scheint es, dass die neu geschaffenen Arbeitsplätze viel prekärer und gegenüber der Zeit vor der Krise vermehrt Teilzeitarbeitsplätze sind. In den USA wird die Zahl der derzeit Beschäftigten auf 11,5 Millionen weniger als im Februar geschätzt. In der Europäischen Union ist die Zahl der Arbeitslosen auf 7,8 % gestiegen, mit großen Unterschieden zwischen dem Norden und dem Süden!
In einer wachsenden Zahl von Ländern des Südens, deren strukturelle Schwierigkeiten sich mit der Covid-19-Krise verschärfen, bahnt sich eine neue Schuldenfalle an: eine Verringerung der Devisenreserven, eine starke Verschlechterung der Handelsbedingungen durch den Rückgang der Rohstoffpreise, begleitet von einer Abwertung der Währungen dieser Länder gegenüber dem US-Dollar. Neunzehn Länder des Südens haben ihre Zahlungen bereits ausgesetzt und in 28 Ländern herrscht zurzeit ein hohes Überschuldungsrisiko. Die G20-Länder, der IWF und die Weltbank unterstützen unermüdlich die Gläubiger und verschärfen – mittels Notfinanzierungen, die hauptsächlich in Form von Krediten gewährt werden – die Verschuldung der Länder des Südens, während sie gleichzeitig die Anwendung neoliberaler Sparpolitik vorantreiben. Die Rückzahlungen werden in den kommenden Jahren höher ausfallen und die Arbeiter*innen und die sonstige arbeitende Bevölkerung noch mehr belasten. Die Vierte Internationale unterstützt die verschiedenen Mobilisierungen von Bewegungen, die auf internationaler Ebene für die Abschaffung der illegitimen Schulden kämpfen.
Kapitalist*innen und ihre Regierungen drängen darauf, dass die abhängig Beschäftigten an die Arbeit zurückkehren und dass die Bevölkerung konsumiert, was immer die Folgen für die Gesundheit und die öffentlichen Finanzen sind. Auf der anderen Seite versuchen sie, im Namen des Kampfes gegen die Pandemie – mehr oder weniger extrem – andere Freiheiten einzuschränken: sich zu bewegen, sich zu treffen oder zu feiern, um Kosten für Tests, Nachverfolgung, Isolierung und Unterstützungsleistungen zu vermeiden.
Massive Hilfsprogramme für Unternehmen (oft unabhängig von ihrer tatsächlichen Krise) werden in Kraft gesetzt, einschließlich Kurzarbeit und Steuersenkungen für eine nachhaltige Produktion, von China bis zu den USA und den verschiedenen europäischen Ländern.
Auf ihrer Ebene hat die Europäische Union ein europäisches Konjunkturprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro über 3 Jahre proklamiert, etwas mehr als die Hälfte davon in Form gemeinschaftlich zu tragender Schulden – und im Gegenzug Kontrolle der jeweiligen nationalen Politik ihrer Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren (dies ist teilweise ein Propagandaeffekt, da es in Wirklichkeit gerade mal 1 % der öffentlichen Ausgaben ausmacht).
Die öffentlichen Dienste stehen unter immer größerem Druck; es gibt keine massiven Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen, in die Bildungsfürsorge für ältere Menschen und Kinder und in die Unterstützung für Behinderte oder in andere Sektoren, die durch die Gesundheitskrise in sehr große Schwierigkeiten geraten sind! Vielmehr erleben wir ein weiteres Eindringen von Privatkapital in Sektoren, die zumindest in Europa bislang als Teil des Öffentlichen Sektors betrieben wurden.
Gleichzeitig wird eine zunehmend autoritäre Politik umgesetzt. Nach dem Kampf gegen den Terrorismus ist es der Kampf gegen die Pandemie, der zur Rechtfertigung freiheitsraubender Maßnahmen herangezogen wird: Überall Polizei; Strafzahlungen für diejenigen, die Quarantänen oder das Tragen von Masken nicht einhalten – nachdem man deren Wirksamkeit mal gelobt, mal geleugnet hatte; Abriegelungen und Ausgangssperren, die das gesellschaftliche Leben verbieten.
Diese Politik geht einher mit der Stigmatisierung der Jugend und der breiten Bevölkerung, insbesondere rassistisch unterdrückter Menschen – ob aus alteingesessenen Gemeinschaften oder aus neueren Zuwanderungen –, die als gedankenlos und unverantwortlich dargestellt werden, als wollten sie sich nicht schützen.
Überall wird das Arbeitsrecht unterminiert, die Flexibilität, die ursprünglich im Namen einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation durchgesetzt wurde, wird aufrechterhalten, und Unternehmensschließungen werden erleichtert;
Die Gewerkschafts-, Vereinigungs- und Demonstrationsrechte wurden während der Lockdowns stranguliert und bleiben eingeschränkt; oft unterliegen sie Regelungen, die einem Ausnahmezustand nahekommen;
Gleichzeitig erleben wir harte Maßnahmen gegen Migrant*innen, insbesondere an der Südgrenze der USA oder am Mittelmeer.
Aber die Erschütterungen dieser multidimensionalen Krise tragen auch zu einem verschärften Konkurrenzkampf zwischen den Großmächten und zwischen anderen Ländern bei: zwischen den USA und China, zwischen den USA von Trump und dem Rest der Welt, angefangen beim Iran; mit Putins Russland; zwischen Erdogans Türkei und seinen Nachbarn, zum Beispiel der Streit mit Griechenland, der sich zusehends zuspitzt, während europäische Mächte wie Frankreich unter Macron den Konflikt anheizen. Das korrupte aserbaidschanische Regime, das die finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung seiner Willkürherrschaft verlor, startete mit Unterstützung der türkischen Luftwaffe und syrischer Söldner eine Offensive gegen die Armenier in Karabach. Es versucht, die Unterstützung durch die eigene Bevölkerung zurückzuerlangen und jede Möglichkeit eines demokratischen Prozesses hinauszuzögern.
Was schließlich die Umweltkrise betrifft, so mag sich der Rückgang der Weltproduktion im Frühjahr zwar kurzzeitig positiv auf den Grad der weitergehenden Umweltverschmutzung und den Treibhauseffekt des Klimas ausgewirkt haben, doch die Tendenz zur Zunahme der Umweltschäden ist nach wie vor stark ausgeprägt: Die Großbrände des Jahres 2020 in Australien, Brasilien, im gesamten Amazonasgebiet und in den USA sind sowohl das Ergebnis zunehmender Dürren, die durch den Klimawandel und die neoliberale Landbewirtschaftung verursacht werden, als auch bisweilen ausgemachter Brandrodungen.
In Bezug auf die Politik des Coronavirus-Screenings und die Art der Tests, die Schutzmaßnahmen (Masken, Zugangsbeschränkungen, Quarantänen …), die Krankenhausversorgung und -ausstattung oder etwa die Impfstoffforschung: Es gibt eine Unmenge Konkurrenz und neoliberale Misswirtschaft sowie bürokratische Ineffizienz, verbunden mit dem Risiko neuer traumatischer Abriegelungen und neuer Krankenhauskrisen, die außer Kontrolle geraten, während das Gesundheitspersonal erschöpft und oft in besonderem Maß vom Coronavirus betroffen ist.
So haben wir erlebt, dass reiche Länder (angefangen bei den USA), die Epidemie viel weniger wirksam bekämpft haben als einige Länder, die als arm gelten (Vietnam, Kuba …), die aber eine Tradition gemeinschaftlicher Gesundheitsversorgung haben.
Wir haben in der Pandemie auch starke soziale und rassistisch motivierte sowie alters- und geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen gesehen! Beschäftigte für die Grundversorgung im Gesundheits-, Reinigungs- und Transportsektor, die oft Frauen und/oder durch Rassismus Benachteiligte sind; prekär und informell Beschäftigte, die sich nicht den Luxus leisten können, ihre Arbeit aufzugeben, die oft sehr krankheitsanfällig sind, aber den größten Teil ihres Einkommens verlieren; die arbeitenden Klassen, oft rassistisch unterdrückt, die unter den Folgen überfüllter Lebensbedingungen und schlechter Ernährung leiden; Migrant*innen und Arbeiter*innen im Ausland; Bauern, Bäuerinnen und Indigene in den Ländern des Südens; gefährdete Menschen über 65 Jahre und ganz allgemein Menschen, die an chronischen Krankheiten leiden: Auch wenn hier und da Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Künstler*innen und Politiker*innen vom Covid-19 betroffen sind, haben zweifellos diejenigen, die Opfer von Armut und mehrfacher Unterdrückung sind, den höchsten Tribut gezollt!
Vor allem Frauen erleben verstärkt die Risiken und die Last ihrer beruflichen und familiären Aufgaben sowie die Macho-Gewalt, die mit der Pandemie und den Abriegelungen erzeugt oder verstärkt wurden.
Angesichts der sozialen Katastrophen, die durch die Schließungen und Abriegelungen rasch herbeigeführt wurden, brachen viele – aber nicht alle – Regierungen vorübergehend mit dem Dogma der Haushaltsstrenge und gewährten soziale Unterstützungsleistungen: wiederum von China bis zu den USA, einschließlich verschiedener europäischer Länder. Diese Zulagen von einigen hundert Euro, die als Einmalzahlung oder monatlich gezahlt wurden, haben als minimaler sozialer Stoßdämpfer gedient und sogar dazu beigetragen, dass einige der unteren Bevölkerungsschichten den politischen Führern ein wenig mehr Sympathie entgegenbrachten, wie dies bei Bolsonaro in Brasilien der Fall war.
Diese Politik neuer sozialer Sicherheitsnetze ist jedoch konjunkturell bedingt und eindeutig nicht Ausdruck eines neokeynesianischen Wendepunkts bedeutender Sektoren der Bourgeoisie. Die Explosion der Staatsverschuldung wird langanhaltende und schwerwiegende Folgen haben, da sie als Vorwand für die Vertiefung struktureller Konterreformen dienen wird, die auf Arbeitsverträge, Gewerkschaftsrechte und soziale Sicherungssysteme abzielen. Die Regierungen werden die Staatsschulden abtragen und bereiten dazu die neoliberale Rechnung vor (im Besonderen, was die Reste des öffentlichen Dienstes angeht), indem sie erneut den Diskurs der Wettbewerbsfähigkeit pflegen. Nirgendwo ziehen Regierungen die hohen Einkommen und hohen Vermögen heran, deren Besitz sogar gestiegen ist. Nirgendwo werden Pharmaunternehmen in einer Zeit großer Not verstaatlicht.
Die Auswirkungen digitaler Armut sind während der Pandemie gestiegen:
Zugang zum Online-Unterricht. Mit Kämpfen von Lehrer*innen auf allen Ebenen für Online-Unterricht, um die Risiken zu verringern, die der Präsenzunterricht in Bildungseinrichtungen mit sich bringt, die nicht auf physische Distanz und die Einhaltung von Barrieremaßnahmen ausgerichtet sind, wurden einige Siege errungen; dies muss ergänzt werden durch Kämpfe für den Zugang der Schülerinnen und Schüler zum Internet, zu Geräten und Arbeitsräumen;
der Zugang zu staatlichen und kommunalen Dienstleistungen ist zunehmend nur noch über das Internet möglich;
das Internet-Shopping hat massiv zugenommen, sodass diejenigen, die nicht über die notwendigen Werkzeuge verfügen (Internet, Kreditkarte) wachsende Schwierigkeiten haben; hinzu kommt die zunehmende Ausbeutung derjenigen, die im Vertrieb arbeiten (z.B. Amazon oder Zustelldienste).
In diesem allgemeinen Kontext leiden die Legitimität der Regierungen wie auch die Einsicht in die vorherrschende Profitlogik; es hat sich gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, eine solche Katastrophe zu bewältigen. Die Arbeiter*innen, insbesondere jene in der Grundversorgung und „an vorderster Front“ der Pandemiebekämpfung, sind symbolisch aufgewertet worden. Aber aufgrund der kombinierten Ängste vor Krankheit, Arbeitslosigkeit und Repression ist der Weg des Kampfes für viele im Moment sehr schwierig! Der Widerstand hat es nicht geschafft, zu wachsen und an die Hoffnungsschimmer im Juni anzuknüpfen.
In vielen Ländern (wenn nicht sogar in den meisten) sind die großen Gewerkschaften in der Pandemiekrise völlig abgetaucht. Nicht nur sind sie noch zurückhaltender geworden und vermeiden noch mehr jeden größeren Konflikt, sie haben oft nicht einmal etwas zur Krisenpolitik der herrschenden Klassen zu sagen. Dennoch spielen sie nach wie vor eine wichtige Rolle in den täglichen Abwehrkämpfen der Arbeiter*innenklasse. Deshalb wird es in Zukunft in vielen Ländern – noch mehr als in der Vergangenheit – darauf ankommen, in den Gewerkschaften eine klassenkämpferische Politik zu betreiben und die begrenzten Initiativen, die von Gewerkschaften oder Strömungen mit einem kämpferischeren Ansatz ergriffen werden, zu verallgemeinern.
Viele der brodelnden oder latenten sozio-politischen Bewegungen aus der Zeit vor der Pandemie sind durch die Verschärfung der Repression in Hongkong, Algerien und Ägypten abgewürgt worden. Soziale und demokratische Bewegungen wurden während der Epidemie auch in Chile, Irak, Frankreich, Katalonien … unterdrückt. Ist ein rasches Wiederaufflammen in diesen Ländern möglich?
Dafür wird es erforderlich sein, genauer zu analysieren, was aus den Basis-Strukturen geworden ist, die sich auf die Solidarität stützen, die während der Pandemie in der Bevölkerung aufgebaut und die in mehreren Ländern entwickelt wurde.
Glücklicherweise haben sich seit Ende des Frühjahrs mehrere Massenbewegungen behauptet, die auf unterschiedlichen Grundlagen stehen, aber einen gemeinsamen Hintergrund des Kampfes für Demokratie und gegen das Funktionieren einer auf Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft haben:
Die Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt, die in den USA ihren Anfang nahm, ist immer noch sehr stark - in Europa auch in Solidarität mit Migrant*innen auf einer begrenzteren, aber prinzipiellen Grundlage (wie die jüngsten Demonstrationen in Deutschland);
das Wiederaufleben der Revolte im Libanon gegen die Korruption des konfessionellen Regimes aus Anlass der Explosion des Hafens von Beirut;
der Aufstand in Mali;
der Massenaufruhr in Belarus gegen die Herrschaft Lukaschenkos und seine ständig manipulierten Wahlen;
die Revolte der thailändischen Jugend gegen die diskreditierte Monarchie;
Der Wahlsieg im ersten Wahlgang der MAS in Bolivien als Ergebnis einer Massenmobilisierung;
Der Volksaufstand in Chile hat für den 25. Oktober ein Referendum über die Verfassung der Pinochet-Diktatur erzwungen – eine Ablehnung wäre ein bedeutender Sieg.
Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise Bewegungen gegen den Klimawandel und die massive Umweltverschmutzung und allgemeiner für ökologische Kämpfe einen neuen Aufschwung, unter Einbeziehung der Lehren aus der Pandemie, nehmen können; oder zu welch einem Wiederaufleben für die feministischen Bewegungen, die sich in den letzten Jahren an der Spitze der Kämpfe behauptet haben, es kommen wird.
Es gibt immer noch das Potential für Kämpfe und Aufstände gegen eine herrschende Ordnung, die angesichts einer Profitklemme und einer wachsenden Delegitimierung versucht, sich durch einen allgemeinen Autoritarismus zu stärken, aber mit bestimmten Führern, die manchmal sogar aus Sicht der Bourgeoisie sehr abenteuerlich sind. Aber dieses Potenzial hatte bisher aufgrund der Angst vor der Pandemie und des Durcheinanders der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen große Schwierigkeiten, einen entsprechenden Ausdruck zu finden. Bislang ist es nicht gelungen, das Kräfteverhältnis zu verändern und eine Alternative zum Kapitalismus glaubwürdiger zu machen.
In dieser Situation setzen sich die reaktionärsten und autokratischsten, verschwörerischsten und rassistischsten Ideologien auf ihrer äußersten Rechten durch, strukturieren sich und finden Unterstützer oder gar Anführer, um die Unterdrückten und Ausgebeuteten anzugreifen, die auf diese Weise an die Macht gelangen oder an ihr festhalten, wie Trump, Putin, Bolsonaro, Xi Jinping, Modi, Duterte, Rohani, Netanjahu, Erdogan, Orban, Kaczynski … wobei die „vorzeigbareren“ Führer sie auch noch ermutigen, indem sie nämlich Angriffe auf demokratische Prinzipien durchführen, wie es sie in ihrem jeweiligen Land seit Jahrzehnten nicht gegeben hat.
Die Wahlen vom 3. November in den USA werden ein entscheidendes Ereignis sein: Sollten sie zu einer (wahrscheinlich illegitimen) Wiederwahl von Trump führen, könnte das die Situation noch weiter verschärfen, und zwar mit einer Polarisierung, bei der die extreme Rechte einen Vorteil erlangen würde, verbunden mit Risiken einer Massenrevolte. Würde Trump hingegen aus dem Amt gejagt, würde ein wichtiges Glied in der Kette der rechtsextremen und autoritären Regierungen wegfallen. Wir haben keine Illusionen, was Biden repräsentiert oder was er vorhat, aber es wäre weltweit frischer Wind für ausgebeutete und unterdrückte Menschen im Kampf.
Die Arbeiterbewegung, die sozialen Bewegungen (und wir selbst) sind entwaffnet, hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, sich einerseits um die Gesundheit zu kümmern und sich vor der Pandemie zu schützen, und andererseits dem Widerstand gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Regierungen, die die soziale Sicherung und die öffentlichen Gesundheitssysteme zerstört haben.
Revolutionär*innen und antikapitalistische Aktivist*innen stehen vor großen Aufgaben! Wir müssen helfen, Einheitsfronten der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen autoritäre Regierungen und ultraliberale Programme zu schmieden und zu stärken.
In der Notsituation, in der wir uns befinden, ist es überall unerlässlich, massiv in öffentliche und frei zugängliche Dienstleistungen zu investieren, angefangen bei den Gesundheitssystemen und der massiven Wiederbelebung von Sozialhilfe- und Wohnungsbauprogrammen, die mittels Besteuerung der Reichen und der Gewinne sowie der Verhinderung von Dividendenzahlungen finanziert werden. Es ist erforderlich, die Pharmaindustrie und andere Industrien von allgemeinem Interesse wie Energie, das Bankensystem und die Wasserversorgung zu vergesellschaften. Die Produktionslinien sollten umgestellt werden, um die immensen sozialen Bedürfnisse zu befriedigen und nicht die tödlichen Industrien der Rüstung, der umweltschädlichen Chemikalien, der Luxusgüter usw. Die Landwirtschaft muss auf nachhaltige Systeme der Bodenbearbeitung und der natürlichen Ressourcen neu ausgerichtet werden. Diskriminierende Politik muss gestoppt, Grenzen müssen geöffnet werden, um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen und den Austausch zwischen den Menschen zu fördern, anstatt sie in Konkurrenz zueinander zu setzen und Kriege zu provozieren!
Wir müssen der Selbstorganisation der Bevölkerung und des Gesundheits- und Pflegepersonals einen zentralen Platz einräumen. Die wirksamsten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sind diejenigen, die am breitesten akzeptiert werden, weil sie von der Bevölkerung selbst zusammen mit den Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen festgelegt werden. Es geht darum, die Macht über unser Leben zurückzugewinnen.
Auf diesem Weg, in den Kämpfen, im Widerstand gegen den destruktiven Kapitalismus, für Demokratie und für eine alternative und nachhaltige Wirtschaftspolitik, liegt die Möglichkeit, die heute ungünstigen nationalen Kräfteverhältnisse zu verändern und eine ökosozialistische Alternative für die Menschheit zu konkretisieren.
19. Oktober 2020 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz